Der treue und verständige Sklave im Licht der Geschichte der Bibelforscher/Zeugen Jehovas

Die leidenschaftliche Loyalität der Zeugen Jehovas gegenüber der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft gründet sich auf die Überzeugung, sie stelle „Gottes Kanal“ dar. Was damit gemeint ist:

Jehova, der allmächtige Gott, spricht nur durch diese Organisation zu Menschen. Nur ihre Führung besitzt den heiligen Geist, und daher können nur sie Gottes Gedanken den Menschen auf der Erde vermitteln. Deshalb wird von jedem Zeugen Jehovas, der es schwierig findet, alle Lehren der Gesellschaft zu akzeptieren, oder der sich gegenüber einer ihrer Lehren kritisch äußert, gesagt, es fehle ihm an „Wertschätzung und Dankbarkeit“ für alle Dinge, die Gott in geistiger Hinsicht durch „seinen Kanal“ beschaffe. Der Artikel „Benötigen wir Hilfe zum Verständnis der Bibel?“ im Wachtturm vom 15. Mai 1981 (Seite 16) beschreibt dies so:

Wie sollten wir die geistige Speise, mit der uns dieser „treue und verständige Sklave“ versorgt, ansehen? Sollten wir sie kritisch betrachten und die Einstellung haben: „Na ja, es mag schon stimmen, aber vielleicht auch nicht; deshalb müssen wir alles sorgfältig und sehr kritisch prüfen.“? Offensichtlich haben einige so gedacht. Um ihre Ansicht zu unterstützen, haben sie Apostelgeschichte 17:11 zitiert, wo über Neuinteressierte aus Beröa gesagt wird: „Diese nun waren edler gesinnt als die in Thessalonich, denn sie nahmen das Wort mit der größten Bereitwilligkeit auf, indem sie täglich in den Schriften sorgfältig forschten, ob sich diese Dinge so verhielten.


Bedeutet das aber, daß die Beröer in der Botschaft nach Fehlern suchten oder daß sie zweifelten? Sind sie für uns ein Beispiel dafür, daß wir die Publikationen des „treuen und verständigen Sklaven“ kritisch betrachten und darin nach Fehlern suchen sollten? Ganz und gar nicht!

In den folgenden Absätzen desselben Artikels wird erklärt, daß die Beröer eifrig im neu gelehrten Glauben waren. Sie wollten es glauben. Auf der Seite 16, unter dem Untertitel „Unsere Ansicht über den ‘Sklaven’“, heißt es im Wachtturm weiter:

Wir können aus dieser Betrachtung Nutzen ziehen. Haben wir einmal festgestellt, welches Instrument Gott als seinen „Sklaven“ gebraucht, um sein Volk mit geistiger Speise zu versorgen, dann ist es Jehova bestimmt nicht wohlgefällig, wenn wir diese Speise so annehmen, als enthielte sie etwas Schädliches. Wir sollten dem von Gott gebrauchten Kanal vertrauen. Im Hauptbüro in Brooklyn, dem Ausgangspunkt der biblischen Literatur der Zeugen Jehovas, befinden sich mehr reife christliche Älteste — bestehend aus Gliedern des „Überrests“ und der „anderen Schafe“ — als an irgendeinem anderen Ort der Erde.

Es stimmt, daß die Brüder, die diese Publikationen schreiben, nicht unfehlbar sind. Ihre Schriften sind nicht inspiriert wie diejenigen des Paulus und der anderen Bibelschreiber (2. Tim. 3:16). Wenn das Verständnis klarer wurde, war es deshalb hin und wieder notwendig, einige Ansichten zu korrigieren (Spr. 4:18). Das hatte aber zur Folge, daß die biblisch begründete Lehre der Zeugen Jehovas ständig geläutert wurde. Da im Laufe der Jahre Berichtigungen vorgenommen wurden, hat man sie in diesen „letzten Tagen“ in seinem Leben immer besser anwenden können.


