Hinter dem für die Öffentlichkeit bestimmten Titelthema „Die christliche Wiedergeburt - der Weg zur Rettung?“ im Wachtturm vom 1. April 2009 steht auf zehn Seiten das aufwendige Bemühen, die Soteriologie, d.h. die Lehre über Christi Heils- oder Rettungswerk von der Wiedergeburt abzulösen mit dem Ziel, die Wiedergeburt auf nur eine begrenzte Anzahl von Christen, die buchstäblich 144.000 gesalbten Christen, anzuwenden, ohne zugleich der „großen Volksmenge“ (Nichtgesalbten) deshalb die Rettung absprechen zu müssen. Um dieses Bemühen durchzuhalten, greift der Artikel auf Thesen zurück, die weder bewiesen noch plausibel sind. Im Folgenden sei daher der Abhandlung im Wachtturm einer gründlichen Analyse unterzogen.

Grundlage hierfür ist die Textstelle in Joh 3:1-12, die im Wachtturm auf der Seite 4 vollinhaltlich zitiert wird. Als Jesus Nikodemus, einem „vom Hohen Rat der Juden“ (Zürcher Bibel), sagte, niemand könne das Reich Gottes sehen, wenn er nicht wiedergeboren sei (Vers 3), fasst er Jesu Antwort zunächst buchstäblich auf und fragt ihn, wie ein alter Mensch wiedergeboren werden könne, denn es sei doch nicht möglich, dass ein Mensch in den Schoß seiner Mutter zurückkehre und ein zweites Mal geboren werde. Nikodemus wehrte sich offenbar gegen die Lehre einer Inkarnation, einer Seelenwanderung, die schon vor über 2000 Jahren Eingang in die griechische Kultur fand. Jesus korrigiert ihn aber in Vers 5, indem er die Wiedergeburt in den Versen 5 und 7 erneut aufgreift:

  • Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen (Vers 5, Luther).
  • Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen (Vers 7, Luther).

Wie wir dem Text entnehmen können, ist für die Wiedergeburt sowohl die Taufe ausWasser als auch aus Geist erforderlich, denn „der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6:63). Dass die Taufe allein nur aus Wasser ausreicht, geht aus den Schriftstellen somit nicht hervor. Es wird auch nirgendwo im Neuen Testament gesagt, dass es Christen geben würde, die nur aus Wasser, aber nicht aus Geist getauft würden. Hierauf zielt jedoch der Wachtturm-Artikel ab. Wie fasst der Wachtturm die Wiedergeburt auf? Und vor allen Dingen: Wem gilt sie?

Zwar gibt es Wiedergeburten auch in anderen Religionen wie z. B. den Stammes- und indischen (Seelenwanderung etc.), aber in Bezug auf die christliche Religion heißt es im BROCKHAUS (2008):

Die christliche Theologie deutet Wiedergeburt als durch die Gnade Gottes ermöglichte, vom Heiligen Geist geleitete neue Existenz des Menschen im Glauben (Johannes 3, 3‒8) beziehungsweise seine geistliche »Neuschöpfung« in Jesus Christus (2. Korinther 5, 17).

Zugute halten muss man dem Wachtturm-Beitrag, dass er sehr genau auf die philologische Bedeutung der Wiedergeburt eingeht. Auf Seite 6 wird erklärt, dass Jesus es nicht im Sinne einer Aufforderung meinte, wenn er sagte, man müsse wiedergeboren werden, denn das Modalverb „müssen“ ist hier kein Imperativ. Dem stimmen wir gerne zu, denn „müssen“ ist die Wiedergabe des griechischen Wortes dei, wie es auch in Mt 17:10 vorkommt und die Bedeutung es ist nötig, erforderlich oder man muss hat. Im Imperativ würde es edei heißen. Die Ausführungen des Wachtturms hierzu nehmen auf der Seite 6 den größten Raum ein. Mit einer außergewöhnlichen Ausführlichkeit und Genauigkeit, begleitet von einem hypothetischen Beispiel eines Schülers, der in eine Schule aufgenommen werden möchte, die nur für eine bestimmte Volksgruppe bestimmt ist, wird auf den Unterschied zwischen einer Aufforderung und einer Feststellung eingegangen. Die ungewöhnliche Genauigkeit, bei der die Abhandlung besonders Wert auf die Vermittlung des Unterschieds zwischen einem Imperativ (Aufforderung) und einer Feststellung legt, geschieht freilich nicht ohne Grund, worauf später einzugehen sein wird. Das Beispiel des Schülers wird auf Seite 10 des Artikels, wo es um seine Adoption durch einen Familienvater aus dieser fiktiven Volksgruppe geht, zu der der Schüler nicht gehört, fortgesetzt.

