Prof. Dr. Dr. Hassemer - Am Schloßplatz, 76131 Karlsruhe
Zur Taufe von Kindern bei Zeugen Jehovas und der 'vorverlagerten Gewissensentscheidung'

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Dr. Hassemer, hohes Gericht,

ich habe die Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und sämtliche verfügbaren Dokumente gelesen. Aus der Zeitung und von mir bekannten Personen, die bei der Verhandlung anwesend waren, habe ich erfahren, daß der Justitiar der Zeugen Jehovas, Herr Gajus Glockentin behauptete, daß die Zeugen Jehovas nur Erwachsenentaufen durchführen.

Da dieser Punkt auch in der Verfassungsbeschwerde von Prof. Weber und in dem Gutachten zur Rechtstreue der Zeugen Jehovas von Prof. Arndt eine, wie ich meine, tragende Rolle spielt, möchte ich durch mein Schreiben darauf hinweisen, daß diese Aussagen nachweislich falsch sind.

Zu diesem speziellen Punkt - Taufe von religionsunmündigen Kindern bei Zeugen Jehovas - möchte ich mich hier äußern und einige Dokumente dazu überreichen. Weiterhin möchte ich noch einige Fragen aufwerfen zum Schutz von Familien, in denen Herr Glockentin die Zuwendung zum Staat durch karikative Tätigkeit sieht.

Zu meiner Person:

Mein Name ist Thomas Ragg, ich bin verheiratet, konfessionslos und habe drei Kinder. Meine Frau besuchte seit 1995 drei Jahre lang die Versammlungen der Zeugen Jehovas, wurde 1996 getauft und, nachdem sie darlegte, daß sie die Lehre von der Wiederkunft Christi im Jahre 1914 nicht glauben kann (die sie so auch nicht vor ihrer Taufe dargelegt bekam), im April 1998 ausgeschlossen mit den bekannten Konsequenzen.

Ich begleitete sie während der drei Jahre regelmäßig mindestens einmal pro Woche zu den Versammlungen, galt solange als 'Freund der Wahrheit' und konnte mir ein sehr persönliches Bild vom Innenleben der Organisation machen. Den Entschluß meiner Frau, Zeugin Jehovas zu werden, habe ich damals voll akzeptiert, sie sogar unterstützt in ihren Bemühungen, den Predigtdienst durchzuführen. Man muß hinzufügen, daß sie amerikanische Staatsbürgerin und ein sehr religiöser Mensch ist, während ich keiner Konfession zugehörig bin.

Für den religiösen Glauben meiner Frau sah ich mich nicht direkt verantwortlich, anders war das für die Erziehung meiner Kinder in dieser Hinsicht. Hier trafen wir früher die Vereinbarung, daß die Kinder nicht aktiv in religiöse Betätigungen eingebunden werden, wie z.B. den Predigtdienst durchzuführen. Im November 1997 hatten wir eine Auseinandersetzung über die religiöse Erziehung unserer Kinder, bei der meine Frau mit dem Argument 'man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen' versuchte durchzusetzen, daß die Kinder an der Theokratischen Predigtdienstschule der ZJ teilnehmen. Infolgedessen informierte ich mich umfassend über die ZJ - durch Bücher, durch Gespräche mit sogenannten 'Ältesten' und durch das Internet. Den gewonnenen Erkenntnissen ist es wohl auch zu verdanken, daß meine Frau den Anstoß zum Nachdenken und Nachforschen bekam und selbst Diskrepanzen in der Lehre entdeckte, die letztendlich zu ihrem Ausschluß führten.