Der Ursprung der Lehre vom treuen Sklaven

Diese Darstellung „biblischer“ Fragen wirkt recht einschüchternd auf diejenigen Zeugen Jehovas, bei denen schwere Zweifel oder Fragen über Wachtturm-Lehren aufkommen. Wenn sie sich in irgendeiner Weise kritisch verhalten, bezeichnet die Gesellschaft sie als Menschen mit „schlechter Einstellung“. Durch ihre Literatur und ihre Sprecher erhebt sie ständig den Anspruch, ihre Führer seien die Vertreter des „treuen und verständigen Sklaven“, der Gottes Verbindungs„kanal“ mit seinem Volke sei. So glaubt man, jede Äußerung in der Wachtturm-Literatur komme indirekt von Gott. Daher ist es wohl angebracht, die Grundlage für den Anspruch zu untersuchen, die Führer der Gesellschaft stellten den sogenannten „treuen und verständigen Sklaven“ dar.

Der Text, mit dem dieser Anspruch untermauert wird, steht in Matthäus 24:45-47 (Neue-Welt-Übersetzung). Er lautet:

Wer ist in Wirklichkeit der treue und verständige Sklave, den sein Herr über seine Hausknechte gesetzt hat, um ihnen ihre Speise zur rechten Zeit zu geben? Glücklich ist jener Sklave, wenn ihn sein Herr bei seiner Ankunft so tuend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über seine ganze Habe setzen.


Im Wachtturm vom 1. März 1981 (Seite 24) wird die offizielle Auslegung der Aussage Jesu in diesen Versen nach der Sicht der Gesellschaft gegeben:

Jehovas Zeugen glauben, daß sich dieses Gleichnis auf die eine wahre Versammlung der gesalbten Nachfolger Jesu bezieht. Von Pfingsten 33 u.Z. an hat diese sklavenähnliche Versammlung in den vergangenen 1.900 Jahren ihren Gliedern geistige Speise ausgeteilt und hat sich dabei als treu und verständig erwiesen. Besonders seit der Zeit der Wiederkunft oder Gegenwart Christi ist dieser „Sklave“ deutlich zu erkennen. Er ist an seiner Wachsamkeit und daran zu erkennen, daß er als „treuer und verständiger Sklave“ für die geistige Speise sorgt, die von allen in der Christenversammlung benötigt wird. Dieser „Sklave“ oder die geistgesalbte Versammlung ist in der Tat der von Gott anerkannte Kanal, der in der „Zeit des Endes“ sein Königreich auf der Erde vertritt (Dan. 12:4). Nach dem Verständnis der Zeugen Jehovas besteht der „Sklave“ aus der Gruppe der gesalbten Christen auf der Erde, die in den seit Pfingsten bis heute vergangenen 1.900 Jahren gelebt haben. Die „Hausknechte“ sind daher diese Nachfolger Christi als Einzelpersonen.


Da dieser zusammengesetzte „Sklave“ also angeblich ständig und ohne Unterbrechung seit 33 u.Z. existiert, glaubt man, es gäbe immer, seit dem ersten Jahrhundert bis ans Ende der Welt, wahre Christen auf Erden. Das soll Jesu Gleichnis oder Veranschaulichung vom Unkraut und Weizen aus Matthäus 13 deutlich zeigen. Der Weizen — der die wahren Söhne Gottes darstelle — wurde auf ein Feld gesät, das die Welt darstellt. Das Unkraut — falsche Christen — sei später von dem Bösen unter den Weizen gesät worden. Jesus erklärte, die beiden „Früchte“ sollten bis zum Ende der Welt zusammen wachsen, und dann, zur „Erntezeit“, würden die Engel ausgesandt, um den Weizen und das Unkraut zu trennen. Das Unkraut werde aufgehäuft und verbrannt, der Weizen dagegen geerntet und gelagert. Falsche Christen tauchten schon bald nach der Gründung der Christenversammlung auf. Doch nach der Wachtturm-Lehre sind sie nie in der Lage gewesen, die Führung über die Klasse des „treuen und verständigen Sklaven“, den Weizen, zu übernehmen.

Zu diesem Thema wird in der Zeitschrift Wachtturm vom 15. Mai 1975 auf der Seite 298 folgendes gesagt:

Wir stellen fest, daß Jesus nicht sagte, der „treue und verständige Sklave“ würde untreu. Er deutete lediglich an, daß in bezug auf die einzelnen Glieder dieser „Sklaven“klasse die Möglichkeit bestand, untreu zu werden, so, wie Judas, einer der Zwölf, nach einem guten Anfang schlecht wurde.


