Liebe Brüder,

mit diesem Brief möchten wir euch erklären, was uns bewogen hat, den Zusammenkünften in den letzten zwölf Monaten fern zu bleiben.

Jahrzehntelang, praktisch unser ganzes Leben, haben wir treu im Dienst gestanden, haben im Pionierdienst, im fremdsprachigen Gebiet, oft unter widrigen Umständen ausgeharrt und sind auch bei der Erziehung unserer drei Kinder stets von Herzen bemüht gewesen, dem Vorbild Jesu zu folgen. Leider aber mußten wir in den vergangenen Jahren immer häufiger feststellen, daß die Liebe Jesu Christi in der Organisation fast nicht mehr zu finden war. Statt dessen wurde Druck auf die einzelnen ausgeübt, herrschte unter den Brüdern zunehmend ein Geist der Lieblosigkeit. Die Zusammenkünft wurden eintönig, geradezu steril in ihrer Oberflächlichkeit. Und wir wurden dabei innerlich immer einsamer.

Eine vollkommene Gesellschaft haben wir nie erwartet, doch uns gab in den letzten jahren zu denken, daß viele Brüder, die lange gedient hatten, unsere Reihen verließen, und allzu oft taten sie es aus guten Gründen. Wir pochen so gern au den Bibeltext, wahre Christen seien an ihren Früchten zu erkennen, an der Liebe, die unter ihnen herrscht. Die Demut erfordert aber, daß wir diesen Maßstab zu allererst an unsere eigene Gemeinschaft anlegen. Nur selbstgerecht zu verkünden, die Liebe Jesu Christi sei allein bei uns zu finden, das kann vor Jehova keinen Bestand haben. Unsere Lebenserfahrung hat gezeigt, daß man sie in unseren Reihen nur ganz selten verspürt, ja daß uns sogenannte Weltmenschen oft ganz praktisch vormachen, was Liebe wirklich ist, ob sie das nun großspurig religiös verbrämen oder nicht. „Denn ich wurde krank, und ihr saht nach mir“ - soll das erst für die Zeit nach Harmagedon gelten? Heute jedenfalls lassen wir Alten und Kranken keineswegs in auffälligem Maße Hilfe zukommen, noch nicht einmal, wenn sie unsere Brüder und Schwestern sind.

Das ganze letzte Jahr, in dem wir nicht zur Versammlung gegangen sind, hat uns nicht ein einziger "Hirte" besucht, um nach uns zu sehen. Schlimmer noch, Älteste kamen erst, als jemand uns verleumdet hatte. Man hat den Verleumdern geglaubt, ohne bei uns rückzufragen, und wollte uns nicht einmal ihre Namen und die Einzelheiten der Anschuldigungen nennen. Nichts könnte deutlicher die ganze Kälte und Härte zeigen, die in der Organisation herrscht. Wir können das Gerede vom "geistigen Paradies" nicht mehr hören, ohne daß uns davon schlecht wird.

Es schmerzt uns, zu sehen, wie sehr man „den Gebieter verleugnet, der uns erkauft hat“. Mit einer solchen Organisation wollen wir nicht mehr zu tun haben. Da ein stiller Rückzug offensichtlich nicht möglich ist, teilen wir euch mit, daß wir nicht mehr dazu gehören und keine weiteren Kontakte mehr wünschen.

Helga & Olaf Fichtner