Es muss dem Leser auch überraschen, dass „wiedergeboren“ wörtlicher „von oben geboren“ oder „vom Himmel geboren“ bedeutet. Dies ist die wörtlichste Übersetzung der griechischen Wendung gennēthē ánōthen [1]. Verzichtet der Wachtturm gewohnheitsmäßig (besonders in Studienausgaben) ansonsten auf genaue Quellenangaben und Fundstellen, zitiert er hier die unter Theologen bekannte Interlinear-Wiedergabe von Dietzfelbinger (Seite 6), diesmal mit genauer Angabe der Quelle, woraus diese wörtliche Übersetzung hervorgeht. Auch in der Kingdom Interlinear der Wachtower Society begegnen wir der englischen Wort-für-Wort-Wiedergabe “from above“ (deutsch: „von oben“). In vielen Bibelübersetzungen, darunter auch der Neue-Welt-Übersetzung, heißt es jedoch einfach nur „Wiedergeburt“. Diese Übersetzung ist unglücklich, denn den nicht mit dem Griechisch vertrauten Lesern bleibt somit unklar, durch was die Wiedergeburt bewirkt wird, es sei denn, sie besitzen z. B. die neue Zürcher Bibel, die den Vers 3 wie folgt wörtlich wiedergibt:

Wer nicht von oben geboren wird, kann das Reich Gottes nicht sehen.

Der Wachtturm erwähnt auf Seite 5 in einer Fußnote noch eine weitere Übersetzung von Heinz Schumacher mit der ebenso wörtlichen Wiedergabe. Der griechische Ausdruck ánōthen („von oben“) kommt auch in Mt 27:51 vor, wo vom Vorhang, der „von oben“ bis unten entzweiriss, die Rede ist.

Wie in der Abhandlung richtig festgestellt wird, kommen wir auf der Grundlage des griechischen Textes zu der Erkenntnis, dass man sich nicht entschließen kann, wiedergeboren zu werden, sondern dies wird „von oben“, von Gott bewirkt.

Sicherlich können wir daher den Ausführungen des Wachtturms über die Definition von Wiedergeburt sowie darüber, wer sie bewirkt, bis hierher zustimmen.[2] Liest man zudem den Kontext von Joh 3ff., erfahren wir, dass die Wiedergeburt eine Voraussetzung zur Rettung ist. Wird dies im Wachtturm-Artikel aber genauso gesehen?

Nun stellt der Verfasser des Wachtturm-Artikels auf Seite 7 genau diese These auf, nämlich dass Wiedergeburt gerade nicht Rettung bedeute, was die rhetorische Frage des Themas auf der Titelseite ohnehin schon erahnen lässt. Denn die Wiedergeburt beziehe sich nur auf eine begrenzte Anzahl von denjenigen Menschen, die in das „Königreich Gottes“ kommen. Diese Wiedergeburt „von oben“ bedeute, dass sie auserwählt seien, als Mitregenten im Himmel mit Jesus Christus zu herrschen. In das Königreich Gottes kommen sei nicht mit Rettung gleichzusetzen, denn es handele sich beim Königreich lediglich um eine Regierungsform, um „Gottes Regierung“. Dies sei auch der Sinn der neuen Geburt, nämlich „eine bestimmte Zahl von Menschen auf die Regentschaft im Himmel vorzubereiten“ (ebd. sowie S. 8 und 11).

Damit sind natürlich die 144 000 gemeint. Im Grunde genommen wird damit gesagt, dass das „Königreich Gottes“ nicht Leben bedeute. Folglich könne auch die Wiedergeburt, die den Zugang zum Königreich praktisch freigibt, nicht Rettung bedeuten. Diese Auslegung von Seiten des Wachtturms ist zwingend erforderlich, denn andernfalls müsste man ja Nichtgesalbte von der Rettung ausschließen, wenn nicht auch ihnen die Wiedergeburt zugestanden wird mit der Folge, dass sie den gleichen Status wie die Gesalbten erlangen. Wie im Folgenden ersichtlich wird, erfordert es daher vom Wachtturm einen riesigen Spagat, gepaart mit hermeneutischem Kunstgriff, um dennoch die Nichtgesalbten auch ohne Wiedergeburt irgendwie in das Heil „unterbringen“ zu können.