Nachdem meine Kinder drei Jahre lang weltliche Freunde mieden und keinen Geburtstag feierten (weil Jehova das nicht will), haben sie heute große Freude daran. Allerdings fragte ich mich während der Zugehörigkeit meiner Frau zu den ZJ oft, wie ich reagiere, wenn eines meiner Kinder einen Unfall hat und eine Transfusion benötigt, die meine Frau verweigern würde. Ebenso sah ich die Gewissensnöte der Kinder, daß sie einerseits die Anerkennung der Mutter suchten, andererseits aber auch gerne an Veranstaltungen in der Schule teilgenommen hätten, statt immer nur die Versammlungen der Zeugen Jehovas zu besuchen. Während der Zugehörigkeit meiner Frau zu den Zeugen Jehovas war es eine Gratwanderung, die starke Vereinnahmung der Kinder durch die Religion abzumildern und andererseits ein vertrauensvolles Familienleben zu führen. Darin liegt auch der eigentliche Grund, warum ich Ihnen heute schreibe.

Es sind vor allem Kinder, die in dieser Gemeinschaft aufwachsen, die später in große Gewissensnöte kommen können. Trotzdem wird von ihnen erwartet, daß sie wie ein Erwachsener zu der ganzen Lehre der Zeugen Jehovas stehen. Auch daß sie Transfusionen ablehnen und ihren Tod in Kauf nehmen, wie ich unten ausführen werde. Falls nicht, droht getauften Kindern und Jugendlichen ebenso der Gemeinschaftsentzug mit allen Konsequenzen.

Zur Sache: Kindertaufe und das Konzept der vorverlagerten Gewissensentscheidung

Die Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas baut auf dem Konzept der 'vorverlagerten Gewissensentscheidung' auf. Damit soll begründet werden, daß der einzelne Zeuge Jehovas die Lehren kannte und somit freiwillig von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch macht. Gleiches gilt auch für die Behandlung mit Blutprodukten. Die vorverlagerte Gewissensentscheidung zu allen Lehren der Zeugen Jehovas erfolgt durch die Taufe. Man muß hier anmerken, daß man damit auch die Zustimmung zu allen Lehränderungen in der Zukunft gibt, ohne auf diese Änderungen irgendeinen Einfluß zu haben.

So zitiert Prof. Weber auf S.20 der Verfassungsbeschwerde die Selbstdarstellung der Zeugen Jehovas:

... Im Gegensatz zu der in den meisten Kirchen üblichen 'automatischen' Mitgliedschaft durch die Kindstaufe trifft der einzelne seine Entscheidung gemäß seiner Gewissensüberzeugung hinsichtlich der ganzen Lehre der Religionsgemeinschaft vor dem Beginn der Mitgliedschaft (vorverlagerte Gewissensentscheidung).

und folgert daraus, daß

an der religiösen Motivation der Haltung der Beschwerdeführerin zu politischen Wahlen kann nach alledem nicht gezweifelt werden; daß die immanenten Grenzen der Religionsfreiheit mit ihr nicht überschritten werden und die aus ihr resultierende Praxis in Übereinstimmung mit der staatlichen Rechtsordnung steht,...

Ebenso wird dasselbe Argument im Gutachten von Prof. Arndt (zur Rechtstreue der Zeugen Jehovas, S.21) benutzt

Angehörige der ZJ haben mit dem Eintritt in die Gemeinschaft eine vorverlagerte Religions- und Gewissensentscheidung dahingehend getroffen, sich nicht als 'Teil der Welt' anzusehen und betrachten es infolgedessen als mit dem göttlichen Willen nicht vereinbar, an politischen Wahlen teilzunehmen. Bei den ZJ erfolgt diese Gewissensentscheidung erst, nachdem sie aus freiem Willen vor der Taufe in der Regel einem Zeitraum von mehreren Jahren eingehend mit den Glaubenslehren dieser Gemeinschaft beschäftigt haben.

Letztendlich setzen meines Erachtens beide (unwissend?) voraus, daß es sich bei dem Zeugen Jehovas, der eine vorverlagerte Gewissensentscheidung trifft, um einen erwachsenen, religionsmündigen Menschen handelt.

