Liebe Brüder,
ich beziehe mich auf die Anhörung vom 15.06.2001. Nachdem wir gemeinsam unsere biblischen Standpunkte klargestellt hatten, schlossen wir die Sitzung mit der Vereinbarung eines von Euch vorgeschlagenen und von mir zugestimmten Entscheidungstermins in Gestalt einer sogenannten Komiteeverhandlung für Freitag den 22.06.2001.
Aus naheliegenden Gründen habe ich mich jedoch dazu entschieden, mich nochmals in schriftlicher Form an Euch zu wenden und von der Wahrnehmung des vereinbarten Termins Abstand zu nehmen, weil es für mich hinreichende Gründe dafür gibt. Im folgenden werde ich die Motive darlegen, warum ich dies im vorgenannten Wege tue.
Verfahrensfehler
Der Eintritt in die nunmehr schriftliche Korrespondenz gibt mir die Möglichkeit, nochmals unter Hinzuziehung relevanten Materials, meine Position zu konkretisieren, was mir während der Anhörung nicht möglich war, da mir von Euch (d.h. Bruder Küttner und Bruder Bleckmann, die mich vor diesem Termin aufgesucht hatten) vor der Anhörung keine substantiierten Anklagepunkte vorgetragen wurden und Ihr mich unvorbereitet habt „auflaufen" lassen. Obwohl ich Euch bereits im Vorfeld auf die organisatorische Richtlinie aufmerksam gemacht hatte, wie sie in der Anleitung für Älteste, Gebt Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde verbindlich festgeschrieben ist, seid Ihr dieser nicht gefolgt. Ich darf dies hiermit noch mal nachholen:
Der Betreffende sollte davon unterrichtet werden, was er angeblich getan hat.
Überdies wurde von Günter Bleckmann und Bruder Küttner auch der biblische Weg umgangen:
15 Überdies, wenn dein Bruder eine Sünde begeht, so gehe hin, lege seinen Fehler zwischen dir und ihm allein offen dar.
Auf diese Schriftstelle hatte ich bereits in meiner Wohnung hingewiesen. Daher hatte ich es zunächst abgelehnt, zur Anhörung zu erscheinen. Da jedoch - wie Ihr mir in meiner Wohnung am Donnerstag, den 07.06.2001 mitgeteilt hattet - auch ohne mein Erscheinen Schritte unternommen worden wären (Komiteeverhandlung mit anschließendem Gemeinschaftsentzug), hatte ich mich entschlossen, dennoch der Anhörung beizuwohnen, da ich keine Wahl hatte.
Da Euch als Hirten der Versammlung sicherlich daran gelegen ist, den Brüdern bei der Einhaltung biblischer Grundsätze behilflich zu sein, wäre es doch angebracht gewesen, dem Bruder oder die Schwester darauf aufmerksam zu machen, mich gemäß dem biblischen Grundsatz in Matthäus 18:15 doch zunächst allein aufzusuchen, wenn er oder sie glaubt, daß „[ihr Bruder] eine Sünde begeht".
In der Anhörung selbst hätte der Zeuge dem Angeklagten gegenübergestellt werden müssen. Das wäre in Übereinstimmung mit dem Artikel im Erwachet! vom 22.4.1981, S. 17 gewesen (Siehe die Unterstreichung im Wachtturm-Zitat auf der nächsten Seite), wo die amerikanische Rechtsprechung mit der im alten Israel verglichen wird. Statt dessen wurde von Günter Bleckmann in meiner Wohnung lediglich mündlich der pauschale Vorwurf der Verleumdung erhoben. Eine solche Anklage ist jedoch zu pauschal, da ich als Angeklagter nur dann Beweismaterial und ggf. auch Zeugen zur Stütze meiner Argumente und Verteidigung heranziehen kann, wenn ich weiß, gegen welche Sache welche Verleumdung (Inhalt der Verleumdung) ergangen ist.
Ferner habt ihr mich darüber in Unkenntnis gelassen, daß es mir gestattet ist, Entlastungszeugen mitzubringen. In dem Lehrbuch für Älteste „Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde" heißt es hierzu auf der S. 110 (dort in Fettdruck hervorgehoben):
Wenn der Beschuldigte Zeugen mitbringen möchte, die zu seiner Verteidigung aussagen können, ist ihm dies gestattet.
In diesem Fall hätte z.B. mein Bruder (Michael Bruder) mich verteidigen können, indem er darauf hingewiesen hätte, daß nicht ich der Verfasser zum Thema „Kindererziehung bei Zeugen Jehovas" war, sondern er. Nur hatte ich mich beim Verhör nicht mehr daran erinnern können, ob ich der Verfasser war. Dementsprechend gingen dann die Vorwürfe zu diesem Thema an mich.
Ich als Beschuldigter bin auf die Möglichkeit, gemäß dem Lehrbuch für Älteste Zeugen mitbringen zu dürfen, nicht hingewiesen worden. Wenn schon einem Bruder, der kein Ältester ist, dieses Lehrbuch im allgemeinen nicht öffentlich zugänglich ist, so sollten die mit dem Fall beauftragten Ältesten doch bitte ehrlich bleiben und ihn zumindest auf seine Rechte als Angeklagter oder Beschuldigter hinweisen. Wegen dieses schwerwiegenden Verfahrensfehlers hätte die Anhörung weder stattfinden noch in die Beweisaufnahme eingetreten werden dürfen.
Ich bestreite daher, daß ich einen Beitrag im Internet zum Thema „Kindererziehung unter Zeugen Jehovas" geleistet haben soll. Wie ich erst nach der Anhörung feststellen konnte, hatte mein Bruder diesen Artikel verfaßt. Ich distanziere mich daher ausdrücklich vom Inhalt dieser Abhandlung. Ich widerspreche daher in diesem Punkt auch den Tatbestand der Verleumdung gegenüber der Organisation.
Ein weiterer Grund liegt darin, daß die Anhörung nicht öffentlich stattgefunden hat und die Namen der Belastungszeugen nicht genannt wurden. Diese Verfahrensweise - d.h. die Anhörung in geschlossenen Räumen unter Ausschluß der Öffentlichkeit ohne Zeugen - ist genau die, die einmal im Erwachet! verurteilt wurde:
Die Inquisition (von dem lateinischen Verb inquirere, das „untersuchen" bedeutet) war ein kirchliches Sondertribunal, durch das die Ketzerei ausgemerzt werden sollte, das heißt Ansichten oder Lehren, die von der orthodoxen römisch-katholischen Lehre abwichen. Die Namen von Zeugen der Anklage (Denunzianten) wurden geheimgehalten, und der Verteidiger, sofern es einen gab, lief Gefahr, in Verruf zu kommen und seine Stellung zu verlieren, wenn er den angeblichen Ketzer erfolgreich verteidigte. Daraus folgte, so die Enciclopedia Cattolica, daß „der Angeklagte in Wirklichkeit schutzlos war. Alles, was der Verteidiger tun konnte, war, einem Schuldigen ein Geständnis anzuraten."
In einer anderen Erwachet!-Ausgabe wurde lobend erwähnt, wie vergleichbar doch die Rechtsprechung in Israel mit der in den Vereinigten Staaten ist:
Im sechsten Verfassungszusatz findet man Richtlinien für gerichtliche Verfahren in den Vereinigten Staaten. „Bei jeder strafrechtlichen Verfolgung hat der Angeklagte das Recht, ein schnelles und öffentliches Verfahren zu erhalten ..., über Inhalt und Grund der Anklage unterrichtet und den Zeugen gegenübergestellt zu werden, die gegen ihn aussagen." Erfolgte die Rechtsprechung in biblischen Zeiten nach diesen Richtlinien? Jawohl. In Israel waren damals Strafverfahren zweifellos viel schneller als heute in Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo überlastete Gerichte und komplizierte Verfahren so manche Verzögerung bewirken. Da das Gericht jeweils an den Stadttoren tagte, besteht keine Frage, daß es sich um ein öffentliches Verfahren handelte (5. Mose 16:18-20). Zweifellos beeinflußten die öffentlichen Verfahren die Richter im Sinne der Sorgfalt und Gerechtigkeit — Merkmale, die bei Sitzungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit manchmal fehlen. Wie stand es mit den Zeugen?
In biblischen Zeiten mußten die Zeugen öffentlich aussagen. Aus diesem Grund wurden sie davor gewarnt, sich in ihrer Aussage durch den Druck der öffentlichen Meinung beeinflussen zu lassen, damit sie nicht „der Menge zu üblen Zwecken nachfolgen". Meineid wurde nicht mit Gefängnis bestraft, sondern mit der Strafe, die der falsche Zeuge über den Angeklagten bringen wollte — sogar mit dem Tod! (2. Mose 23:2; 5. Mose 19:15-21).