Und in einem weiteren Absatz auf der nächsten Seite heißt es über solche „Abtrünnigen“:

Christus würde solch untreuen Personen nicht gestatten, über seine Versammlung zu herrschen oder sie zu zerstören und ihr Werk zu unterbinden.


Im Wachtturm vom 1. März 1981 heißt es auf Seite 26:

Wenngleich das „Unkraut“ im Laufe der Jahrhunderte den religiösen Sektor der Welt beherrschte, so war doch etwas „Weizen“ damit beschäftigt, den „Hausknechten“ geistige Speise auszuteilen.


Interessanterweise stellt der Weizen nach der Wachtturm-Auslegung den „treuen und verständigen Sklaven“ als durchgehend bestehende Christenversammlung dar, also alle treuen gesalbten Christen auf der Erde zu irgendeinem Zeitpunkt christlicher Zeitrechnung.

In dem Artikel „Wie erhalten Christen geistige Speise?“ im Wachtturm vom 15. April 1975 (Seite 238) wird gesagt:

Jesus hatte gesagt: „Siehe! Ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluß des Systems der Dinge“ (Matth. 28:20). Er ist das Haupt der Versammlung, seines Sklaven, und seine Worte zeigen, daß er die Glieder der Versammlung stärken würde, damit sie die Jahrhunderte hindurch Speise an seine „Hausknechte“ austeilen würden. Offenbar nahm jede Generation der „Sklaven“klasse nicht nur selbst Speise zu sich, sondern reichte sie auch der nachfolgenden Generation weiter.


Wieder wird argumentiert, diese Christen seien nicht als einzelne, voneinander unabhängige Menschen mit geistiger Speise versorgt worden, sondern als Leib oder Gruppe — als Versammlung. Zusammenfassend wird in demselben Artikel gesagt:

Wir stellen also fest, daß Jesus Christus selbst die Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie die Glieder seines Volkes geistige Speise erhalten — nicht als voneinander unabhängige Einzelpersonen, sondern als eine Gruppe eng miteinander verbundener Christen, die echte Liebe haben und umeinander besorgt sind.


Der Wachtturm vom 15. September 1960 (Seite 563) fügt noch hinzu:

Während all der Jahre seither hat die sklavengleiche Versammlung ihre wahren Glieder treu und verständig geweidet oder ernährt. Von Pfingsten des Jahres 33 n.Chr. an bis zur gegenwärtigen Stunde hat sie es mit Liebe und Sorgfalt getan. Und diese „Diener des Hauses“ sind mit fortschrittlicher geistiger Speise ernährt worden, so daß sie Schritt halten können mit dem „glänzenden Licht, das heller und heller leuchtet, bis zum vollen Tag.“


Nach diesem Zitat ist der Sklave ständig mit fortschrittlicher geistiger Speise ernährt worden. Sie ist nie schlechter geworden oder auf demselben Stand geblieben, sondern hat sich mit dem heller werdenden Licht der Wahrheit ständig verbessert. Das also ist die sorgfältig aufgestellte Prämisse hinter der Wachtturm-Lehre zu Jesu Veranschaulichung über den „treuen und verständigen Sklaven“ nach Matthäus 24:45-47. Daher besteht die Sklavenklasse seit Pfingsten 33 u.Z. und sollte eine beständige, ununterbrochene Geschichte durch die Jahrhunderte haben, bis zum und einschließlich dem Ende der Welt. All die Jahrhunderte hindurch hat sie fortschreitend ihre Glieder geistig genährt und hat mit der Zeit an Erkenntnis zugenommen. Die Frage ist also, wie läßt sich diese Lehre mit der Geschichte der Wachtturm-Gesellschaft in Einklang bringen? Was werden wir sehen, wenn wir die Auslegung der Gesellschaft von Matthäus 24:45-47 auf ihre Konsequenzen hin untersuchen? Man behalte im Sinn, daß diese Auslegung mit der Geschichte im Einklang sein muß, wenn gezeigt werden soll, daß sie stimmt. Wenn daher die Lehre der Gesellschaft über den „treuen und verständigen Sklaven“ nicht zu der eigenen Geschichte paßt, dann ist damit bewiesen, daß die Lehre, soweit sie Jehovas Zeugen betrifft, falsch ist. Mit diesem Gedanken im Sinn wollen wir die Geschichte der Gesellschaft untersuchen, so wie sie sie in den eigenen Publikationen darstellt.