Diesen Eindruck erweckt auch die Pressemitteilung der Zeugen Jehovas, die zur mündlichen Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht am 20. September verteilt wurde. Darin heißt es in dem Papier zu 'Grundsätze der Kindererziehung der Zeugen Jehovas':

Im Gegensatz zu der in vielen Kirchen üblichen Mitgliedschaft durch die Kindstaufe, gibt es bei Jehovas Zeugen keinen Erwerb der Mitgliedschaft von Kindern durch eine elterliche Entscheidung. Erst wenn ein Heranwachsender seine eigene Entscheidung gemäß seiner Gewissensüberzeugung hinsichtlich der gesamten Lehre der Religionsgemeinschaft getroffen hat, kann er ihr Mitglied werden.

Diese Aussage ist schlicht und einfach so dargestellt, daß sie falsch ist! Unter Heranwachsenden versteht man gewöhnlicherweise volljährige Menschen zwischen 18 und 21 Jahren. Zusätzlich sagte Herr Gajus Glockentin meines Wissens, daß es bei den ZJ nur die Erwachsenentaufe gäbe.

Es ist bei den Zeugen Jehovas aber üblich, daß Kinder bereits vor Erreichen der Religionsmündigkeit (also jünger als 14 Jahre) getauft werden. In der Versammlung, die meine Frau besuchte, wurden während ihrer Mitgliedschaft ein 11-jähriges und ein 12-jähriges Mädchen getauft.

Christoph Stolzenberger, ehemaliger Zeuge Jehovas und Journalist, der auch bei der mündlichen Verhandlung am 20 September anwesend war, bestätigte mir, daß er sich im Alter von 13 Jahren für die Taufe entschied, alle Taufvorbereitungen durchführte und mit 14 Jahren getauft wurde. Darüberhinaus weist er darauf hin, daß auch seine geistig behinderte Schwester eine getaufte Zeugin Jehovas ist.

Das dies keine Einzelfälle sind, davon kann sich jeder auf Kongressen der Zeugen Jehovas versichern, von denen ich selbst drei besucht habe.

Insbesondere läßt sich die vermeintliche Behauptung, daß es bei Zeugen Jehovas keine Kindertaufe gibt, auch mit Literaturstellen aus dem Schrifttum der Zeugen Jehovas widerlegen. Liberal Elder, einer der Gründer der internen (anonymen) Reformgruppe 'Associated Jehovahs Witnesses for Reform on Blood', kurz AJWRB (im Internet http://www.ajwrb.org) antwortete auf zwei Artikel von David Malyon, ein Vertreter der Wachtturmgesellschaft, im Journal of Medical Ethics (erschienen Ausgabe Oktober 1998 und Dezember 1998), der ebenso von der freien Gewissensentscheidung der ZJ bezüglich der Verweigerung der Behandlung mit Blutprodukten schreibt.

In seiner Antwort schreibt Liberal Elder, daß er selbst im Alter von 9 Jahren getauft wurde, und daß man von den getauften Kindern erwartet, die Regeln der Wachtturmgesellschaft einzuhalten wie Erwachsene auch. Er verweist auf den Artikel 'Trust in Jehovah Leads to Dedication and Baptism' der englischen Ausgabe des Wachtturms vom 15. März 1988, S.14 (Deutsch: Vertrauen zu Jehova führt zur Hingabe und Taufe, 15. März 1988, als Textkopie anbei), in dem Beispiele gegeben werden, von Kindern die getauft wurden. Unter anderem ein zehnjähriges Mädchen, daß sogar die Pionierdienstschule besuchte! Pionierdienst hieß damals 90 Stunden Predigtdienst pro Monat. Die Taufe dieser Kinder wurde als vorbildhaft herausgestellt. Aus dem Text geht ganz deutlich hervor, daß man mit der Taufe nicht bis zum Erwachsenenalter warten soll. Was im Wachtturm steht, ist für einen Zeugen Jehovas Gesetz! Diese Aussage steht im Widerspruch zu der oben zitierten Pressemitteilung der ZJ, das der Erwachsenentaufe sogar noch ein mehrjähriges Studium vorausgeht.