Des weiteren mußte ich zu meinem Bedauern feststellen, daß ich von Euch bezüglich meines Pseudonyms „Theologe Frank" glattweg angelogen und mir Titelanmaßung unterstellt wurde, um mir Unehrlichkeit, Unredlichkeit und Unlauterkeit bezüglich der Verwendung meines Pseudonyms zu unterstellen. Zumindest mußte dieser Eindruck bei mir entstehen, es sei denn, Ihr habt etwas übersehen, was meine Nachforschungen unter der Internet-Adresse http://www.geocities.com/wtcleanup/05Politik/15BriefAnSuedhoff.htm [nicht mehr am Originalplatz erreichbar, Red.] unter dem Thema „Wachtturm-Gesellschaft demontiert ihr eigenes Lehrgebäude..." im nachhinein ergeben haben. Dort kann nämlich entgegen Euren Behauptungen von Titelanmaßung überhaupt keine Rede sein kann, da der Webmaster, der die Website unterhält, eingangs auf folgendes hingewiesen hat:
Der nachfolgend wiedergegebene Brief ist datiert mit 18.09.2000 und wurde bei Infolink-Forum von „Mbibleres" [Michael Bruder] am Dienstag, den 26. September, 2000, unter dem Pseudonym "Theologe Frank" veröffentlicht. (Unterstreichung und Fettdruck von mir.)
Damit weiß jeder Leser sofort, daß ich kein Theologe akademischen Grades bin, sondern daß es sich lediglich um ein Pseudonym handelt.
Nur ganz nebenbei bemerkt:
Günter Bleckmann hat behauptet, daß sich nur deshalb jemand für meine Inhalte und Beiträge interessieren würde, weil ich mir im Internet den Titel „Theologe Frank" angemaßt hätte. Wie man aber oben sehen kann, ist beim Webmaster mein Beitrag auf großes Interesse gestoßen, obwohl er wußte, daß „Theologe Frank" nicht als Titel, sondern lediglich als Pseudonym gebraucht wurde und die Leser seiner Homepage auch darauf hingewiesen hat (Siehe Zitat oben). Ich kann Euch versichern, daß ich nicht auf Titel angewiesen bin, um meinen Argumenten Gewicht zu verleihen. Und diese Argumente haben auch ihre Wirkung nicht verfehlt. Das kann man schon daran erkennen, daß meine Beiträge wohl auch Euch „beeindruckt" haben, ansonsten wäre es nicht zu einer Komiteeverhandlung gekommen. Offensichtlich ist man also um meine schriftlichen Abhandlungen sehr „besorgt". Überdies habe ich auch rein biblische Abhandlungen geschrieben. Ich bin des öfteren gefragt worden, ob ein Beitrag von mir in Zeitschriften oder elektronischen Medien veröffentlicht werden darf. Selbstverständlich habe ich zugestimmt. Daß man entgegen Eurer Behauptung nicht auf Titel angewiesen sein muß, um „für voll genommen" zu werden, beweist der Autor Werner Keller des Buches Und die Bibel hat doch recht, der sich in seinem Vorwort auf der S. 5 als „Nicht-Theologe" bezeichnet. Offensichtlich ist aber z.B. der Sprecher der Wachtturm-Gesellschaft Bernd Klar, der sich noch kürzlich in einer Diskussionssendung im Fernsehen, B.TV Talk genannt, mit dem Weltanschauungsbeauftragten der evang. Kirche Dr. Jan Badewin über die Zeugen Jehovas auseinander gesetzt hat, auf Titel angewiesen, denn er hätte sich offensichtlich überfordert gefühlt, wenn er nicht Prof. Gerhard Besier, Theologe an der Universität Heidelberg, an seiner Seite gehabt hätte, um zusammen mit ihm gegen Dr. Jan Badewin anzutreten. Ich schreibe dies nur, weil ich Euch davor warne, mich geistig zu unterschätzen und für dumm zu halten. Schon meine Bibelkenntnisse während der Anhörung sollten Euch eigentlich überrascht und beeindruckt haben. Zumindest wart Ihr an einigen Stellen merklich unangenehm überrascht. Das habe ich daran erkannt, daß Ihr entweder geschwiegen oder sofort das Thema gewechselt habt, sobald ich die Aufmerksamkeit auf die Bibel gelenkt habe (Du erinnerst Dich sicherlich noch, Bruder Reuland, als ich Dich (auswendig!) auf 1. Joh. 2:18 mit dem „Antichristen" aufmerksam gemacht habe, ohne daß ich mir den Vers überhaupt ansehen mußte. Du mußtest Dir den Vers mindestens zweimal ansehen, weil Du nicht drauf vorbereitet warst. Eingegangen warst Du jedoch auf diesen Vers nicht. Das ist aber die Folge, wenn man sich immer nur einzelne Verse herauspickt, anstatt den Kontext zu berücksichtigen). Überrascht wart Ihr auch, als ich Euch gesagt habe, daß die Zeugen Jehovas in Österreich den Körperschaftsstatus nicht erhalten haben. Da aber im Sinne Jehovas (korrekter: Jahwe) immer nur die ganze Organisation ? und nicht nur ein Teil davon ? siegen kann, wäre es natürlich absurd zu glauben, Jehova hätte etwas gegen Österreicher.
Weiter bestreite ich, daß ich eine eigene Website unterhalte. Mehrmals habt Ihr versucht, mir dies zu unterstellen. Dies möchte ich aber mal auf einen Mangel an Internetkenntnisse Eurerseits zurückführen, denn solche Kenntnisse traue ich Euch wirklich nicht zu, und dem Bruder Reuland schon gar nicht, da er mir offenbarte, daß er gar kein Internet hat. Aber das ist ja zum Glück nicht das Hauptproblem. Ich komme nun zum Kern Eurer Vorwürfe.
Zeugen Jehovas und Körperschaftsstatus - Der Grund meines Schreibens v. 25.11.1999 an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sowie an den Anwalt des Berliner Senats Dr. Südhoff.
Seit meiner Kindheit ist mir von den Eltern durch die Organisation gelehrt worden, daß wir uns von der „Welt getrennt" (Joh. 17:14; Jak. 1:27) halten müssen, daß wir uns nicht in die Politik einmischen. Der Wachtturm hat gezeigt, daß die damaligen Christen aus Judäa in die Berge geflohen sind, weil sie dadurch zeigten, „daß sie kein Teil des jüdischen Systems waren, weder des politischen noch des religiösen". In einem weiteren Wachtturm hieß es einmal:
Wir sind weder in die Kriege noch in die Politik verwickelt, sondern absolut neutral.
In weiteren Veröffentlichungen heißt es noch:
Die Glieder dieser Klasse lernen wirklich, Jehova zu fürchten und auf ihn zu vertrauen. Sie möchten vor allem dem universellen Souverän, dem „König der Nationen", dienen und nicht den politischen Herrschern und Königen der von Menschen geschaffenen Regierungen.
Hat es sich nicht gezeigt, daß die einflußreichen Kirchen sich immer wieder den politischen Herrschern angepaßt haben, um Macht und materiellen Gewinn zu erlangen...?
Diese Ansicht hat die Wachtturm-Gesellschaft sinngemäß schon damals 1962 vor dem Bundesverfassungsgericht konsequent und ohne Kompromisse einzugehen vertreten. Als Beleg dafür zitiere ich das Urteil des BVerfGE, das unter dem Aktenzeichen 1BvR 498/62 auch für die Öffentlichkeit zugänglich bzw. einsehbar ist:
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie könne, die Körperschaftsrechte jederzeit erlangen, lehne es nur aus Gründen des Glaubens und ihrer religiösen Überzeugung ab, einen entsprechenden Antrag zu stellen, der die Verleihung der Körperschaftsrechte und damit die Umsatzsteuerfreiheit zur Folge habe. ... Im Gegensatz zu ihrem Vorbringen in der Verfassungsbeschwerde, ihre Glaubensauffassung lasse es nicht zu, daß sie „bei einer weltlichen Instanz um die Verleihung eines Status nachsucht, der ihr Rechte gewährt, die die christliche Versammlung seit ihrem Beginn von Gott verliehen erhielt", hat die Beschwerdeführerin sich im Jahre 1921 vom Reichsrat den Status eines eingetragenen Vereins ausdrücklich anerkennen lassen.