Für die Gesalbten seien daher insgesamt zwei Schritte erforderlich: 1.) Sie müssen mit Wasser getauft und 2.) mit heiligem Geist gesalbt werden. Für die Nichtgesalbten dagegen sei nur ein Schritt erforderlich, nämlich nur die Wassertaufe, ohne dass der Heilige Geist auf sie einwirkt (Siehe S. 9). Sie sind daher auch nicht wiedergeboren, da der zweite Schritt fehlt. Bei den „Nichtgesalbten“ ist die Wassertaufe lediglich ein Symbol dafür, dass sie ihre Sünden bereuen, ihren bisherigen falschen Lebensweg aufgeben und das Versprechen abgeben, Gott für immer anzubeten und ihm zu dienen (S. 9), wobei sie mit Jesus Christus nicht in Verbindung treten.

Diese Theorie wird aber ohne einen Schriftbeweis aufgestellt. In der Abhandlung wird daher große Mühe aufgewandt, die Taufe „aus Wasser“ von der Taufe „aus Geist“ zu trennen und auf diese Weise der heiligen Schrift einen Unterschied zwischen beidem abzuringen.

Jesus sowie die Evangelien im Allgemeinen sprechen aber nicht davon, dass nur die Wassertaufe ausreichen würde, denn er sagt in Joh 3:5, dass die Wiedergeburt aus Wasser und Geist vollzogen werden muss. Wie sonst soll man dann auch in der Taufformel den Satzteil „im Namen des Heiligen Geistes“ (Mt 28:19) verstehen, wenn für Nichtgesalbte bei der Wassertaufe der Heilige Geist nicht mit ins Spiel kommt! Aus Apg 1:5 erfahren wir zudem, dass nur Johannes mit Wasser taufte. Danach sollten alle Nachfolger Jesu aus Wasser und aus Geist getauft werden. Jesus selbst sollte es sein, der von nun an „mit dem Heiligen Geist tauft“ (Joh 1:33). Dies sollte nach seiner Auferstehung der Fall sein (Joh 7:39). Aus dem gleichen Vers geht sogar hervor, dass all diejenigen den Geist empfangen, die an Jesus glauben. Es ist daher nur schwer vorstellbar, dass es eine Gruppe von Christen geben soll, die den heiligen Geist nicht empfangen, obwohl sie an Jesus Christus glauben. Der Wachtturm schreibt auf der S. 8 selber, dass sogar Johannes ankündigte, dass bei der Taufe nicht nur Wasser eine Rolle spielen würde (ebd.). Ein Christ würde also nicht nur mit Wasser, sondern auch mit heiligem Geist getauft werden.

Aber im Wachtturm-Artikel wird weiter behauptet, dass auch Menschen gerettet werden, die nicht wiedergeboren sind (S. 11). Somit stellt sich die Frage, ob es auch Christen gibt, die nicht wiedergeboren sein müssen, um gerettet zu werden. Die Antwort dieser Frage hängt davon ab, was unter dem „Königreich Gottes“ zu verstehen ist, insbesondere, was es bedeutet, ‚das Königreich zu sehen‘ oder ‚in das Königreich zu kommen‘. Wir erinnern uns, dass Jesus Nikodemus sagte, man könne nicht in das Königreich Gottes kommen, wenn man nicht aus Wasser und Geist getauft ist. Und wir erinnern uns auch, dass der Wachtturm auf der Seite 7 sagt, ins Königreich kommen und Rettung erlangen seien zwei verschiedene Dinge. Daher bedeute auch Wiedergeburt nicht gleichzeitig Rettung. Welche Konsequenzen würde es aber gemäß dem Neuen Testament nach sich ziehen, wenn jemand nicht in das Königreich Gottes gelangt?