Weiterhin verweist er auch auf den Artikel: Youths Who Have 'Power Beyond What is Normal'. (Awake! 1994 May 22,p. 13). In Deutsch erschienen: 'Jugendliche, die Kraft besitzen, die 'über das Normale hinausgeht.' (Erwachet vom 22. Mai 1994, als Textkopie anbei). Dort werden Beispiele von Jugendlichen gegeben, die eine Behandlung mit Blutprodukten ablehnten und zum Teil starben, unter anderem auch eine 13-jährige. Auch diese Jugendlichen werden als vorbildhaft dargestellt.

Liberal Elder drückt in seinem Artikel sehr schön aus, daß ein Zeuge Jehovas eben keine Gewissensfreiheit und auch keine Redefreiheit hat. Nach seiner Aussage wurde bereits mehreren Mitgliedern der Vereinigung AJWRB die Gemeinschaft entzogen, obwohl offizielle Vertreter der WTG in einem Interview und in den Artikeln im Journal of Medical Ethics behaupteten, daß die Mitglieder ihre Kritik intern (und damit nicht anonym) vorbringen sollten. Eine mir von ihm zur Verfügung gestellte Kopie des Artikels liegt bei. Wichtige Stellen sind markiert. Dieser Artikel wurde vom Journal of Medical Ethics zur Veröffentlichung akzeptiert und soll dieses Jahr in der Oktober-Ausgabe erscheinen. Von den zitierten Artikeln aus dem Wachtturm bzw. Erwachet liegen die Texte von der CD-Ausgabe der Wachtturmgesellschaft bei. Die zitierten Stellen sind ebenfalls markiert.

Ich hielt zusammen mit meiner Frau im Oktober letzten Jahres zwei Vorträge in Weingarten zum Thema ZJ, bei denen auch uns bekannte Zeugen Jehovas (Älteste und Mitarbeiter des sogenannten Informationsdienstes) anwesend waren. Auch diese brachten das Argument der Erwachsenentaufe vor. Neben mir und meiner Frau widersprach dem auch ein anwesender Zeuge Jehovas aus der Reformgruppe AJWRB und betonte, daß ZJ nicht nur Kinder taufen, sondern daß diese Kinder jahrelang die Versammlung besuchen, dort stillzusitzen haben - manchmal unter der Anwendung von Zuchtmaßnahmen - und das ganze Programm erledigen müssen, wenn sie das Wohlgefallen ihrer Eltern erhalten wollen. Wie soll dann so ein Kind eine eigene Gewissensentscheidung treffen? Dieser Aussage kann ich nur voll und ganz zustimmen.

Zur Sache: Förderung des Zusammenhalts von Familien

Wenn ich richtig informiert bin, dann stellte Prof. Di Fabio an die Beschwerdeführerin unter anderem die Frage nach der Menschenwürde. Damit hat er den Finger genau auf einen wunden Punkt gelegt.

Herr Glockentin beantwortete diese Fragen in groben Worten damit, daß das Reich Gottes Frieden schafft und dies im Interesse der Menschenwürde ist. Er sagte unter anderem auch noch, daß die Lehre der ZJ die Stabilität von Familien fördert, sozusagen als karikatives Element. Diese Aussage gilt so wohl nur für Familien im engeren Sinne, d.h. verheiratete Paare, eigentlich sogar nur wenn beide Partner Zeugen Jehovas sind.

Zu dieser Aussage von Herrn Glockentin möchte ich Ihnen gerne einen Fall skizzieren, der auch bei Zeugen Jehovas regelmäßig auftritt. Einen haben wir während der Zeit, als meine Frau zu einer Versammlung der ZJ in Karlsruhe gehörte, erlebt.

Was macht ein junger Zeuge Jehovas (analog: eine junge Zeugin Jehovas), der eine 'weltliche' (jeder nicht-ZJ wird als weltlich bezeichnet) Freundin hat, wenn diese schwanger wird? Vorehelicher Verkehr ist auch bei jungen ZJ gang und gäbe, auch wenn die älteren Herren der höheren Hierachieebene gerne etwas anderes glauben und behaupten. Nach Lehre der ZJ hat der junge Mann Hurerei begangen, und müßte dafür ausgeschlossen werden, außer er zeigt Werke der Reue. Er hat eigentlich folgende Möglichkeiten:

  1. Er bereut und bricht den Kontakt zu der weltlichen Freundin ab und wird nicht ausgeschlossen.
  2. Er bereut prinzipiell, möchte aber die weltliche Freundin heiraten.
  3. Er bereut nicht, verbietet sich jede Einmischung und wird konsequenterweise ausgeschlossen.