Offensichtlich ist die Gesellschaft aber nun dazu bereit, althergebrachte eigene Prinzipien wie „Glaubensgründe", „religiöse Überzeugungen" und „Glaubensauffassungen" über Bord zu werfen. Wurden ihr nun diese Rechte seit ihrem Beginn von Gott verliehen oder nicht? Davon ist sie offensichtlich nicht mehr überzeugt. Sie war es aber noch damals 1962, denn zu jener Zeit war sie wohl noch nicht bereit, „bei einer weltlichen Instanz um die Verleihung eines Status [nachzusuchen]". Sicherlich wohl deshalb, weil sie dadurch befürchtete, ein „weltlich rechtliches Kleid" zu erhalten. Denn daß es sich bei den Körperschaftsstatus um eine weltliche Rechtsfigur handelt, durch den die betreffende Religionsgemeinschaft – um es mit den Worten der Literatur des Staatskirchenrechts zu formulieren – ein „weltlich rechtliches Kleid" erhält (Prof. Dr. Campenhausen, Staatskirchenrecht), liegt auf der Hand.
Hat man damals noch die Zusammenarbeit mit einem Staat abgelehnt (außer daß man ihm „untertan" blieb), so ist die Gesellschaft heute doch dazu bereit, dieses von Campenhausen so formulierte „weltlich rechtliche Kleid" anzuziehen, um genauso wie die anderen „falschen Religionen", mit dem Staat zusammenarbeiten und an einem gemeinsamen Tisch sitzen zu können:
Art. 137 Abs. 5 WRV [bringt] die gemäßigte, freundliche Trennung von Staat und Kirche, die beider Zusammenarbeit ermöglicht und fördert, zum Ausdruck."
Die WTG versucht jedoch, dem ahnungslosen Zeugen einen strikten (laizistischen!) Trennungsgedanken anzudichten, um die Vorstellung an einer wie auch immer gearteten Nähe zum Staat erst gar nicht aufkommen zu lassen. Das könnte nämlich zu einer Flut ihr nicht genehmer Anfragen führen. Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas vermeidet somit tunlichst, die differenzierte, staatskirchenrechtliche Betrachtung über die Bedeutung des Körperschaftsstatus ihren Mitgliedern näherzubringen, wie sie in der Litaratur des Staatskirchenrechts erörtert wird.
Was immer auch die August-Ausgabe des Wachtturms plausibel zu machen versucht, eines steht fest: die organisatorische Trennung und die Zusammenarbeit mit dem Staat stehen nebeneinander, d.h., daß Staat und Kirche bzw. Staat und Religionsgemeinschaften lediglich organisatorisch, nicht jedoch in laizistischem (radikalem) Sinne getrennt sind, was zur Folge hätte, daß die Kirchen in ihrer Autonomie stark eingeschränkt wären. Der Körperschaftsstatus soll aber im Gegenteil die Religionsgemeinschaften in das öffentliche Leben einbinden ? und das erfordert ein sich Einlassen mit dem Staat. Der Körperschaftsstatus ist auf Kooperation angelegt, nicht an eine grundsätzliche Trennung in jeder Hinsicht. (Siehe hierzu auch Fußnote Nr. 17).
Wenn auch die Kirchen rein rechtlich vom Staat getrennt sind, so erfordert aber dieser Status dennoch eine bilaterale Zusammenarbeit und damit auch eine gewisse „Nähe" zu ihm. Wie es im Wachtturm auch weiter heißen wird, müssen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts noch offene Fragen geprüft werden, und das Verfahren wurde deshalb an untere Instanzen zurückverwiesen. Die Gründe, die geprüft werden müssen und die der Wachtturm nicht erwähnt, habe ich weiter unten auf der S. 7 beschrieben (Siehe hierzu auch die Urteile des BVerfGE und des BVerwGE, wo diese Gründe erläutert werden). Warum erwähnt denn der Wachtturm nicht, um welche „offenen Fragen", die bei den „unteren Instanzen geprüft" werden müssen, es sich handelt?
Den politischen Kurs, den die Gesellschaft eingeschlagen hat, bringt mich aufgrund ihres früheren Selbstverständnisses im Jahr 1962 in ein Dilemma: Einerseits müßte ich aus der Sicht des „treuen und verständigen Sklaven" (Mat. 24:45) eine Kirche oder Organisation verlassen, die die Nähe zum vom Wachtturm so bezeichneten „System Satans" sucht. Denn seit Jahrzehnten haben wir den Menschen gepredigt, sie sollten ihre eigene Religion kritisch überprüfen, um festzustellen, ob sie mit den politischen Systemen gemeinsame Sache machen, sozusagen mit dem Staat an einem Tisch sitzen. Dann wäre diese Religion ein Teil des Systems Satans. Der Wachtturm hat des öfteren den Staat als Handlanger Satans bezeichnet (Siehe auch hier wieder meine Zitate in den Briefen an das BVerfGE und an den Anwalt des Berliner Senats Prof. Südhoff). Aufgrund der Tatsache, daß sich die Religionen mit dem Staat verbündet haben, wurde in den Wachtturm-Schriften dann immer wieder aufgefordert:
„Geht aus ihr hinaus, mein Volk, wenn ihr nicht mit ihr teilhaben wollt an ihren Sünden und wenn ihr nicht einen Teil ihrer Plagen empfangen wollt. Denn ihre Sünden haben sich aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Taten der Ungerechtigkeit gedacht.
Andererseits kann ich die Organisation der Zeugen Jehovas nicht verlassen, da mir sonst Verachtung, Meidung meiner Person und das menschenverachtende Vorenthalten eines einfachen Grußes entgegenschlägt. Prof. Dr. Christoph Link, Lehrstuhl für Kirchen-, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Erlangen, beschreibt die Folgen einer Exkommunikation bei den Zeugen Jehovas:
Das zentrale Disziplinierungsinstrument bildet insoweit der sog. „Gemeinschaftsentzug". Er ist nicht mit der Exkommunikation in der katholischen Kirche gemäß can. 1331 CIC 1983 vergleichbar, ja geht weit über die kirchenrechtlichen Folgen selbst des mittelalterlichen großen Banns hinaus. Er bedingt praktisch eine totale Kontaktsperre, die bis in die Familien hineinreicht ... Um die Wirksamkeit dieser Sanktion zu verstehen, muß man bedenken, daß mit der Zugehörigkeit zur Organisation die Verbindungen zur gesellschaftlichen Außenwelt praktisch weitgehend gekappt werden; Kontakte mit Außenstehenden sind ¾ außer in missionarischer Absicht ¾ verpönt, da die Loyalität gegenüber „dem souveränen Herrn Jehova und seinem König ‚Jesus Christus’" ein Getrennthalten von der „Welt" einschließt.
„Gemeinschaftsentzug" bedeutet deshalb das Fallen in eine nahezu vollständige soziale Isolation, die von den Betroffenen als Katastrophe und lebensbedrohende Existenzkrise empfunden wird. Dies um so mehr, als damit zugleich die familiären Kontakte zerstört werden. Dementsprechend bestimmend sind die Ängste vor und dementsprechend wirksam ist das Drohpotential einer solchen Sanktion. In der Beschreibung dessen stimmen alle „Aussteiger"-Berichte mit wissenschaftlich-psychologischen Untersuchungen überein.
Die an sich natürlich zutreffende Feststellung des OVG Berlin, jedem religionsmündigen Bürger bleibe die Möglichkeit, seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft jederzeit zu beenden, beschreibt daher in derartigen Fällen zwar die rechtliche Situation, nicht aber die soziale Wirklichkeit.
Die soziale Wirklichkeit (die von Euch abgewertet wurde!) hat Prof. Link oben in den ersten beiden Absätzen beschrieben. Bei den übereinstimmenden „Aussteiger"-Berichten" handelt es sich um die vom BVerwGE den nachgeordneten Instanzen auferlegte Anfertigung einer „typisierenden Gesamtbetrachtung" und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände, die für die Entscheidung über den Körperschaftsstatus von Bedeutung sind.
Wie auch die FRANKFURTER ALLGEMEINE v. 19. Mai 2001 unter dem Thema „Jehovas Zeugen auf dem Prüfstand" bestätigte, „muß [sich das OVG] also umfassend mit dem tatsächlichen Verhalten der Zeugen Jehovas befassen und Tatsachen zusammentragen, wie sie ihre Kinder erziehen und mit den Rechten Dritter umgehen."