Die Schriften zeigen eindeutig, dass das „Königreich Gottes“ Leben bedeutet. Paulus spricht in 1Ko 6:9, 10 davon, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht ererben werden. In Gal 5:21 führt Paulus noch weitere Personen auf, die unter bestimmten Voraussetzungen das Königreich nicht ererben werden. Nicht in das Reich Gottes zu kommen bedeutet also Tod, nicht Leben. Auch in Mt 18:3 wird uns gezeigt, wie notwendig es ist, in das Reich einzugehen, um am Leben zu bleiben:

Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie kleine Kinder werdet, so werdet ihr auf keinen Fall in das Königreich der Himmel eingehen“

Hier fällt auf, dass Jesus nicht nur die Taufe aus Wasser und Geist (Johannesbrief), sondern an dieser Stelle auch die Umkehr [3] zur Voraussetzung für das Eingehen in das Königreich macht. Paulus und Jesus nennen also nur eine „Gruppe“ von Menschen, die nicht ins Königreich kommen, und zwar nur diejenigen, die nicht umkehren. Sowohl Paulus als auch Jesus haben nie gesagt, dass es zwei Gruppen geben würde: Unbußfertige und Nichtgesalbte.

Wir haben bis hierher also feststellen können, dass das ewige Leben sehr wohl davon ab abhängt, ob man in das Königreich Gottes gelangt. Dementsprechend lesen wir auch in Joh 1:1ff., dass Jesus das Leben ist. Wer an ihn glaubt, ist wiedergeboren, denn gemäß Joh 1:12, 13 sind diejenigen, die Glauben an den Namen Jesu Christi (vgl. Joh 3:18) ausüben, „aus Gott geboren“. Rettung kann es somit nur innerhalb des Reiches Gottes geben. Jeder Christ muss also ins Königreich kommen, um ewiges Leben zu erlangen. Die Voraussetzung hierfür ist tatsächlich die Wiedergeburt!

Um jedoch weiterhin die Theorie aufrechtzuerhalten, für nicht Wiedergeborene stehe ebenfalls die Rettung offen (S. 11ff.), führt der Wachtturm 1Joh 2:2 und Rö 8:19-21 an. Man beachte, wie in eckigen Klammern Zusätze eingefügt (von mir hervorgehoben) wurden, um diese Behauptung zu stützen:

Und er [Jesus] ist ein Sühnopfer für unsere Sünden, doch nicht nur für die unseren [die kleine Gruppe], sondern auch für die der ganzen Welt [die große Gruppe].Denn die sehnsüchtige Erwartung der Schöpfung harrt auf die Offenbarung der Söhne Gottes [die kleine Gruppe].

Der Artikel erklärt die beiden Stellen auf Seite 12 wie folgt:

Wie sind die Worte von Johannes und Paulus zu verstehen? Kurz gesagt: Die Wiedergeborenen werden zu der himmlischen Regierung gehören.

Man erkennt hier sofort das Bemühen, die Lehre über die zwei Klassen von Christen um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Aus den angegebenen Schriftstellen geht aber nicht hervor, dass es wiedergeborene und nichtwiedergeborene Christen gibt. Sie besagen lediglich, dass die Rettung zunächst beim Volk Israel beginnt (Judentum) und dann auch auf die Heiden (die „Nationen“) ausgedehnt wurde. Der Unterschied besteht also zwischen den aus dem Judentum kommenden Christen („Judenchristen“) und den Heidenchristen („anderen Schafen“), nicht zwischen Gesalbten und der „großen Volksmenge“. Die Unterscheidung zwischen einer „kleinen Gruppe“ und „großen Gruppe“ sagt lediglich aus, dass die Anzahl der Heiden, die Christen werden, größer ist als die Anzahl der Juden, wobei das Neue Testament selbst auf den zahlenmäßigen Unterschied keinen Wert legt. Und so ist auch die Anzahl an Christen heute größer als die der Anhänger des Judentums. Es geht somit nicht um die Unterscheidung zwischen „gesalbt“ und „nicht gesalbt“, auch nicht zwischen Christen mit irdischer und himmlischer Hoffnung. Diejenigen, die glauben, die himmlische Berufung zu haben, stammen interessanterweise nicht einmal aus dem Judentum!