Die Ursprünge der Wachtturm-Bewegung

Die Watch Tower Bible and Tract Society wurde 1884 von Charles Taze Russell, den man viele Jahre lang als „Pastor Russell“ kannte, als Gesellschaft gegründet. Russell wurde 1852 in Allegheny, Pennsylvania, geboren. Obwohl als Christ erzogen, war sein Glaube, als er sechzehn wurde, zerstört. Das offizielle Wachtturm-Geschichtsbuch, Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben (Seite 14), legt Russell die folgenden Bemerkungen in den Mund:

Als Presbyterianer erzogen und in dem Katechismus unterrichtet, wurde ich, von Natur zum Nachforschen veranlagt, gar schnell eine Beute der Vernunftlehre des Unglaubens, sobald ich anfing, selbständig zu denken. Doch das, was zuerst ein völliger Schiffbruch des Glaubens an Gott und die Bibel zu werden drohte, wurde unter Gottes Vorsehung zum Guten gewendet, und so erlitt nur mein Vertrauen zu menschlichen Glaubensbekenntnissen und Systemen der falschen Bibelauslegung Schiffbruch.


Es heißt weiter:

Während der nächsten Monate dachte Russell weiterhin über die Religion nach. Er konnte sie nicht anerkennen, war aber auch nicht gewillt, sie aufzugeben.


Schließlich zitiert man ihn mit den Worten:

Anscheinend durch einen Zufall geriet ich eines Tages in ein staubiges, schwärzliches Versammlungslokal in Allegheny, Pa., wo, wie ich gehört hatte, religiöse Zusammenkünfte abgehalten wurden, um zu sehen, ob die paar Leute, die sich dort versammelten, etwas Vernünftigeres zu bieten hätten als die Glaubensbekenntnisse der großen Kirchengemeinschaften. Dort hörte ich erstmals etwas über die Ansichten der Adventisten [Second Adventists], und zwar von Jonas Wendell ... Obgleich seine Auslegungen der Schrift nicht ganz klar waren und obgleich sie sehr weit von dem entfernt waren, dessen wir uns jetzt erfreuen, so genügten sie doch, unter Gottes Führung meinen erschütterten Glauben an die göttliche Eingebung der Bibel wieder zu befestigen und mir zu erkennen zu geben, daß die Aussagen der Apostel und der Propheten unzertrennlich miteinander verbunden sind.


A. H. Macmillan, ein Kanadier, der viele Jahre in Führungspositionen in der Wachtturm-Weltzentrale verbrachte, sagt im Hinblick auf Russell:

Eine neue Entschlossenheit, weiter nach der Wahrheit zu suchen, öffnete ein neues Kapitel im Leben des jungen Mannes. Er nahm seine schon abgewetzte Bibel zur Hand und begann damit, sie sorgfältig und systematisch zu studieren. Er dachte beim Lesen nach, und je mehr er nachdachte, um so mehr war er überzeugt, daß die Zeit für die Weisen und Wachsamen unter den Kindern des Herrn nahte, Gottes Vorhaben deutlich zu erkennen. Von wirklicher Begeisterung beflügelt, sprach er mehrere junge Männer aus seinem geschäftlichen oder privaten Bekanntenkreis an. Er erzählte ihnen von seinem wiedererwachten Interesse, seiner Absicht, mit dem Bibelstudium fortzufahren, ohne dabei die allseits bekannten Glaubensbekenntnisse im Sinn zu haben. Sie erkannten sofort die Chancen darin und sagten: „Nun, geh davon aus, daß wir zusammenkommen und während bestimmter Wochenstunden ein systematisches Studium betreiben.“ So fing es an. Dieser junge Mann, der im Alter von achtzehn Jahren eine Bibelklasse organisierte, sollte der bekannteste Bibelforscher seiner Zeit werden. Er sollte einer der beliebtesten und bestgehaßten, meistverherrlichten und -verleumdeten Männer der neuzeitlichen Religionsgeschichte werden. (A.H. Macmillan, Faith on the March (Prentice-Hall, Inc., 1957), Seiten 19, 20.)