In der Anhörung hattet Ihr mehrmals versucht, mir zu unterstellen, ich würde behaupten, daß die Organisation die Grundrechte der Mitglieder verletze. In Wahrheit habe ich Euch lediglich mitgeteilt, daß den Zeugen Jehovas nicht deshalb der Körperschaftsstatus verwehrt wurde, weil sie Grundrechte verletzen würden, sondern weil, wie oben erwähnt, die nachgeordneten Gerichte zunächst eben genau dies feststellen müssen. Dazu gehört das Verhalten gegenüber Ausgeschlossenen sowie Erziehungspraktiken (Siehe auch hier das Urteil des BVerwGE). Das Gericht wird hier nicht Einzelfälle überprüfen. Auch wenn ein Kind gelegentlich geschlagen wird, ist dies für das Gericht gegenstandslos, da ähnliche Erziehungspraktiken auch bei Außenstehenden anzutreffen sind. Es überprüft lediglich, ob die oben beschriebenen Situationen unter Zeugen Jehovas das Gesamtbild dieser Gemeinschaft prägen, daher der vom BVerfGE verwendete Ausdruck „typisierende Gesamtbetrachtung". Es wird also festgestellt, ob sowohl Aussteiger als auch nicht ausgeschlossene Zeugen Jehovas unabhängig voneinander dem Gericht einheitliche Berichte und Schilderungen vorlegen. Nur dies - und nichts anderes - wird die Grundlage für die Entscheidung des Gerichts sein. Das BVerfGE hat lediglich ein Grundsatzurteil gefällt, wonach die Verleihung des Körperschaftsstatus weder von der Staatstreue noch von der religiösen Auffassung einer Religionsgemeinschaft abhängig gemacht werden darf. Hierin hatte die Gesellschaft Erfolg. Aber auch andere Religionsgemeinschaften, die diesen Status noch nicht haben, profitieren von diesem Urteil. Indirekt hat die Gesellschaft also auch gleichzeitig für andere Religionen, die zu „Babylon der Großen" gehören, gekämpft. Somit wurde nicht nur zugunsten der Zeugen Jehovas entschieden. Da das OVerwG nun darin noch einen Klärungsbedarf hat, ob die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter verletzt werden, wurde die Streitsache vom BVerfGE an diese nachgeordnete Instanz zurückverwiesen mit der Aufgabe, eine Würdigung „im Wege einer typisierenden Gesamtbetrachtung" vorzunehmen" (BVerfGE, 19. Dezember 2000). Daher bestreite ich, auch in diesem Punkt eine Verleumdung gegenüber der Organisation begangen zu haben. Ich habe nie behauptet, Zeugen Jehovas würden die Grundrechte Dritter verletzen. Ich habe lediglich gesagt, daß dies die Gerichte noch prüfen müssen.
Weder in meinen Briefen noch im Internet wird mit keinem Wort die Organisation verleumdet oder verunglimpft. In der Anhörung ist mir dies auch nicht nachgewiesen worden. Ich habe lediglich Punkte aufgeführt, die gegen das eigene Selbstverständnis der Wachtturm-Gesellschaft (1962) sprechen und ich persönlich daher die Verleihung des Körperschaftsstatus weder mit biblischen Grundsätzen noch mit der eigenen „Selbstdarstellung der Religionsgemeinschaft" für vereinbar halte. Es handelt sich hier auch nicht um eine biblische oder theologische Lehränderung, die aufgrund „helleren Lichts" von oben vorgenommen wurde, sondern um eine Wachtturm-politische Kursänderung. Dieser Kurs steht im Gegensatz zu Ihrer damaligen religiösen Auffassung. Daß die Körperschaftsrechte 1962 von der Wachtturm-Gesellschaft abgelehnt wurde, war aber noch religiös motiviert. Aus diesem Grund sollte eigentlich auch heute aus der Sicht der Wachtturm-Gesellschaft das Begehren dieses Status biblisch nicht gerechtfertigt sein, da sie es ja ist, die damals vom biblischen Standpunkt ausgegangen war. Jesus hatte auch nicht beim Imperator (bzw. Kaiser) angeklopft und um Rechte und Vorteile gebeten, noch hat er sich darüber beklagt, er sei im Gegensatz zu den religiösen Bewegungen innerhalb und außerhalb des Judentums seiner Zeit in irgendwelchen Punkten benachteiligt. Dies ist jedoch genau das, worüber sich die Wachtturm-Gesellschaft, die beansprucht, eine Verbindung zum ursprünglichen Christentum zu haben, heute beklagt. Vergleicht man dies mit dem ursprünglichen Christentum, dann fällt auf, daß die Gesellschaft nun ganz neue Töne anschlägt. Schon 1996 sagte der Vizepräsident Bruder Pohl aus Selters:
Pohl fordert Gleichbehandlung: „In Berlin haben bereits dreißig religiöse Gruppierungen den öffentlich-rechtlichen Status [darunter Mormonen, Adventisten, Baptisten und die Neuapostolische Kirche, d. Red.]. Wir wären also nur die Nummer 31. ... Wir sehen nicht ein, warum wir eine Religionsgemeinschaft minderer Qualität sein sollen, die in den Medien als unerwünscht, gefährlich und destruktiv dargestellt werden darf.
Das hatte mich überrascht. Ist uns in den Zeitschriften nicht immer gesagt worden, es würde deshalb so negativ über uns berichtet, weil wir aufgrund der Tatsache, daß wir die „Wahrheit" haben, „Gegenstand des Hasses aller Nationen werden" würden? (Mat. 10:22; 24:9; Mark 13:13; Luk 21:17.) Warum überrascht auf einmal die Wachtturm-Gesellschaft diese feindselige Einstellung der „bösen Welt" ihr gegenüber? Warum möchte sie es auf einmal „nicht mehr einsehen," daß sie „Gegenstand des Hasses" ist und infolgedessen natürlich negativ von ihr berichtet wird? Das plötzlich angekratzte Selbstbewußtsein aufgrund der „minderen Qualität" und „nur die Nummer 31" zu sein, wie Pohl es ausdrückt, überrascht noch mehr, handelt es sich doch gerade um eben diese Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, die Christus damals als „so tuend" (Mat. 24:46) vorgefunden hat und deshalb die einzig wahre Religionsgemeinschaft ist. Woher also auf einmal diese Minderwertigkeitskomplexe? Man will sogar die Nr. 1 sein! Ich dachte, die Wachtturm-Gesellschaft wäre unter den anderen der Vernichtung geweihten „falschen Religionen" schon von Anfang an die Nummer 1 gewesen und deshalb auch als „treuer und verständiger Sklave" oder zumindest dessen Vertreter auserwählt worden!
Wem versucht denn die Gesellschaft nun plötzlich zu gefallen, Menschen oder Christus? Diese Einstellung teilte Paulus aber nicht, sondern sagte:
10 Versuche ich jetzt tatsächlich, Menschen zu überreden oder Gott? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefiele, wäre ich nicht Christi Sklave.
Daß also die Wachtturm-Gesellschaft das Gefühl hat, bei Menschen ins Hintertreffen geraten zu sein, ist doch sicherlich angesichts dessen, was der Vorsitzende, Bruder Reuland, mir in der Anhörung sagte, ganz bestimmt unbegründet. Er sagte nämlich: „Wenn Gott will, daß dieses Werk bestehen bleibt, wird es bestehen bleiben." Das ist aber zunächst nur die Spitze des Eisbergs. Bruder Pohl hatte noch andere Gründe, die das Begehren des Körperschaftsstatus rechtfertigen sollen:
Wenn wir als Kirche anerkannt werden, müssen wir uns von den Medien nicht mehr alles gefallen lassen.
Abgesehen davon, daß das Wort „Kirche", das ja an „Babylon die Große" erinnert, für die Wachtturm-Gesellschaft jahrzehntelang ein Fremdwort war, außer, wenn sich ihre Kritik an eben diese Kirchen richtete, frage ich mich nun, ob unser „Kampf nun gegen Fleisch und Blut (d. h. den Medien) geht, um sich "nicht mehr alles gefallen zu lassen", oder „gegen die bösen Geistermächte in den himmlischen Örtern"? (Eph. 6:12.) Wie soll denn die „geistige Waffenrüstung", die ja die einzige ist, die wir als wahre Christen haben, gegen die bösen (fleischlichen!) Medien etwas ausrichten können? Was mußte sich im Gegensatz dazu Jesus alles gefallen lassen: Er wurde verleumdet, geschlagen, getreten und angespuckt, als Säufer und Schlemmerer bezeichnet (Mat. 11:19), ohne sich auch nur einmal beim „Cäsar" wegen Verleumdung oder Körperverletzung zu beklagen. Nun, sein Reich war eben nicht von dieser Welt.
Es scheint, daß die Wachtturm-Gesellschaft auf eine religiöse Auffassung beharrt, solange eine Situation günstig ist und sich nicht ändert. Ist die Situation plötzlich eine andere, verwirft sie ihre „biblisch begründete Auffassung" und interpretiert die „Wahrheit" wieder um. Von Kompromißlosigkeit insbesondere in Bezug auf politischem Boden kann hier keine Rede mehr sein. Nichts anderes wollte ich in meinen Briefen damit zum Ausdruck bringen. Da dies nun einmal, wie oben anhand von Zitaten und Verweisen bewiesen wurde, die Wahrheit ist, ist der Vorwurf der Verleumdung mir gegenüber eine ungerechtfertigte Unterstellung, die an Maßlosigkeit grenzt.