Der Widerspruch liegt also auch darin, dass die zeitgenössischen Gesalbten selbst ja auch aus dem Heidentum stammen. Auch sie gehören daher zu den „anderen Schafen“. Da also die heutigen Gesalbten nicht aus dem Judentum stammen, sind sie auch nicht „[die kleine Gruppe]“ Gesalbter, die der Wachtturm in eckigen Klammern auf der S. 12 in die Schriftstelle von 1Mo 22:18 einfügt (vgl. auch 1Mo 12:3, 7). Im Wachtturm wird erklärt (S. 12), beim Samen Abrahams würde es sich sowohl um Jesus Christus als auch um die Adoptivsöhne (=Gesalbten, die Sklavenklasse) Gottes handeln. Dies widerspricht aber den Worten des Paulus aus Gal 3:16, wo es heißt:

Nun wurden die Verheißungen Abraham und seinem Samen zugesagt. Es heißt nicht: „Und den Samen“ wie im Fall vieler solcher, sondern wie im Fall eines einzigen: „Und deinem Samen“, welcher Christus ist. (NWÜ)

Paulus stellt somit klar, dass es sich beim Samen Abrahams nur um Jesus Christus und nicht zusätzlich um die wiedergeborenen Adoptivsöhne Gottes handelt. Zwar ist der Begriff „Same“ ein Kollektivbegriff, weil es sowohl eine Einzelperson als auch viele Personen bezeichnen kann, aber Paulus selbst wendet ihn auf eine einzelne Person, nämlich Jesus Christus an. Somit stellt der Same auch nicht die „[kleine Gruppe]“ dar, wie auf S. 12 eingefügt wurde. Der Wachtturm aber vermittelt im Gegensatz zu Pauli Worten einen Kollektivgedanken, um die „Adoptivsöhne“, die Sklavenklasse, mit einbeziehen zu können! Dies widerspricht jedoch der Auffassung des Paulus über den Samen. Die Neue-Welt-Übersetzung selbst verweist dabei im Querverweis auf 1Mo 22:18, wovon es im Wachtturm heißt, mit dem Samen seien Jesus Christus und die Adoptivsöhne gemeint. Das würde ja bedeuten, dass die Rettung nicht nur durch Jesus Christus, sondern auch durch die Gesalbten kommt! Mit dieser Deutung stellt der Wachtturm die Gesalbten mit Jesus aber auf eine Stufe!

Sicherlich trifft es zwar zu, dass Personen vor der Zeit Jesu Christi keine christliche Wiedergeburt erfahren konnten, da sie nicht im „Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ getauft werden konnten. Dies war auch nicht nötig, da das Israel ohnehin schon erwählt und damit gerettet war. Diese Rettung sollte schließlich auf die Heiden (die „Nationen“) ausgedehnt werden. Erst mit dem Kommen Jesu Christi galt es, Jesus zu bekennen und sich in seinem Namen taufen zu lassen.

Aus dem Neuen Testament wissen wir außerdem, dass die Einladung, Wasser des Lebens zu nehmen, schon damals an die Heiden erging (Joh 4:14), nicht erst 2000 Jahre später! Diese „anderen Schafe“ stammen nicht aus dieser Hürde (= Judentum, Israel). Diese sollten aber in eine Hürde zusammengeführt werden, nicht in zwei Klassen, was zwei verschiedene Hürden erfordern würde. Bei den Heidenchristen handelt es sich dann um „alle Nationen der Erde“ (1Mo 22:18), die durch den Samen Abrahams, welcher Jesus Christus ist (Gal 3:16), gesegnet werden (vgl. auch Gal 3:8). Diese sind dann die Erben dieses Samens (Gal 3:29). Wie der Wachtturm selber sagt (S. 12), gehören auch sie Christus an. Aber Christus angehören bedeutet auch, zum Leib Christi zu gehören. Ja, es bedeutet noch mehr: Es bedeutet, eine neue Schöpfung zu sein:

Wenn also jemand in Christus ist, dann ist das neue Schöpfung. - 2Ko 5:17.

Aber was erfordert es, Christus anzugehören, Teil des Leibes Christi und eine neue Schöpfung zu sein? Eben die Taufe aus Wasser und Geist, nicht allein nur aus Wasser.

In Kol 2:12 lesen wir:

Mit ihm wurdet ihr begraben durch die Taufe, und mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben, den Gott bewirkt, welcher ihn auferweckt hat von den Toten.

