Die Lehre vom "treuen und verständigen Sklaven" ist eine der zentralen Lehren der Zeugen Jehovas. Dieses Gleichnis Jesu aus Matthäus 24, 45-47 wenden sie auf ihre eigene religiöse Führung an.

Ein Zeuge Jehovas stieß in diesem Zusammenhang auf einige Ungereimtheiten innerhalb der Wachtturm-Literatur und letztlich selbst zur Bibel. Diese Zweifel veranlassten ihn, folgenden Brief an die Deutschland-Zentrale der Zeugen Jehovas zu schreiben:


Liebe Brüder,

heute möchte ich mich mit einer Frage, oder vielmehr einem Fragenkomplex an Euch wenden, der mich schon seit über einem Jahr beschäftigt.

Damals stand folgende Feststellung im Wachtturm 1. November 1993, S. 8:

Seit 1919 steht fest, daß der gesalbte Überrest der „treue und verständige Sklave“ ist.

Da es mich interessierte seit wann wir diesen Gedanken so verstehen, suchte ich in unserer Literatur und fand in dem Buch: Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben S. 95, folgende Aussage:

... Einige zogen es vor, in der Vergangenheit zu leben, in der Zeit Pastor Russells, als die Brüder im allgemeinen ihn als den einzigen Kanal biblischer Erleuchtung betrachtet hatten. Bis 1927 wurde der Gedanke, daß er „jener Knecht“ von Matthäus 24:45 gewesen sei, propagiert und angenommen.

In der neuen Wachtturm Ausgabe vom 1. Februar 1995 wird diese Ansicht bestätigt, denn dort heißt es auf Seite 12/13:

In den folgenden Jahren lenkte Jehova die Aufmerksamkeit seiner Diener fortschreitend auf diese wichtigen Einzelheiten. Dazu gehörte sowohl das genaue Verständnis darüber, daß der „treue und verständige Sklave“ aus der Gesamtheit der geistgesalbten Christen auf Erden besteht (1927), als auch die Erkenntnis, daß man sich furchtlos den gesalbten Dienern Jehovas anschließen muß, so wie sich Jonadab auf die Seite Jehus stellte (1932) (Matthäus 24:45; 2. Könige 10:15).

Andererseits spricht das Offenbarungsbuch, über diesen Sachverhalt so, als ob damals alles ganz klar gewesen sei. Auf der Seite 63, Abschnitt 18 steht folgender Bericht:

Im Jahre 1919 erfüllte Jesus sein Versprechen und erkannte die kleine Gruppe aufrichtiger gesalbter Christen als seinen "treuen und verständigen Sklaven" an (Matthäus 24:45-47). Sie traten sozusagen in ein Vorrecht ein, das demjenigen glich, dessen sich der treue Verwalter Eljakim zur Zeit König Hiskias erfreute.

Deshalb meine Frage:

Wieso kann heute gesagt werden, daß es seit 1919 feststeht, wer der treue und verständige Sklave ist, wenn dies erst 8 Jahre später erkannt wurde?

Aus diesem Sachverhalt ergeben sich meines Erachtens aber noch weitere Probleme:

Dies würde auch bedeuten, der „Sklave“ war sich über acht Jahre gar nicht bewußt, welche Verantwortung ihm übertragen worden war. Somit wußte oder verstand er erst seit 1927, - daß er nicht ein schon seit 1916 verstorbener Sklave war (Russel starb in diesem Jahr), - sondern, daß es die zur damaligen Zeit lebenden Menschen waren, die ihrer Verantwortung als Sklave nachkommen sollten. Da sie gemäß heutigem Verständnis, seit 1919 über die ganze Habe gesetzt wurden, wußten sie somit 8 Jahre lang nichts von diesem Vorrecht. Sie meinten statt dessen ein Toter nähme diese Aufgabe wahr.

Dies erscheint mir so, als wenn ein Kreisaufseher, erst 8 Jahre später bemerkt, welches Amt und welche Verantwortung er hat, oder daß ihm ein Kreis zugeteilt wurde, da er dachte, ein anderer hätte diese Aufgabe noch inne. Er mag zwar eifrig tätig sein, es wird jedoch gewiß ein Unterschied sein, ob er seine Arbeit aus der Verantwortung als Verkündiger, oder der eines Kreisaufsehers tut.