Der Konflikt: Geschichte gegen Wachtturm-Lehre

Gemäß Aufzeichnungen aus Wachtturm-Quellen wandte sich Charles Taze Russell im Jahre 1870 von allen christlichen Gemeinschaften ab und begann für sich allein ein Studium der Bibel. Zu den Früchten seines unabhängigen Studiums zitiert Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben (Seite 17) eine frühere Wachtturm-Quelle:

Er war nicht der Gründer einer neuen Religion und erhob auch nie einen solchen Anspruch. Er belebte nur die großen Wahrheiten, die Jesus und die Apostel gelehrt hatten, wieder und stellte sie in das Licht des zwanzigsten Jahrhunderts. Er sagte nicht, daß er eine besondere Offenbarung von Gott empfangen habe, sondern er hielt dafür, daß die von Gott bestimmte Zeit zum Verstehen der Bibel herbeigekommen wäre und daß er, da er dem Herrn und seinem Dienst völlig geweiht war, gewürdigt worden war, sie zu verstehen.


Dies war also der Ursprung der Wachtturm-Gesellschaft in den Worten zweier Personen, die eng mit der frühen Geschichte verknüpft waren. Beide weisen die sorgfältig aufgestellte Lehre vom sogenannten „treuen und verständigen Sklaven“ zurück. Denn 1870, als der junge Charles Russell sein unabhängiges Bibelstudium begann, hätte der „treue und verständige Sklave“ schon seit mehr als 1.800 Jahre bestanden!

Die folgenden Fragen warten auf eine Antwort: Wo war diese Versammlung des „treuen und verständigen Sklaven“? Wie konnte Russell die großen Lehren Christi und der Apostel unabhängig vom Verbindungs“kanal“, Jehovas irdischer Organisation, wiederbeleben? Und weiter: wenn, wie die Wachtturm-Gesellschaft beharrt, sich die Versammlung des treuen Sklaven die Jahrhunderte hindurch selbst fortschreitend gespeist habe, eine Generation die nachfolgende, warum hätten dann die großen Lehren Jesu und der Apostel wiederbelebt werden müssen? Das wäre nicht nötig gewesen, wenn die Lehre über die Klasse des „treuen und verständigen Sklaven“ wahr wäre. Die Entstehungsgeschichte der Zeugen Jehovas widerspricht damit glatt der Prämisse der Wachtturm-Gesellschaft zu ihrem Dogma von der sogenannten Klasse des treuen und verständigen Sklaven. Um das autoritäre System zu rechtfertigen, muß sie natürlich argumentieren, daß Jehova eine Organisation als irdischen Kanal benutzt, der sich alle unterwerfen und die sie annehmen müssen. Um aber heute darauf zu beharren, muß sie ständig argumentieren, das sei seit dem Jahr 33 n. Chr. schon immer so gewesen, Gott habe schon immer so gehandelt. Es bleibt aber doch eine Tatsache, daß sich Russell nicht an eine irdische Organisation wandte. Er handelte allein und unabhängig von anderen.

Heute, über hundert Jahre nach den Anfängen Russells, besteht bei den Zeugen ein außergewöhnlich starkes Denken in Organisationskategorien. Die Organisation steht fast immer an erster Stelle. In dem Artikel „Der Glaube an Jehovas siegreiche Organisation“ im Watchtower vom 1.März 1979 [deutsch: Wachtturm, 1.Juni 1979] kommt allein in den ersten elf Abschnitten der Ausdruck „theokratische Organisation“ fünfzehnmal vor. Diese Art von suggerierender Wiederholung wird ständig von der Gesellschaft vorgenommen, um das Denken der Zeugen Jehovas dahin zu konditionieren, daß es falsch sei, wenn sie etwas anzweifeln, das die Gesellschaft zu irgendeiner Zeit als Wahrheit herausgebracht hat. Im Gegensatz zu dieser Einstellung zur Organisation waren Russell und seine frühen Mitverbundenen gegen eine irdische Organisation. Zion's Watch Tower vom Februar 1884 (Seite 2; nur englisch) sagte über Russell und seine Mitverbundenen:

Wir gehören keiner irdischen Organisation an; solltest du also die ganze Namensreihe von Sekten aufführen, würden wir zu allen Nein sagen. Wir gehören allein der himmlischen Organisation an — deren ‘Namen sind im Himmel eingeschrieben.’ (Hebr. 12:23; Lukas 10:20) Alle Heiligen, die jetzt leben oder in diesem Zeitalter gelebt haben, gehören unserer Kirchenorganisation an: sie bilden alle eine Kirche, und es gibt keine andere, die der Herr anerkennen würde. Daher ist jede Organisation, die mit dieser Vereinigung der Heiligen in Konflikt steht, gegen die Lehre der Bibel gerichtet und gegen den Willen des Herrn — daß ‘sie eins sein mögen.’


Überraschenderweise wurde diese Behauptung in einem Wachtturm 95 Jahre später noch einmal wiederholt.

Russell glaubte an eine unsichtbare Kirche. Er glaubte nicht an eine durchgehend bestehende irdische Kirche oder Organisation. Tatsächlich stand er der organisierten Religion ablehnend gegenüber, und seine Ablehnung gegenüber den Kirchen ist verständlich.

Schließlich war er ein religiöser Einzelgänger. Seine kleine Gefolgschaft hatte keine Geschichte als Organisation. Sie wollte dieses Fehlen einer eigenen Geschichte dadurch herunterspielen, daß sie argumentierte, Gott habe keine durchgehende irdische Organisation gehabt — eine monolithische Christenversammlung —, das sei nicht Gottes Vorgehensweise. In dieser Weise konnten die Anhänger Russells die Religionen, die eine Geschichte in der Welt hatten, in ihren Augen klein machen und das Fehlen einer eigenen Geschichte hinwegerklären. Und in Verbindung mit dem Thema, das uns gerade beschäftigt, ist überdeutlich, daß Russell nicht glaubte, Gott habe zu jener Zeit auf Erden eine ‚1800 Jahre alte Organisation eines treuen und verständigen Sklaven‘ — Gottes irdischen Mitteilungskanal. Er fand sie nicht, noch sie ihn.

Er und seine Mitverbundenen waren mit keiner anderen bestehenden Organisation verbunden, sie betrachteten jede andere Gemeinschaft tatsächlich mit Geringschätzung. Sie wiesen hartnäckig die Vorstellung zurück, es gebe auf Erden eine sichtbare Organisation, die seit Pfingsten bestehe und zu der man sich bekennen müsse, um Gott zu dienen.

Aber heute, hundert Jahre später, argumentieren die Nachkommen der Bibelforscherbewegung Russells genau umgekehrt. Sie sagen, man müsse eine sichtbare irdische Organisation beachten, nämlich die [Organisation, die mit der] Watch Tower Bible & Tract Society [zusammenhängt]. Das war nicht der Standpunkt am Anfang. So wie sich die Situation änderte, so änderten Jehovas Zeugen ihre Argumente. Sie argumentierten einmal ebenso strikt gegen eine Organisation, wie sie jetzt strikt dafür argumentieren. So wie ihre Auffassung zu einer irdischen Organisation vor hundert Jahren ganz anders war als heute, so ist ihre Ansicht über Russell heute ganz anders als am Anfang. Abgesehen davon, daß er hin und wieder kurz erwähnt wird, ist Russell für die neuzeitlichen Zeugen größtenteils ein Unbekannter. Es wird nicht empfohlen, seine Schriften zu lesen, und auch seine vielen Bücher werden von dem Verlag, den er gründete und mit seinem Geld finanzierte, nicht mehr herausgegeben.