Interessant ist der Hinweis, dass die Getauften nicht nur mit Jesus Christus begraben, sondern auch mit ihm auferweckt wurden. Damit haben sie an der ersten Auferstehung teil und kommen nichts ins Gericht (Joh 3:18, 19; 5:24). Und das Gericht begann schon damals mit dem Kommen Jesu Christi, denn „das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist“ (Joh 3:19). In Joh 11:25 begegnen wir daher der anscheinenden Paradoxie, dass diejenigen, die glauben, leben, auch wenn sie sterben. In Vers 26 treffen wir auf eine weitere vermeintliche Paradoxie, denn dort heißt es, dass derjenige nie mehr stirbt, wenn er an Jesus glaubt. Da sie also aufgrund des Glaubens an Jesus Christus nicht ins Gericht kommen, haben sie an der ersten geistigen Auferstehung teil. Über sie hat der zweite Tod keine Gewalt.

Ist jemand nicht wiedergeboren, dann ist er auch keine „neue Schöpfung“. Er ist auch nicht Teil des Leibes Christi und kann ihm somit nicht angehören. Derjenige hat dann auch kein ewiges Leben, denn wir haben oben gesehen, dass das Königreich Gottes sehr wohl Leben bedeutet. Das Neue Testament berichtet uns nicht, dass es auch Christen geben würde, die nicht wiedergeboren sind. Es gelten für alle Christen die gleichen Bedingungen: Die Wiedergeburt.

Vor diesem Hintergrund muss man schlussfolgern, dass durch den Umgang des Wachtturms mit der Wiedergeburt, die er nur auf die buchstäblichen 144.000 beschränkt, der andere Teil der Christen von der Rettung ausgeschlossen wird, denn wenn sie nicht wiedergeboren sind, können sie auch nicht zusammen mit Christus durch die Taufe auferweckt werden.

Exkurs

An dieser Stelle müssen wir einen kleinen Exkurs auf eine andere griechische Bezeichnung für die Wiedergeburt machen. Nur in Mt 19:28 und Titus 3:5 begegnet der Ausdruck palingenesía. Es handelt sich um ein Kompositum bestehend aus pálin („wiederum, rückwärts“) und génesis („Werden, Entstehen“). Dieser Ausdruck kann verschiedene Arten von Wiedergeburten meinen. Von der Semantik, also von der Grundbedeutung her kann es die „Erneuerung: z. B. die Wiederherstellung der Gesundheit, den Beginn eines neuen Lebens, des einzelnen wie eines ganzen Volkes, die erwartete Wiederherstellung der Welt, Reinkarnation von Seelen u.a.m.“ bedeuten [4]. Es bedeutet „Rückkehr zum Dasein, Wiederkehr aus dem Tode zum Leben, Erneuerung zu einem höheren Sosein, Wiedergeburt in dem uns geläufigen Sinne“ [5]. Kommen wir nun zum neutestamentlichen Sprachgebrauch. In Mt 19:28 heißt es:

Jesus sprach zu ihnen: „Wahrlich, ich sage euch: In der Wiedererschaffung [palingenesía] [6], wenn sich der Menschensohn auf seinen Thron der Herrlichkeit setzt, werdet auch ihr selbst, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.

In Titus 3:5 lesen wir:

rettete er uns, nicht zufolge von Werken, die wir in Gerechtigkeit vollbracht hätten, sondern gemäß seiner Barmherzigkeit durch das Bad, das uns zum Leben brachte [palingenesías] [7], und durch unsere Erneuerung durch heiligen Geist.

Gemäß dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. I, S. 687) kommt mit palingenesía in Mt 19:28 der jüdische Glaube an die „Totenauferstehung und Welterneuerung“ zum Ausdruck. Hier wird zudem klar gestellt, dass der Begriff seinen Ursprung nicht in den Mysterien hat. Und zu Titus 3:5 wird im gleichen Wörterbuch auf S. 688 erklärt:

Eine sittliche Verwandlung ist nicht gemeint, denn von den Wiedergeborenen verlangt der Titusbrief, daß sie die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen.