Ich möchte nun gewiß nicht den Eifer, die Anstrengungen und die Bemühungen geringschätzen, welche die Brüder damals an den Tag legten. Aber mir geht folgende weiterführende Frage nicht aus dem Sinn:

Kann es wirklich sein, daß Christi und Jehovas Handlungsweise so unklar und zweideutig sind, wenn sie Menschen für ein so bevorrechtetes und wichtiges Amt einsetzen? Als ich mir die Berichte in der Bibel über die Taufe Jesu (Matthäus 3:13-17); die Einsetzung Moses (2. Mose 3:9-12); Davids (2. Samuel 5:1-4); Jeremias (Jeremia 1:4-19); Paulus (Apostelgeschichte 9:3-20) und Anderer anschaute, mußte ich folgendes feststellen. Jeder von ihnen verstand in dem Moment, als sie von Gott beauftragt wurden, daß sie gemeint waren, obwohl sie natürlich nicht immer genau wußten was auf sie zukam.

Gemäß unserem heutigen Verständnis wurde der Sklave, nachdem Jesus im Jahre 1914 wiederkam, von ihm wohlwollend beurteilt und schließlich im Jahre 1919 von ihm über seine ganze irdische Habe gesetzt. Der übelgesinnte Sklave dagegen verlor Gottes Gunst und befindet sich in einem erniedrigten Zustand. Des weiteren verstehen wir heute diesen Sklaven nicht als eine Einzelperson, sondern als Klasse.

Doch da diese damalige Gruppe von treuen Menschen, welche 1919 von Jesus tätig vorgefunden wurde und die er als Belohnung im selben Jahr über seine Habe setzte, inzwischen gestorben ist, führt dies zu weiteren Fragen:

Berechtigt uns die Bibel zu dem Schluß, daß diese Aufgabe weiter vererbt oder an spätere Glieder weitergegeben werden kann? Ist dieses Vorrecht nicht Personengebunden, oder zumindest an die damals lebende Gruppe, da in der Bibel nichts von einer automatischen Weitergabe steht? (Ähnlich, wie bei den Aposteln, deren Amt mit ihrem Tode auch nicht weitergegeben wurde.)

Meint die Bibel, daß Menschen diesen Lohn erhalten, selbst wenn sie zum Zeitpunkt als Christus dieses Vorrecht erteilte, noch gar nicht geboren waren? Heutige Überrestglieder sind alle jünger und hatten sich zu dieser Zeit (1919) noch gar nicht bewährt. (Einige mögen zwar damals schon gelebt haben, vielleicht sogar schon getauft gewesen sein, es kann aber gewiß nicht gesagt werden, Jesus hätte ihre Treue beim Austeilen der Speise schon längere Zeit beobachten können, damit sie auch genügend Reife für dieses größere Vorrecht hätten.)

Finden wir in der Bibel eine Schriftstelle, in der angedeutet wird, daß Jesus mehrmals neue Glieder einsetzen würde, da die „Vorgänger“ versterben?

Inwieweit kann der treue und verständige Sklave, der nicht in der Leitenden Körperschaft dient, über das ganze Habe gesetzt sein und mitwirken? Besonders die Schwestern?

Die Leitende Körperschaft ernennt Glieder, welche in den verschiedenen Gesellschaften dienen und stimmberechtigt sind. Alle anderen Treuen und Verständigen bleiben, obwohl sie von Jesus eingesetzt wurden, draußen und haben, meines Wissens, wenig Einfluß. Obwohl sie eigentlich über die Habe gesetzt wurden, dürfen sie quasi nur inmitten dieser Habe dienen.

Für all diese Punkte finde ich keine logische und vernünftige Erklärung. Doch diese Fragen sind meiner Ansicht nach wichtig, berühren sie doch die Grundlage, das Selbstverständnis und die Daseinsberechtigung unserer Organisation.