Im übrigen muß ich dazu sagen, daß ich mich mit mehreren Brüdern und Schwestern - ich könnte Namen nennen, tue es aber nicht - „unterredet" habe, die mit dem neuen Kurs der Gesellschaft überhaupt nicht einverstanden sind. Diese trauen sich nur nicht wie ich, dies offen und ehrlich auszusprechen, da ihnen sonst der Gemeinschaftsentzug genauso droht, wie nun mir. Da nutzt es mir auch nichts, wenn ich Euch sage, ich wolle Zeuge Jehovas bleiben, nur weil Ihr erst dann mit mir studieren dürft, um meine Fragen zu beantworten und die Dinge „richtigzustellen". Könntet Ihr, würdet Ihr tatsächlich mit mir studieren, die obigen Widersprüche wirklich auflösen? Wie würdet Ihr solche Punkte einer außenstehenden Person oder einem Wohnungsinhaber erklären, der nie Zeuge Jehovas war und sich ernsthaft mit diesem Fall auseinandergesetzt hat? Dies würde sowohl umfangreiche Kenntnisse über die über 100jährige Geschichte der Wachtturm-Organisation als auch eine gehörige Portion an Logik und Ehrlichkeit in Eurer Argumentationsführung erfordern. Denn wenn diese Widersprüche von Euch nicht aufgelöst werden können, zieht dies zwangsläufig weitere ungeklärte Fragen nach sich, die letztendlich an die Legitimation des „treuen und verständigen Sklaven" (Mat. 24:45, 46) rütteln. Bevor all dies nicht geklärt ist, macht schon die Frage, ob ich Zeuge Jehovas bleiben möchte oder nicht, keinen Sinn. Unter einem „echten" Zeugen Jehovas verstehe ich aber etwas anderes.
Möchte ich ein Zeuge Jehovas bleiben?
Meine Briefe haben Euch in der Anhörung zur Frage veranlaßt, ob ich ein Zeuge Jehovas bleiben wolle oder nicht. Mein Antwort darauf war eine rein biblische:
So kam es, daß sie ein ganzes Jahr lang mit ihnen in der Versammlung zusammenkamen und eine beträchtliche Volksmenge lehrten, und es war zuerst in Antiochia, daß die Jünger durch göttliche Vorsehung Christen genannt wurden.
Eure einzige „logische" Argumentation war Jesaja 43:10-12. Aber dort geht es lediglich darum, daß Jehova es war, der Israel beschützt und gerettet hat, und kein anderer Gott (Vers 10-11). Das ist es, was Einige (Vers 9), die sich unter den Israeliten befanden, bezeugen sollten, und zwar weil das Volk gemäß Jes. 43:8 blind und taub war für seine Rettungstaten, die er in 43:2-6 beschreibt. Nirgendwo im Alten Testament wird uns aber mitgeteilt, daß die Israeliten deshalb nun den Namen „Jehovas Zeugen" als Titel tragen sollten. Ihr habt nichts zur Aufklärung dazu beigetragen, wie denn nun Apg. 11:26 zu verstehen ist oder wie die Spannung zwischen Jes. 43:12 und Apg. 11:26 aufgelöst werden kann. Die Spannung (oder die anscheinende Inkonsistenz zwischen beiden Versen (Zeugen Jehovas versus Christen) kann doch, wenn man logisch denkt, nur dadurch aufgelöst werden, indem man einfach anerkennt, daß es göttliche Vorsehung war, daß die Jünger zuerst in Antiochia Christen genannt wurden. Wie auch aus Apg. 26:28 und 1. Petr. 4:16 hervorgeht, haben die Jünger diesen Namen selbst für sich gebraucht. Insbesondere in 1. Petr. 4:16 heißt es ja: „[Leidet er] aber als Christ, so schäme er sich nicht, sondern er verherrliche Gott weiterhin in diesem Namen." (Kursiv von mir.) Dort werden wird aufgefordert, Gott im Namen Christi - nicht im Namen Gottes - zu verherrlichen. Das Demonstrativpronomen „diesem" in 1. Petr. 4:16 weist nämlich zurück auf den Namen „Christ". Das kommt in der Neuen Jerusalemer Bibel noch etwas deutlicher zum Ausdruck:
Wenn er aber leidet, weil er Christ ist, dann soll er sich nicht schämen, sondern Gott verherrlichen, indem er sich zu diesem Namen [Christ] bekennt"
Interessanterweise wird in der gleichen Übersetzung in einem Querverweis wieder auf Apg. 11:26, wo die Jünger durch „göttliche Vorsehung Christen genannt" wurden, zurückverwiesen. Hier zeigt sich die innere Harmonie des Neuen Testaments, wenn es um die Namensgebung „Christ" geht.
Wenn es göttliche Vorsehung war, dann war und ist es auch für die Zukunft sein Wille, daß alle Jünger Christen genannt werden. Das ist sicherlich sehr passend, da Jesus es nun ist, durch den wir gerettet werden, so wie damals die Israeliten durch Jehova gerettet wurden. Diese Rettung durch Jesus aufgrund seines Loskaufsopfers gilt es nun, zu „bezeugen" und nicht die Rettung Jahwes (oder Jehovas) aus der ägyptischen Knechtschaft. Diese Rettung ist Israel widerfahren, nicht uns. Natürlich kann jemand, der durch „göttliche Vorsehung" Christ genannt wird, gleichzeitig auch als Zeuge für Jehova betrachtet werden, denn Jesus sagte:
8 Philippus sprach zu ihm: „Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns." 9 Jesus sprach zu ihm: „So lange Zeit bin ich bei euch gewesen, und dennoch hast du mich nicht kennengelernt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat [auch] den Vater gesehen. Wie kommt es, daß du sagst: ‚Zeige uns den Vater.‘?
Da ich Euch ausdrücklich gesagt habe, daß ich mich in Übereinstimmung mit Apg. 11:26 als Christ bezeichne, erübrigt sich die Frage, ob ich ein Zeuge Jehovas bleiben möchte. Weder im Mustergebet noch oben in Joh. 14:8-9 hat Jesus Philippus erst etwas über den Namen Gottes belehren und zeigen müssen, was der Name bedeutet und wer dieser Gott ist. Im Gegenteil, Jesus warf Philippus vor, ihn aufgefordert zu haben, „den Vater zu zeigen". Dies, so Philippus, würde „genügen". Es „genügte" aber nicht. Das war nämlich antichristliches Denken und ein Zurückfallen in den Monotheismus. Jesus zeigt in Vers 9, daß es aber auf jeden Fall „genügt", ihn zu kennen. Er legte Wert darauf, daß man nur ihn kennenlernt, weil man damit auch gleichzeitig seinen Vater, Jehova, kennt, denn wer Jesus „gesehen hat, hat [auch] den Vater gesehen". Da er „der Widerschein seiner Herrlichkeit und der genaue Abdruck seines Wesens selbst" ist (Hebr. 1:3), ist es sicherlich angebracht, hier „auf den großen Lehrer [zu] hören" und Jehova nur durch Jesus kennenzulernen, denn auf diese Weise würde man Jesus zuerst die Ehre geben, weil man erst dadurch auch seinen Vater ehren würde:
Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.
Die Rangfolge lautet ja nicht: „Wer den Vater nicht ehrt, ehrt den Sohn nicht", sondern umgekehrt. Da wir als Christen in Übereinstimmung mit Gottes Willen leben möchten, wäre es sicherlich angebracht, diesem Willen Folge zu leisten und zuerst dem Sohn die Ehre zu geben, nur dann würde man auch den Vater ehren.
Wenn ich mich daher als Christ bezeichne, dann doch deshalb, weil ich in Übereinstimmung mit Joh. 14:8-9 durch Jesus Christus den Vater kennengelernt habe. In den Zeitschriften der Wachtturm und Erwachet! wird wiederholt darauf hingewiesen, daß wir Nachfolger Christi sein sollten. Und ein Christ ist, wie schon der Name sagt, ein Nachfolger Christi. Warum sich also einen Namen geben, der nicht einmal von Christus zeugt?
Die eindeutigste Erklärung darüber, ob nun jemand, der sich als Christ betrachtet, verpflichtet ist, einen besonderen „unverwechselbaren" Namen anzunehmen, der sich angeblich von anderen Christen unterscheidet oder sich einfach nur „Christ" nennen soll, findet sich wahrscheinlich in Apg. 1:8, wo über die Identität eines Christen kein Zweifel aufkommt:
Ihr werdet Zeugen von mir sein sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis zum entferntesten Teil der Erde.
