Paul gibt es nicht wirklich und doch steht seine Geschichte für die von Millionen von Zeugen Jehovas, die als Kind in die Sekte hinein geboren wurden und erst Jahrzehnte später den Weg aus ihr heraus finden. Eine Erzählung, die zum Nachdenken anregen soll.

Der Ausstieg des Paul aus der „Wahrheit“ begann schon bei seiner Geburt. Der seltene Zufall wollte es so, dass seine Eltern beide gläubige Zeugen Jehovas waren und sehnlichst das Ende dieser „bösen Welt“ herbeiwünschten. Das alles passierte vor knapp 50 Jahren. Kaum hatte der Präsident der „Neue-Welt-Gesellschaft“ geheiratet und in zähen Verhandlungen mit dem Gott dieser Organisation eine weitere Schonfrist bis „Harmagedon“ ausgehandelt um noch mehr Menschen vor dem „Verderben“ zu erretten und in den Schoß der Wachtturm- Gesellschaft zu befördern, setzte unter den „Brüdern“ und „Schwestern“ ein Heiratsboom ein, dem sich auch Pauls christliche Eltern nicht entziehen konnten. Die theokratische Mehrung nahm einen so rasanten Verlauf, dass in deren Folge die Versammlungen angesichts der vielen Kinderwagen aus den Nähten platzten. In einem der vielen Kinderwagen saß der kleine Paul.

Paul hieß in Wirklichkeit nicht „Paul“, aber da er auch x- beliebig anders heißen könnte, nennen wir ihn einfach „Paul“.

Paul erblickte das „Licht der Wahrheit“ in Form einer grellen Kreißsaalbeleuchtung in einem Krankenhaus, deren Ärzte sich seltsamerweise bereit erklärt hatten, seiner Mutter keine Bluttransfusion zu verabreichen, auch auf die Gefahr hin, daß Paul als Halbwaise aufwachsen sollte. Aber Pauls Vater fand das gar nicht so schlimm, würde doch der kleine Paul seine Mutter schon bald wiedersehen, wenn sie nach „Harmageddon“ wieder auferstanden sein wird; und diese kurze Zeit sollte ja für Paul und seinen Vater wirklich keine Rolle spielen. Paul allerdings sah das etwas anders und war froh, dass er nicht als Halbwaise aufwachsen sollte, sondern dass seine Mutter ihn stillte und wickelte. Da nahm er dann eben auch in Kauf, dass er drei mal wöchentlich mit in die Zusammenkünfte geschleppt wurde, zuerst in der Tragetasche, dann im Kinderwagen und als er laufen lernte, an der Hand der Eltern.

Der Ausstieg des Paul begann eher unmerklich aber lautstark. Zuerst machte er seine Abneigung gegen die wöchentlichen Gehirnwäscheveranstaltungen durch lautes Brüllen und Schreien während der Zusammenkünfte deutlich. Aber dies schien auf die anderen Anwesenden keinen großen Eindruck zu machen. Paul wurde einfach geschnappt und auf die kalte Toilette verfrachtet bis er sich wieder bereit erklärte der Wachtturm- Beschallung beizuwohnen. Dann entdeckte Paul, wie sich der Ausstieg möglicherweise besser bewerkstelligen ließ. Je mehr die Aufmerksamkeit seiner Mutter durch ständiges Wiederkäuen der „geistigen Fettspeisen“ allmählich nachließ, riss der kleine Paul einzelne Seiten aus der Bibel oder dem Liederbuch seiner Mutter um diese durch Knittern und Zerbeissen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die dabei gesammelten Erfahrungen zeigten zwar nicht den gewünschten Erfolg – Paul wurde nämlich mit der „Rute der Zucht“ in Form von Schlägen mit der elterlichen Hand auf das nackte Gesäß bekannt gemacht – aber Paul stellte fest, dass die „geistige Speise“ weder gut schmeckte noch gut verdaulich war. Deshalb entschied Paul, dass nur der richtige Zeitpunkt für den Absprung noch nicht gekommen war.

Pauls Mutter blieben seine Ausstiegsbemühungen nicht verborgen, zumal er sich weigerte beim Tischgebet still zu sitzen und „Amen“ zu sagen. Also wurde Paul indoktriniert. Mit Hilfe des „Paradiesbuches“ und den darin enthaltenen Horror- Comics von schrecklichen siebenköpfigen Drachen, einstürzenden Hochhäusern und toten Menschen wurde dem Paul gezeigt, was Gott mit Kindern macht, die ihren Eltern nicht gehorchen und die nicht in den Zusammenkünften still sitzen. Paul musste lernen, dass der vorbildliche Abraham seinen Sohn so sehr liebte, dass er ihn seinem Gott auf einem Altar opfern wollte, dass der gute Prophet Elisa Kinder von Bären auffressen ließ, weil sie ihm einen dummen Streich spielten, und Ananias und Safira wegen einer kleinen Schwindelei tot umfielen. Er lernte, dass der brave David dem Goliath den Kopf abschlug und als Trophäe mitnahm und den getöteten Philistern die Vorhaut abschnitt, der brave und starke Simson wegen einer verlorenen Wette seine neuen Verwandten umbrachte, die brave Jael einem Mann mit dem Hammer einen Pflock durch den Schädel rammte, der gute Lot seine eigenen Töchter schwängerte und dass der liebe Gott Jehova wegen einer kleinlichen Wette seinem Freund Hiob alles wegnehmen ließ und zuließ, dass seine Kinder umgebracht wurden. Paul musste diese und andere Geschichten lernen, hoffte man doch Paul vor der Vernichtung in Harmageddon zu retten, die unmittelbar bevorstand.