Fall zwei ist aus gesellschaftlicher Sicht am günstigsten. Der junge Mann behält seine sozialen Kontakte und steht trotzdem zu seiner sozialen Verantwortung für seine Partnerin und das gemeinsame Kind. Interessanterweise werden in diesem Fall auch die Eltern des jungen Mannes mit Strafe bedroht, falls sie in der Versammlung irgendwelche Ämter innehaben. Im Handbuch für Älteste ('Gebt Acht auf die ganze Herde ...') ist hierzu ausgeführt:

Heiratet ein Gott hingegebener, getaufter Christ einen Ungläubigen, so verliert er vorerst sämtliche besonderen Vorrechte. Falls der Vater Ältester oder Dienstamtgehilfe ist oder ein Elternteil im Pionierdienst steht und er oder sie ermuntert zu der Eheschließung, gibt dazu die Erlaubnis oder ist stillschweigend damit einverstanden, so wird dadurch seine bzw. ihre Eignung in Frage gestellt.

Dann hat er natürlich einige Schwierigkeiten, zu bereuen, sich überhaupt mit einer weltlichen Frau eingelassen zu haben, wenn er sie heiraten möchte. In jedem Fall ist das Wahrnehmen seiner sozialen Verantwortung gegenüher der Partnerin und dem ungeborenen Kind mit Strafe bedroht. Sogar die Eltern müssen sich von ihm und ihrem Enkelkind abwenden, wenn sie keinen Statusverlust in der Versammlung erleiden wollen!

In der Versammlung der ZJ in Karlsruhe, zu der meine Frau gehörte, wurde ein junger Mann genau aus diesem Grund ausgeschlossen.

Wie eben ausgeführt sind Familien mit unverheirateten Partnern nicht geduldet. Ehen von ZJ mit weltlichen Partnern werden als 'religiös geteilte Häuser' bezeichnet. Allein der Ausdruck sagt schon etwas über den Geist der dahinter steht. Was das letztendlich bedeuten kann, habe ich bei meiner eigenen Familie erfahren dürfen. Als ich kurz vor dem Ausstieg meiner Frau anfing, den Ältesten der Versammlung gegenüber kritische Fragen zu stellen (also noch nicht mal in der Öffentlichkeit), brachten manche Älteste es fertig, meine Frau dazu zu ermunterten, mich zu verlassen. Die vermeintliche Rettung durch das Reich Gottes, in der Herr Glockentin die Menschenwürde manifestiert sieht, wird hier höher bewertet als der Zusammenhalt einer Familie mit kleinen Kindern. Dies steht sogar im Widerspruch zur offiziellen Lehre, daß man sich nur von seinem Partner trennen darf, wenn dieser Ehebruch begeht. Man verwendet hierzu (etwas mißbräuchlich) Jesu Worte aus Matthäus 10:34 und 5:28. Insbesondere der letzte Vers ('Ehebruch im Herzen begehen') diente in anderen mir bekannten Fällen, dazu die Trennung mit einer absurden Begründung zu legitimieren.

Daß es unter Zeugen Jehovas besonders stabile Familien gibt, ist eine Behauptung, die nur mit Daten gestützt wird, die die Zeugen Jehovas selbst erhoben haben und in ihrer Broschüre 'Zeugen Jehovas - Wer sind sie?' verbreiten. Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese Daten und darauf basierende Aussagen wertlos, weil sie nicht von einer unabhängigen Instanz erfaßt und nicht anonymisiert erhoben wurden.