Als ich beim Verhör diese Stelle zitierte, habt Ihr mir gesagt, Zeugen von ihm zu sein galt nur solange, wie er auf der Erde war. Jesus sprach jedoch von der Zukunft: „Ihr werdet Zeugen von mir sein..." Auch nach seiner Himmelfahrt würden sie also Zeugnis von ihm ablegen. Außerdem sagte Jesus im gleichen Vers, daß sie nicht nur „in ganz Judäa und Samaria Zeugen von ihm sein würden, sondern auch „bis zum entferntesten Teil der Erde." Die Missionsreisen des Paulus und auch der anderen Apostel beschränkten sich jedoch nur auf das damalige Römische Reich im 1. Jh. Bis zum „entferntesten Teil der Erde" erfordert jedoch eine wesentlich größere Zeitspanne seit seines irdischen Daseins und auch ein umfassenderes Zeugniswerk. Damit habt Ihr auch dem Wachtturm widersprochen, denn meine obigen Erläuterungen werden im Wachtturm bestätigt:
Jesus sagte vor seiner Himmelfahrt zu seinen Jüngern: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der heilige Geist auf euch gekommen ist, und ihr werdet Zeugen von mir sein sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis zum entferntesten Teil der Erde." (Apostelgeschichte 1:8.)
Den Worten Jesu entsprechend verrichten Jehovas Zeugen dieses Werk heute weltweit in 233 Ländern und Inselgebieten.
Wie man sieht, bezieht der Wachtturm die Worte Jesus auch auf die heutige Zeit. Entgegen Eurer Behauptung galten Jesu Worte offensichtlich doch nicht nur für die Zeit, in der er auf der Erde war. Man beachte auch, daß Jesus sagte „ihr werdet Zeugen von mir sein". „Den Worten Jesu entsprechend" sind wir also auch heute noch seine Zeugen. Wenn also gemäß dem obigen Wachtturm, wo Apg. 1:8 zitiert und auf die heutige Zeit angewendet wird, der Grundsatz auch heute noch zutrifft, daß „den Worten Jesu entsprechend" Jehovas Zeugen dieses Werk heute weltweit verrichten, dann trifft konsequenterweise auch heute noch der Grundsatz zu, „Zeugen von [ihm] sein", denn diese Worte Jesu werden im gleichen Atemzug im gleichen Vers erwähnt.
Ob nun jemand ein wahrer Christ (oder meinetwegen ein wahrer Zeuge Jehovas) ist, kann natürlich nur Gott, „der das Herz aller kennt" (Apg. 1:24), beurteilen. Nicht nur Zeugen Jehovas betrachten sich als Christen. Das tun auch andere Religionsgemeinschaften, so z. B. Katholiken, Orthodoxe, Marianische Kongregation, Lutheraner, Methodisten, Baptisten, Kirche Christi, Kirche Gottes, Mennoniten, Gesellschaft der Freunde, Pfingstgemeinde, Neuapostolische Kirche usw. Daß unter ihnen nicht alle wahre „Christen" sind, die diesen Namen tragen, liegt auf der Hand. Jesus Christus warnte in seinem Gleichnis vom Weizen und Unkraut vor dem Abfall. Der Apostel Paulus, den man als einen „Christen" kannte, sprach diese Warnung in seinen Schriften gleichfalls aus. In der Offenbarung legte der Apostel Johannes offen dar, welcher unreine Zustand in seinen Tagen schon in einigen Versammlungen herrschte. Man war sich völlig darüber im klaren, daß es viele falsche Christen geben würde. Doch weder ein Prophet im Alten Testament, noch Christus, noch Paulus oder Johannes oder ein anderer Bibelschreiber wies darauf hin, daß ein anderer Name in dieser Lage Klarheit schaffen könnte. Nicht durch einen anderen Namen - das wäre nur ein neues Etikett -, sondern durch den Lebenswandel würde sich echtes Christentum zeigen; das Festhalten an der Wahrheit, wie sie in den Lehren Christi, der Apostel und Jünger zum Ausdruck kommt, wäre das einzig wirklich Unterscheidende.
Wenn die Engel Gottes den letzten Teil des Bildes im Gleichnis, das Einsammeln des Weizens aus dem Unkraut, ausführen, werden Etikette in Form von Namen, die sich Religionsgemeinschaften geben, mit Sicherheit keine Rolle spielen.
Nach dem oben dargelegten Erklärungen spielt es für mich daher auch keine Rolle, ob mich jemand „Zeuge Jehovas" oder einfach „nur" Christ nennt. Beides meint dasselbe, da wir zu Jehova ohnehin nur durch Christus kommen können. Wer Zeugnis von Christus ablegt (Apg. 1:8), legt auch Zeugnis von Jehova ab (Joh. 14:8-9). Er ist unser einziger Mittler und Hohepriester (1. Tim. 2:5; Hebr. 3:1; 4:14, 15; 5:10; 8:1). Daher habe ich keine Probleme damit, weiter Zeuge Jehovas genannt zu werden. Der Name „Jehovas Zeugen" darf aber nicht als „Firmenlogo" betrachtet werden, das wie ein Aushängeschild für wahres Christentum behandelt wird. Wir wissen beide, daß es eine „reine Organisation" nicht geben kann. Es wäre daher ein Mißbrauch des Namens Jehovas, den Namen „Jehovas Zeugen" als Synonym für „die reine Organisation" hinzustellen. Wie damals im 1. Jh. gibt es auch heute in einer Gemeinde oder Versammlung unwahre Christen. Und daran ändert auch kein besonderer Name nichts, den sich eine Religionsgemeinschaft gibt. Der Name „Jehovas Zeugen" ist nur rein rechtlich erforderlich, weil es eben so viele Religionsgemeinschaften in Deutschland gibt und der Staat in der Lage sein muß, zwischen diesen zu unterscheiden. Es sind ja beispielsweise nicht irgendwelche Christen, die den Körperschaftsstatus besitzen, sondern die Katholische Kirche oder die Religionsgemeinschaft der Mormonen. Es sind nicht irgendwelche Christen, die um diesen Status kämpfen, sondern gemäß der jetzt neuen rechtlichen Namensgebung die „Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas" (vor kurzem noch „Wachtturm-,Bibel- und Traktat-Gesellschaft") und auch andere Bewegungen, die diesen Status begehren.
Der Antichrist
19 Sie sind von uns ausgegangen, aber sie sind nicht von unserer Art gewesen; denn wenn sie von unserer Art gewesen wären, so wären sie bei uns geblieben. Aber [sie sind weggegangen,] damit offenbar gemacht werde, daß nicht alle von unserer Art sind.
Diese Schriftstelle ist so bekannt, daß sie mir gar nicht hätte vorgelesen werden brauchen. Das ist die Standard-Schriftstelle bei Komiteesitzungen oder Anhörungen, wenn jemand anscheinend gegen die Organisation intrigiert, mit einigen Lehren nicht einverstanden ist oder als „abtrünnig" bezeichnet wird. Der Vers 19 in 1. Joh. Kapitel 2 bezieht sich aber auf den Antichristen in Vers 18 und nicht auf Personen, welche die Organisation verlassen haben oder ausgeschlossen wurden. Liest man nämlich den Kontext des 2. Kapitels, dann wird klar, daß nur derjenige als „Antichrist" bezeichnet werden kann, der gemäß Vers 22 und 23 sowohl „den Sohn als auch den Vater leugnet". Nicht alle, die die Organisation verlassen, leugnen deshalb „den Sohn und den Vater". Dies wäre auch eine Unterstellung, da nur Gott das Herz aller kennt (Apg 1:24). Daß ich Christ bin, habt Ihr auch nicht in Frage gestellt. Wie Bruder Reuland mit eigenen Worten sagte, „möchte er es mir auch gar nicht absprechen." Damit trifft 1. Joh 2:19 auch nicht auf mich zu, da er sich ja auf den Vers 18 bezieht. Entweder ich bin ein Christ oder ein Antichrist. Da Ihr mich nicht gefragt habt, ob ich ein Christ, sondern „weiter ein Zeuge Jehovas bleiben möchte", scheint auch Eurerseits über mein Christsein kein Zweifel zu bestehen.
Wenn ich ausgeschlossen werden sollte, dann nicht deshalb, weil ich „von Euch ausgegangen bin", sondern weil ich „Christus bekenne":
Dennoch glaubten tatsächlich sogar viele von den Vorstehern an ihn [Jesus Christus], aber wegen der Pharisäer bekannten sie [ihn] nicht, um nicht aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden; 43 denn sie liebten die Ehre von Menschen mehr als selbst die Ehre von Gott.