Es kam noch schlimmer! Paul sollte lernen Jehova zu lieben. Schließlich würde Jehova Paul und alle anderen Kinder, die in die Versammlung gehen und ihren Eltern gehorchten ja so sehr lieben, daß er seinen eigenen Sohn, der Wasser in Wein verwandeln konnte, von bösen Römern umbringen ließ, damit der kleine Paul im Paradies mit den Löwen spielen darf. Paul beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Als Paul vier Jahre alt war, besuchte er mit seinen Eltern den nahegelegenen Zoo. Dabei schaute er sich die hinter sicheren Gittern eingesperrten Löwen genauer an. Paul stellte fest, dass sie voller Fliegen und schmutzig waren, große Kothaufen hinterließen und stanken. Paul beschloss, dass er im Paradies keine Löwen streicheln wollte. Außerdem würde er Jehova nicht mehr lieben, weil der seine angebliche Liebe dadurch zeigt, daß er andauernd Leute tötet. Aber Paul behielt seine „abtrünnigen“ Erkenntnisse für sich und fiel nur durch gelegentliche ketzerische Fragen auf, so z.B. als er seine Eltern fragte, ob Jesus als kleines Kind auch in den Predigtdienst gehen musste und warum Jehova, der doch alles weiß, nicht vorhersehen konnte, was Satan mit Adam und Eva machen würde.

Als Paul in die Schule kam, war er bestens vorbereitet. Paul durfte als einziger keine Schultüte haben, die Lehrer wurden informiert, dass Paul keine Weihnachtslieder singt, keine Geburtstagstorte ißt, keine Ostereier bemalt, kein Fasching feiert und keine „weltlichen Freunde“ hat. Aber Paul war sehr beliebt bei LehrerInnen und MitschülerInnen. Paul überlegte nun, warum  der doch angeblich liebevolle Gott Jehova seine Mitschüler in Harmageddon unbedingt töten will, nur weil deren Eltern keine Zeugen sind. Er fragte seine Eltern danach. Diese meinten, wenn Paul seine Mitschüler retten wolle, müssten diese auch Zeugen werden und Paul solle ihnen predigen und mit ihnen die Bibel studieren. Das tat der kleine Paul dann doch lieber nicht; er hasste diese Familienbibelstudien doch selbst. Er wäre viel lieber genau so wie seine geburtstags- und weihnachtenfeiernden Freunde. Das behielt er aber dann doch lieber für sich. Noch war es ein langer Weg bis zum endgültigen Ausstieg, aber das Ziel hatte Paul vor Augen.

Paul wurde größer und lernte „Zeugnis zu geben“, immer in der Hoffnung auf keine Schulkameraden zu treffen; er rauchte heimlich mal Zigaretten, er las mit weißem Hemd und Krawatte bekleidet aus der Bibel in der „Theokratischen Schule“, er hoffte auf unerwarteten Unterrichtsausfall, der ihm ermöglichte, mit seinen Freunden rumzuziehen, ohne dass die Eltern Verdacht schöpften; er verbrachte seine Ferien mit seinen theokratischen Eltern auf Zeugen- Kongressen immer die Gesellschaft von Leidensgenossen suchend, versteckte seine Bravo- Hefte elternsicher, unterstrich hastig die Studienartikel im Wachtturm, schielte nach den Mädchen innerhalb und außerhalb des Königreichssaals und ließ sich schließlich dann irgendwann taufen weil es Gleichaltrige auch taten und 1975 nicht mehr weit weg war.

Paul wollte aber nicht, dass 1975 Harmagedon kam. In der Bibel hatte er gelesen, dass niemand Tag und Stunde kenne, nicht mal der regierende König Jesus selber, sondern nur Jehova Gott. Wieso sollte es dann ausgerechnet 1975 kommen, wenn es so viele erwarteten? Paul jedenfalls wollte nicht, daß Harmageddon kam. Er wollte erwachsen werden, den Führerschein machen und Auto fahren. Er wollte heiraten und dann machen was er selber will. Die Aussicht, dass die Auferstandenen im „neuen System der Dinge“ sein sollen wie die Engel, d.h. sie würden nicht mehr heiraten, betrübte ihn sehr. Nein, er wollte auf Fernsehen und Kühlschrank, Autos, Fußball und Beatmusik nicht verzichten. Die Aussicht, dass im Paradies nur Königreichslieder gespielt werden, war für Paul schauderhaft. Kurzum, Paul beschloss, dass 1975 Harmageddon nicht kommen darf und er wollte auch nicht ewig leben in einem Blockhaus am rauschenden Bach mit Streichelzoo und obstessenden Nachbarn, wie in den Bildern der Wachtturm- Litaratur abgebildet.

Und 1975 kam nicht! Das heißt 1975 kam wohl und es kam auch 1976 und 1977 usw. Aber offensichtlich hatte Pauls Unglauben das Schlimmste verhindert. Zumindest hoffte Paul das. Wenigstens hatte Gott in diesem Punkt ein Einsehen und vertagte den Vernichtungszeitpunkt auf unbestimmt. Schließlich lebt die 1914- Generation noch einige Jahre. Da kann noch viel passieren, der Ausstieg kann vorerst warten.

Paul wurde erwachsen und das Ende rückte immer näher - wenigstens für die anderen. Aber solange sich der Predigtdienst mit Kneipenbesuch, Berufsausbildung und Disco koordinieren ließ, war der Ausstieg nicht so dringend. Paul heiratete eine „Schwester“ , wurde erfolgreich im Beruf und man ernannte ihn zum Dienstamtgehilfen.

Und dann kam er doch – der Ausstieg, der vor über 20 Jahren begonnen hatte. Paul wurde „geistig schwach“! Er hinterfragte nämlich die Zeugenlehre, dann die Bibel, dann diesen angeblich so liebevollen Gott.

Paul hatte sein Ziel erreicht, er war ausgestiegen!