Meine persönliche Erfahrung lehrt, daß zumindest in den religös geteilten Häusern die Lehre für erhebliche Probleme sorgen kann, wenn der weltliche Partner dem immensen Zeitaufwand für religiöse Tätigkleiten (ca. 90 Std pro Monat im Durchschnitt für einfach 'Verkündiger' wie meine Frau) und den zum Teil problematischen Gedankengut nicht mit viel Liebe und Toleranz begegnet. Noch schwieriger gestaltet sich wohl das Familienleben in der Ehe eines heutigen Mitarbeiters von 'AJWRB' den Liberal Elder in seinem Artikel erwähnt. Dieser wurde von den ZJ ausgeschlossen, nachdem seine Frau die Ältesten der Versammlung vom Kontakt ihres Mannes (per email!) mit 'AJRWB' informierte, d.h. ihren eigenen Ehemann denunzierte. Wie die Denunzation und das Brechen von Schweigepflichten von der Gemeinschaft eingefordert wird, beschreibt Dr. Muramoto schön in seinen beiden Artikel im Journal of Medical Ethics. Die bisher erschienenen Artikel der Diskussion sind in elektronischer Form unter http://www.ajwrb.org erhältlich.

Die Aussagen der Religionsgemeinschaft zu diesen beiden Fragen, Kindertaufe und Zusammenhalt von Familien, erinnern mich an eine Krankheit, die Neurophysiologen als 'Anosognosie' bezeichnen. Darunter versteht man Menschen, die unfähig sind, eine Krankheit an sich selbst zu erkennen, in der Regel als Folge eines Schlaganfalls mit Hirnschädigung. Trotz einseitiger Lähmung behaupten diese, daß Ihnen nichts fehle. Auf die Frage wie sie sich fühlen, werden sie immer ehrlich mit 'gut' antworten. Man kann ihnen die unübersehbare Krankheit vor Augen führen, in dem man sie bittet, den gelähmten Arm zu bewegen. Das Scheitern wird dann - nur visuell - zur Kenntnis genommen. Ebenso meine ich, daß die Religionsgemeinschaft die Mißstände nicht wahrnimmt, daß ihr die Unvereinbarkeit ihrer Regeln mit der Menschenwürde nicht einmal bewußt ist. Herr Glockentin ist vom Zutreffen seiner Aussagen, daß nur Erwachsene getauft werden und sich die Lehre der ZJ positiv auf die Familie auswirkt, sicher vollstens überzeugt. An der Realität geht das aber vorbei. Allein die Komplexität der oben skizzierten Szenarien zeigt, daß die Lehre der Zj eine viel komplexere Auswirkung auf das Leben vieler Familien hat, als das man das in einem Satz zusammenfassen könnte. Insbesondere für diese Fälle gibt es innerhalb der Religionsgemeinschaft keine geeigneten Mechanismen, die diese wahrnehmen und für eine angemessene Reaktion sorgen könnte.

Ich kann nicht beurteilen, inwiefern das von den Zeugen Jehovas vorgebrachte Argument der vorverlagerten Gewissensentscheidung überhaupt eine Rolle spielt bei der Präzisierung des Staatskirchenrechtes, also bei der Frage wie nahe eine Kirche dem Staat sein muß, um Körperschaft des öffentlichen Rechtes werden zu können.

Falls dies im vorliegenden Fall von Bedeutung ist, dann hoffe ich, für die Beurteilung eine hilfreiche Darstellung von Sachverhalten geliefert zu haben.

Durch meine eigenen Erfahrungen bin ich mir bewußt, wie komplex dieses Thema ist, und wie schwierig es sein kann, den Sachverhalt im Einzelnen zu durchdringen und die Aussagen der Beteiligten zu bewerten. Ich wünsche Ihnen, daß sie ein weises und mutiges Urteil sprechen; das dieses Urteil - wie das Kruzifix-Urteil - eine in weiten Kreisen akzeptierte Balance schafft zwischen den Grundrechten der Religionsgemeinschaften und den Grundrechten der einzelnen Bürger, insbesondere der minderjährigen Kinder. Mit diesen Wünschen verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Thomas Ragg