Im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. III, Sp. 19) wird zudem erklärt [8]:

Tit 3, 5 spricht unter Aufnahme und Transformation von [paulinischer Tradition] von unserer Rettung „nicht aus Werken“…, sondern gemäß seinem Erbarmen…durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung durch heiligen Geist“. Die [Pastoralbriefe] weisen dabei sogar Werke, „die wir in Gerechtigkeit taten“ (V. 5), als Grundlage der Erlösung zurück und erkennen sie einzig als Tat Gottes, die sich zeichenhaft „durch (diá) das Bad der Wiedergeburt“ vermittelt, ihrem Wesen nach aber eine Erneuerung (anakaínōsis) ist, die der Geist Gottes wirkt. […] Was das N[eue] T[estament] mit palingenesía wirklich meint, entzieht sich jeder geschichtlich und natürlich möglichen Erfahrung. Die Metapher palingenesía an sich bedeutet bereits eine Grenzüberschreitung der Erkenntnis. Sie bezeugt den Glauben an ein erneutes Schöpfungshandeln Gottes und die „Hoffnung au ewiges Leben“ (Tit 3, 9), das alles Bisherige übertrifft, jedoch an diesem nicht vorbeigeht.

Für einen Christen ist es insbesondere bedeutungsvoll, dass die Wörterbücher mystischen Vorstellungen in Verbindung mit palingenesía eine klare Absage erteilen. Im gleichen Wörterbuch heißt es zu Titus 3:5 weiter:

Die paränetische [= ermahnende] Intention des Kontextes verwehrt ekstatisch mystische Spekulationen ebenso wie rein individuelles Verständnis von palingenesía (vgl. „wir“, „uns“ VV. 3-7); sie mahnt zu nüchternem und tatkräftigem Aufweis des mit dem Erscheinen der „Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Erlösers, Gottes,“ (V. 4) geschenkten erlösten Daseins.

Aus meiner Sicht ist das Wort palingenesía mit der Taufe gleichzusetzen. Der Kontext von Titus lässt keinen anderen Schluss zu. Dort lesen wir, dass Christus uns gerettet hat durch das „Bad der Wiedergeburt“ (loutrou palingenesías) und Erneuerung im Heiligen Geist. Das Wort „Bad“ ist die griechische Wiedergabe von loutrón und kommt auch in Eph 5:26 vor und kann sowohl „Taufe“ als auch „Bad“ bedeuten.

Fußnote

[1] ánōthen = „von oben“. Zum abweichenden griechischen Begriff palingenesía (= „Wiedergeburt“, oder eschatologisch: „Erneuerung der Welt oder des Menschen“, Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament von Friedrich Rehkopf) in Mt 19:28 und Titus 3:5 Siehe den Exkurs

[2] Eine Analogie zur buchstäblichen Geburt, wie sie auf S. 6 des Wachtturms beschrieben wird, besteht allerdings nicht. Der Vergleich ist daher auch nicht angebracht. Hier muss sich der Wachtturm am eigenen Verständnis über Wiedergeburt messen lassen. Auf S. 9 heißt es, der „erste Schritt“ der Taufe gehe von der Person selbst aus. Darauf folgt aber nicht unbedingt die Salbung mit Heiligem Geist „von oben“ und damit auch nicht die Wiedergeburt, sondern nur „wenn Gott ihn auserwählt, als Herrscher in seinem Königreich mitzuregieren“. Dieser „zweite Schritt“ könne also nicht mehr von der Person selbst beeinflusst werden. Bei einer buchstäblichen Geburt gibt es diese zwei Schritte nicht. Ein Mensch kann sich im Gegensatz zur buchstäblichen Geburt gegen eine mögliche christliche Wiedergeburt entscheiden, indem er erst gar nicht den „ersten Schritt“ der Wassertaufe vollzieht, wenn er sich gegen Gott entscheidet. Gegen die buchstäbliche Geburt konnte sich der Geborene aber nicht entscheiden. Der Vergleich mit einer buchstäblichen Geburt hinkt somit auf ganzer Linie.

[3] „Umkehr“ ist die Wiedergabe des griechischen metánoia und kann auch „Buße“ (Mt 8:3) oder „Sinnesänderung“ bedeuten. Das Verb ist metanoéō und heißt wörtlich hinterher bedenken (metá = hinterher, hernach).

[4] Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. III, Sp. 19).

[5] Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I, S. 685.

[6] „Wiedergeburt“ (Luther); „Wenn die Welt neu geschaffen wird“ (Einheitsübersetzung); „Neuschöpfung“ (Zürcher Bibel).

[7] „Wiedergeburt“ (Luther, Einheitsübersetzung, Zürcher Bibel).

[8] Griechische Wörter wurden von mir transliteriert sowie unbekannte Abkürzungen in eckigen Klammern ausgeschrieben oder Erläuterungen hinzugefügt.