Auch Saulus von Tarsus hatte eine Vorrangstellung inne, die zweifellos ebenso groß oder noch größer war als ihre. Er war aber dennoch bereit, seine Stellung in dem System, in dem er so machtvoll gewirkt hatte, zu verlieren und eine bedeutende geistliche Strömung in seinem Volk zu verlassen, um sich Leuten anzuschließen, deren einziges „großes" Ereignis eine Taufe von mehreren tausend Gläubigen am Beginn ihrer Geschichte war, bei denen sich aber im Laufe des weiteren Bestehens nichts Vergleichbares mehr ereignete. Sie hatten weder landesweite oder internationale Zusammenkünfte noch Bauprojekte, sie hatten praktisch nicht einmal eigene Gebäude für religiöse Zwecke; sie stellten nichts in größerem Maße her, legten keinen Wert auf zahlenmäßige Größe und hatten keine zentralistische oder dezentrale Verwaltung; das bezeugen sowohl Bibel wie auch Geschichte. In deutlichem Gegensatz zu dem Weg, den viele gehen, sagt Paulus:
Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen, oder geht es mir um Gott? Suche ich etwa Menschen zu gefallen? Wollte ich noch den Menschen gefallen, dann wäre ich kein Knecht Christi ... Als aber Gott, der mich [...] durch seine Gnade berufen hat, mir [...] seinen Sohn offenbarte [...], da zog ich keinen Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Von den anderen Aposteln habe ich keinen gesehen, nur Jakobus, den Bruder des Herrn. Was ich euch hier schreibe, Gott weiß, daß ich nicht lüge.
Paulus zählte mit Sicherheit nie zu den Personen, von denen Judas schreibt, daß sie „einflußreichen Personen Bewunderung zollen um des Vorteils willen." Innerhalb der Organisation sind solche Schmeicheleien und das Bemühen, auf Männer in Machtstellungen ¾ Glieder der Leitenden Körperschaft, Bezirksaufseher, Kreisaufseher, angesehene Brüder in „höheren Stellungen" aus dem Zweigbüro Selters ¾ Eindruck zu machen, allerdings auffällig üblich, und man kann die Sorge um Ansehen und Stellung in der Organisation oft direkt am Verhalten eines erheblichen Prozentsatzes Ältester und reisender Aufseher ablesen. Großenteils ist es dieses Bemühen um Stellungen, das der Organisation so viel Macht und Kontrolle gibt. Deswegen setzen Männer sogar Vorgehensweisen und Anordnungen durch, die sie selbst für falsch halten, um weiterhin in der Gunst der Organisation zu stehen. Sie tun dies auf Kosten ihrer Freiheit und moralischen Integrität.
Diese Beweggründe sind nicht nur auf Männer mit Erfolgen und Fähigkeiten in der Welt beschränkt. Sie treffen oft auch gleich stark auf Personen mit weit einfacherem Hintergrund und sogar auf Unterprivilegierte zu.
Die Art, wie die Wachtturm-Gesellschaft organisiert ist, kann Euch die Möglichkeit zu einem deutlichen Aufstieg im Sozialstatus bieten, wenn Ihr Eifer zeigt, die gesteckten Ziele der Organisation zu erreichen und Euch am Tätigkeitenprogramm beteiligt; allein die berichteten Stunden können das bewirken. Alles das kann den Weg dazu ebnen, schließlich Ältester und Vorsitzender zu werden. Ihr dürft ausgedehnte Ansprachen vor einem Auditorium von hundert oder mehr Menschen halten, wohingegen Ihr es ohne offizielle Stellung schwer hättet, ein Dutzend Leute für eine Zeitlang zum Zuhören zu bewegen. Wie diejenigen, deren Hintergrund eindrucksvoller ist, zögert Ihr vielleicht, etwas zu tun oder zu sagen, was den Status, den Ihr jetzt innehabt, gefährden könntet.
Und dann gibt es Personen unter Euch und in der Organisation im Allgemeinen, die viel Erfolg in der Berufswelt haben. Vielleicht möchten sie gerne dieselben Fähigkeiten, die ihnen in der Welt Erfolg brachten, in religiösem Kontext anwenden oder Geldbeträge spenden oder als Darlehen geben und so in den Genuß einer engeren, privilegierten Beziehung zu den Brüdern in „angeseheneren Stellungen" kommen. Die Wahrscheinlichkeit, auf diese Weise schneller mit einem Kreis-, Bezirksaufseher oder Personen aus dem Zweigbüro, die dort eine „privilegiertere" Stellung im gewaltigen Verwaltungsapparat bekleiden, in Verbindung und vielleicht dadurch auch noch einen „heißen Draht" nach Selters oder gar nach Brooklyn zu bekommen, ist sicherlich höher, als wenn man nur ein kleiner „Durchschnittsverkündiger" mit einem „durchschnittlichen" Stundendurchschnitt ist und eher mäßig als regelmäßig die Zusammenkünfte besucht.
Ich glaube, daß sich die Religion der Zeugen Jehovas auffallend gut dazu eignet, wenn jemand diese Neigung hat. Personen, die nur einen „einfachen" Beruf bekleiden, wo nicht allzu anspruchsvolle geistige, ja vielmehr körperliche Anstrengung abverlangt wird und in ihren Beruf seit Jahrzehnten in die gleiche Tretmühle treten und deshalb nicht weiter vorwärtskommen oder aufsteigen können, sind im allgemeinen der Organisation gegenüber „höriger" und loyaler, weil sie nur noch dort die Chance haben „nach oben zu kommen", sei es daß sie nun in eine „privilegiertere" Stellung als Vorsitzender in einer Versammlung dienen, Mitglied in einem Rechtskomitee sein „dürfen" oder andere besondere Aufgaben wie z. B. das Darreichen von Symbolen bei der Gedächtnismahlfeier, erhalten. Vor dieser Stellung als einfacher Verkündiger war ihr Einfluß eher unbedeutender denn zentraler Art. Die Aufmerksamkeit ihnen gegenüber war eher rein zufällig, weil man sich im Königreichssaal oder auf Kongressen irgendwie über den Weg gelaufen war. Haben solche Personen in der Versammlung nach jahrelangem Kampf nun eine gewisse „höhere" Stellung erreicht, dann wird ihnen auch endlich der Respekt und die Anerkennung von Brüdern erwiesen, den sie vorher in der Versammlung nicht unbedingt hatten. Dies ist auch ein Ersatz für die Art von Anerkennung, die sie am Arbeitsplatz nicht unbedingt genießen. Oft definieren sich solche Personen mehr über ihre Position innerhalb der Organisation als über ihre wichtigeren inneren Eigenschaften, die nicht unbedingt sofort ins Auge fallen. Eine angesehene Stellung innerhalb der Versammlung fällt da schon eher ins Auge.
Daß die Organisation Werke, Zunahme, große Zusammenkünfte, umfangreiche Projekte so in den Vordergrund stellt, schafft ein Milieu, in dem Personen mit Erfahrung und Präferenzen in der Verwaltungsarbeit glänzen können. Innerhalb einer größeren Religion wären sie wohl nur die sprichwörtlichen „Rädchen im Getriebe." Die Wachtturm-Organisation ist klein genug, daß sie in ihr beeindrucken und herausragen können, und doch groß genug, daß ein Aufstieg ihnen zusätzlich das Gefühl geben kann, persönlich wichtig zu sein. Ich denke, daß dies zusätzlich ein „Elite"-Denken schafft, das dadurch entsteht, indem zwischen dem durchschnittlichen, einfachen Verkündiger und Männer in höheren Verwaltungspositionen sowie Aufseher unterschieden wird. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß solche Personen respektvoller und besser behandelt werden sowie größere Gastfreundschaft erwiesen und ihnen im übertragenen Sinn eher „den ersten Platz" (3. Joh. 9) eingeräumt wird, als durchschnittlichen Zeugen Jehovas, die ja nun einmal nur die „Masse" der Organisation ausmachen und der Einzelne darunter deshalb kaum auffällt.