Könnte es nicht sein, daß Jesus mit der Frage: „Wer ist in Wirklichkeit der treue und verständige Sklave, den sein Herr über seine Hausknechte gesetzt hat, um ihnen ihre Speise zur rechten Zeit zu geben? Glücklich ist jener Sklave, wenn ihn sein Herr bei der Ankunft so tuend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über seine ganze Habe setzen.“ (Matthäus 24:45-47) seine Jünger, und alle späteren in verantwortlichen Stellungen dienende Christen anspornen wollte? Er stellte mit anderen Worten die Frage: „Wer wird sich als treu und verständig erweisen, diesen werde ich in der Zukunft über meine ganze Habe setzen.“

Er meinte gewiß nicht, daß nun verschiedene Christen, anmaßend von sich behaupten sollten, sie wären so wie dieser Sklave, sie wären treu und verständig, da sie alles tun was Jesus wünscht. (Römer 12:3; Galater 6:3)

Im Gegenteil, dieser Titel, diese Ehre verleiht kein Mensch, keine menschliche Organisation sondern nur Christus. Aber jeder von diesen angesprochenen Christen sollte sich eifrig bemühen diesen Erfordernissen zu entsprechen, um von Jesus ein wohlwollendes Urteil zu erhalten. Aber letztendlich würde Jesus festlegen, wer dies ist. Sie würden dann im Himmel über seine Habe gesetzt werden und es wäre für alle eindeutig und klar.

Dies würde meiner Ansicht nach auch besser zu dem weiteren Bericht der Bibel passen, wo von dem Urteil über den übelgesinnten Sklaven gesprochen wird.

Wenn aber jener übelgesinnte Sklave je in seinem Herzen sagen sollte: „Mein Herr bleibt noch aus“ und anfangen sollte, seine Mitsklaven zu schlagen, und mit den Gewohnheitstrinkern essen und trinken sollte, wird der Herr jenes Sklaven an einem Tag kommen, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn mit der größten Strenge bestrafen und wird ihm seinen Teil mit den Heuchlern zuweisen. Dort wird [sein] Weinen und [sein] Zähneknirschen sein.

Wie oben schon angeführt, glauben wir, dieser übelgesinnte Sklave befindet sich heute in einem erniedrigten Zustand, oder in der Finsternis, er kann aber immer noch Schaden anrichten. Kann dies die vorhergesagte Strafe sein, die Jesus ihm angekündigt hatte, als er sagte, er würde ihn „mit größter Strenge bestrafen“?

In unserer Studienübersetzung lautet die Fußnote zu Matthäus 24:51 und dem Paralleltext Lukas 12:46 interessanterweise folgendermaßen: „wird ihn entzweihauen.“ Drückt dies nicht treffend den Zustand des Todes und der Vernichtung aus, welche der böse Sklave erleiden wird? Er wird danach gewiß keinen Schaden mehr anrichten können. (Siehe auch Matthäus 13:42 und Lukas 13:28)

Kurz gesagt, könnte ich dieses Gleichnis auch so verstehen:

Jesus spricht hier von zwei Sklaven, dem Treuen und dem Übelgesinnten. Während der Treue tätig ist, schlägt der Übelgesinnte seine Mitsklaven und führt ein unchristliches Leben. Deshalb würde Jesus an einem Tag kommen, da er es nicht erwartet und ihn seiner gerechten Strafe zuführen.

Der treue Sklave wird dagegen belohnt, ein Ereignis welches noch in der Zukunft liegt.

Mir ist auch aufgefallen, daß in unserem Einsichtenbuch dieses Ereignis zeitlich offen gelassen wird. Es heißt dort auf der Seite 1159 unter dem Stichwort „treuer und verständiger Sklave“, im letzten Satz:

Die Treue bis zu der verheißenen „Ankunft“ des Herrn würde größere Verantwortung zur Folge haben.

Eine zeitliche Einordnung oder Festlegung findet sich in diesem Nachschlagewerk ebenfalls nicht.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Wenn ich mir rückblickend unsere Geschichte anschaue, unser „Wissen“ über Christi Ankunft und Einsetzung des Sklaven, so stelle ich mir schon die Frage, ob dies alles so richtig sein kann. Da ich auch eine gewisse Unlogik zu erkennen glaube, fällt es mir schwer, diese Lehransicht nachzuvollziehen.

Da wir in der letzten Zeit schon einige Lehren, die bereits als erfüllt angesehen wurden, in die Zukunft verlegt haben (Zeichen an Sonne, Mond und Sternen; Menschen werden Ohnmächtig vor Furcht und Erwartung der Dinge; Nord- und Südkönig), könnte man vielleicht auch diesen Punkt nochmals gebetsvoll überdenken.

Aber vielleicht habe ich bei meinen Überlegungen auch den einen oder anderen Gedankengang übersehen. Ich wäre dankbar, wenn Ihr mir diese Punkte richtig stellen und erklären könntet.

Ich verbleibe mit brüderlichen Grüßen und wünsche Euch Jehovas Segen.