Als ich einmal in Dortmund aus einem guten Grund ins Kongreßbüro ging, konnte man in den unfreundlichen Gesichtern das Unverständnis darüber erkennen, was ich dort eigentlich „verloren" hätte, auch wenn es nicht ausgesprochen wurde. Bei einem Bruder, der hier in Dinslaken und auch in Selters bekannt ist und auch deshalb zur „Elite" gehört, weil er mal als Kreisaufseher (Bruder Becker) gedient hatte, konnte ich das besonders gut merken. Schon in das Kongreßbüro überhaupt hineinzugehen, hatte mir Unbehagen bereitet. Dieses Unbehagen wurde mir dann schließlich auch bestätigt. Vielleicht war ich ja auch schon zu nahe an der Presseabteilung, und das ist ja schon wieder ein „öffentlicher" Bereich, wo sich nur die Elite aufhalten darf. Bei einem anderen Bruder, den ich in Dortmund traf und ebenfalls zur „Elite" gehört ¾ Wir kennen ihn alle, den damaligen Chef von Mengede, Bruder Rudowitz ¾ traf das gleiche zu. Ich erkundigte mich bei ihm einmal nach dem Glied der leitenden Körperschaft Bruder Henschel, den ich damals in Wien persönlich kennengelernt hatte, und wollte wissen, in welchem Hotel er sich aufhält. In einer überheblichen Art gab er mir nur unfreundlich zu verstehen, daß er mir darüber keine Auskunft erteilen möchte. Offensichtlich war ich durch meine Frage zu sehr in die Nähe des „Heiligtums" getreten, den auch damals nur die Priester betreten durften. Das „Heilige" darf nicht angerührt werden. Ein einfacher Verkündiger sollte nicht unmittelbar mit einem Glied der leitenden Körperschaft in Verbindung treten. Das bleibt nur denen vorbehalten, die im Beruf an der Spitze stehen und dadurch auch in der Religionsgemeinschaft nach oben gekommen sind; oder man muß alternativ zumindest Kreis- oder Bezirksaufseher oder Pionier sein oder gewesen sein; dann gehört man zum „engeren Kreis" der Bevorzugten und bleibt auch darin, auch wenn man kein Kreisaufseher mehr ist. Als ich einmal in Dorsten einen Samstagmorgen einen Treffpunkt mitgemacht habe, traf ich Bruder Rudowitz. Dort empfand ich ihn wieder als sehr freundlich und natürlich. Daher habe ich den Eindruck, das einige Älteste nur dann überheblich werden, sobald sie sich im „privilegierten" Kreis befinden. Sobald sie wieder unter „normalen" Menschen (d.h. „Durchschnittsverkündiger") sind, sind sie auch ihrem natürlichen Charakter entsprechend wieder freundlich und unparteiisch. Das trifft aber leider nicht auf alle Älteste zu.
Interessanterweise habe ich damals mit Bruder Henschel bessere Erfahrungen gemacht. Als ich dort in Wien ins Kongreßbüro ging, weil ich ihn kennenlernen wollte, war ich dort sehr willkommen. Ich durfte Fotos machen und habe sie dann an Bruder Henschel zur Erinnerung an den Wiener Kongreß nach Brooklyn geschickt. Daraufhin habe ich von ihm ein längeres Dankesschreiben erhalten. Auch Bruder Pohl war mir gut gesonnen. Ich weiß nicht, ob er es deshalb war, weil ich auch bei Bruder Henschel willkommen war. Ich unterstelle ihm aber einfach mal, daß ich auch dann willkommen gewesen wäre, wenn Bruder Henschel nicht zugegen gewesen wäre, denn auch Bruder Pohl steht an der Spitze der Organisation.
Die gleiche schöne Erfahrung habe ich auch mit dem inzwischen 78jährigen Raymond Franz, ehemaliges Glied der leitenden Körperschaft und Neffe des inzwischen verstorbenen damaligen Präsidenten der Watch Tower Society, Bruder Frederick Franz, gemacht. Mit meinem Bruder war ich bei Raymond Franz eingeladen und flogen Dezember 1997 nach Atlanta (Georgia), um ihn und seine Frau dort zu besuchen. Beim gemeinsamen Essen hat er uns dann über seine Erfahrungen, die er als Zonenaufseher sowohl in Spanien als auch in der Dominikanischen Republik und danach 10 Jahre als Glied der leitenden Körperschaft gemacht hatte, berichtet. Seine etwa 15 Jahre jüngere Frau namens Cynthia, die ebenfalls dort beschäftigt war, konnte uns gleichfalls „interessante" Erfahrungen berichten. Auch heute noch stehen wir im telefonischen Kontakt. Jetzt machen wir wieder Pläne, ihn und seine Frau zu besuchen, da wir wieder eingeladen sind. Zahlreiche Kreisaufseher und Älteste stehen auch heute noch mit ihm in Kontakt. Dem ehemaligen Sekretär der leitenden Körperschaft, John Mitchell, konnten wir ebenfalls dort kennenlernen. Schade, daß wir auch seinen Onkel, Frederick Franz, nicht persönlich kennenlernen konnten.
Nein, es sind nicht die Glieder der leitenden Körperschaft oder andere Personen, die an der Spitze der Organisation stehen und die Führung ausmachen, die so überheblich und von sich so überzeugt sind; es sind vielmehr gerade oft solche, die noch nicht die letzte Stufe der Karriereleiter erklommen haben. Es sind diejenigen, die etwa die Hälfte oder dreiviertel davon geschafft haben und sich noch „beweisen" wollen. Ich denke, daß ich mit den oben beschriebenen Situationen nicht übertrieben habe. Ich glaube, daß dieser Geist in der ganzen Organisation vorherrscht, weil einige sich einbilden, aufgrund ihrer Nähe zu Selters oder Brooklyn „in der ersten Reihe" zu sitzen. Es sind aber gerade die, die zur Führung gehören, die am demütigsten sind. Oft lassen diese sogar mehr Barmherzigkeit walten, als irgendein Ältester oder Kreisaufseher.
Das Christentum sollte aber einfache Menschen ansprechen und ihnen das Gefühl geben, wertvoll zu sein, aber nicht auf der gerade geschilderten Grundlage, und das Gefühl eigenen Wertes sollte sich nicht an solchen von Menschen aufgestellten Maßstäben ausrichten.
Wenn Ihr ernsthaft darüber nachdenkt und ausnahmsweise einmal versucht, über den Tellerrand hinauszuschauen und ehrlich mit Euch selbst seid, müßtet Ihr eigentlich erkennen, daß die augenblickliche Wertschätzung, die Euch die Brüder oder auch Kreisaufseher entgegenbringen, im Grunde nur das Ergebnis Eurer Förderung der Ziele der Organisation ist und nicht Eurer Eigenschaften in geistiger Hinsicht. Ich bezweifle jedoch, daß Ihr ¾ zumindest in absehbarer Zeit ¾ diesen Weitblick haben werdet.
Es ist Euer Organisationsdenken, daß Euch gelegentlich Respekt, Anerkennung Lob, vielleicht auch Bewunderung, einbringt. Diese Art der Anerkennung ist aber nicht das Ergebnis Eures Verständnisses über die „tiefen Dinge Gottes" (Hiob 11:7; 1. Kor. 2:10) oder einer umfangreichen Bibelkenntnis. Es ist auch nicht das Ergebnis eines besonderen Geistiggesinntseins Eurerseits. Es mag allenfalls sein, daß Eure Position innerhalb der Organisation Euren Brüdern in der Versammlung suggeriert, Ihr wärt besonders geistiggesinnt. Daher merken sie nicht, daß es in Wirklichkeit Eure Stellung und Euer Organisationsdenken ist, das Euer Geistiggesinntsein weit in den Schatten stellt. Und das trifft nicht nur auf Euch zu, wie ich beobachtet habe, sondern auf zahlreiche andere Älteste ebenfalls. Was Euch betrifft, bin ich beim besten Willen nicht in der Lage, einen anderen Eindruck als den eben beschriebenen zu bekommen. Als Komiteemitglieder hätte ich mir daher lieber andere Älteste gewünscht. Der Einzige, der mir noch angenehm war, war Bruder Küttner. Wie ich am Ende der Anhörung feststellen konnte, konnte ich von ihm noch aufrichtiges Interesse an mir vorfinden. Ich weiß, daß er nicht daran interessiert ist, Maßnahmen gegen mich zu ergreifen. Aber er ist dazu gezwungen, weil die organisatorischen Richtlinien dies nun einmal vorschreiben. Ich kann nur hoffen, daß seine Menschlichkeit nicht irgendwann einmal im Organisationsdenken untergeht und ihm geopfert wird.
Damit möchte ich meinen Brief abschließen. Bei alledem was ich gesagt und geschrieben habe, bedaure ich nichts im geringsten. Ich habe sowohl vor Jehova als auch vor Jesus Christus ein gutes Gewissen. Ich kann nur an Euch appellieren, nicht über das geschriebene Wort Gottes hinauszugehen. Welche Entscheidung Ihr immer nun auch treffen mögt: Mir bleibt nichts anderes übrig, als alles in die Hände Jehovas zu legen und ihm zu vertrauen. Es ist schade, daß ich nicht nach den inneren christlichen Eigenschaften und wertvollen Vorzügen, sondern nach äußerlicher Konformität beurteilt werde. Das ist das Ergebnis, wenn man ins Organisationsdenken verfällt, anstatt Diener des Geistes zu sein:
Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.
An dieser Stelle möchte ich mit den Worten des Paulus meinen Brief abschließen:
Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! (2. Kor. 13:13, Neue Jerusalemer Bibel)
Frank Bruder
Anlage
Kopie dieses Schreibens jeweils an die Komiteemitglieder Günter Bleckmann und Ralf Küttner