Charles T. Russell als "der Knecht"

Charles T. RussellJehovas Zeugen argumentieren weiterhin, Russell sei ein Mann gewesen, den Gott gebrauchte, um die großen Wahrheiten der Lehren Jesu und der Apostel wiederzubeleben. Warum studiert man dann in den Versammlungen nicht mehr seine Bücher, wenn auch nur aus historischer Sicht? Weil vieles, was er schrieb, heute als abtrünnig angesehen werden müßte! Russell war ein bemerkenswerter Mensch und ein fruchtbarer Schreiber. Er setzte die Statuten der Wachtturm-Gesellschaft auf. Er war von Anfang an der Herausgeber der Zeitschrift Wachtturm. Von 1879 bis zu seinem Tode 1916 schrieb er Hunderte von Artikeln, Broschüren und Traktaten sowie die sechs Bände der Schriftstudien, ursprünglich bekannt als Tagesanbruch-Serie. Darüber hinaus wurde seinen Lehren bei seinen Anhängern besonderes Gewicht beigemessen. Sie wurden zu der „Wahrheit“, und man begann, ihn als „Kanal“ für diese Wahrheit anzusehen. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, wie Russell und die Bibelforscher die Schriftstudien betrachteten. Im Wacht-Turm vom Dezember 1910 wird gesagt (Seiten 218, 219):

Wenn die sechs Bände Schrift-Studien praktisch eine nach den Gegenständen eingerichtete Bibel sind, mit den biblischen Beweisstellen versehen, so möchten wir die Bände wohl „eine Bibel in arrangierter Form“ nennen. Das heißt, sie sind nicht nur Kommentare zur Bibel, sondern sie sind praktisch die Bibel selbst, da kein Verlangen besteht, irgend eine Lehre oder einen Gedanken nach individuellem Wunsch zu bilden, oder auf individuelle Weisheit zu gründen, sondern die ganze Sache nach der Richtschnur des Wortes Gottes darzustellen. Wir halten es daher für richtig, dieser Art des Lesens, dieser Art der Unterweisung, dieser Art von Bibelstudium zu folgen. Ferner, wir finden nicht nur, daß die Leute den Göttlichen Plan nicht sehen können, wenn sie die Bibel allein studieren, sondern wir sehen auch, daß, wenn jemand die Schrift-Studien beiseite legt, nachdem er sie gebraucht hat, nachdem er wohl bekannt mit ihnen geworden ist, nachdem er sie zehn Jahre gelesen hat, wenn er sie dann beiseite legt, und sie ignoriert und zur Bibel allein geht, obwohl er seine Bibel zehn Jahre lang verstanden hat, unsere Erfahrung zeigt, daß er binnen zwei Jahren in die Finsternis geht. Auf der anderen Seite, wenn er nur die Schrift-Studien mit ihren Hinweisen gelesen hätte, und hätte nicht eine Seite der Bibel als solche gelesen, so würde er am Ende der zwei Jahre im Licht sein, das Licht der Heiligen Schrift besitzen.


Das bedeutet natürlich, daß Russell seinen Standpunkt mit den Jahren drastisch geändert hatte. Da er ursprünglich nicht inspiriert war, konnte er die Bibel nicht verstehen. Doch nun, nach der Herausgabe der sechs Bände, konnte niemand an die Bibel herangehen und die „Wahrheit“ kennenlernen. Nun war die „Wahrheit“ nur in seinen Büchern zu finden, die die Bibel erklärten. Sie waren so zur „Wahrheit“ geworden. Stimmte jemand dem nicht zu, sah man ihn als in geistiger Finsternis lebend an. Doch heute wird das meiste, was in diesen Büchern gelehrt wird, von den Zeugen Jehovas abgelehnt. Aber zur Zeit Russells war es die „Wahrheit“, und man mußte dem glauben, um in der „Wahrheit“ zu sein.

So ist die Haltung, die die Wachtturm-Gesellschaft heute an den Tag legt, nicht neu. Sie ist typisch seit den letzten Tagen des ersten Präsidenten. Russell und die Bibelforscher waren ohne Zweifel aufrichtige, gottesfürchtige Männer und Frauen, die wirklich glaubten, sie seien von Gott erleuchtet und in geistiger Hinsicht gebraucht worden. Aber die vorhin genannten Fakten zeigen, daß diese Überzeugung in erster Linie auf Selbsttäuschung beruhte, und diese Selbsttäuschung brachte sie dazu, in autoritärer Weise zu reden und alle zu verurteilen, die nicht mit ihnen übereinstimmten. Sie nahmen an, etwas Besonderes zu sein, und daher wurden sie in der Art, wie sie biblische Themen vorbrachten, anmaßend.

Diese religiöse Anmaßung resultierte zum Teil, wenn nicht ganz, aus der Haltung der Bibelforscher gegenüber Russell und seinen Schriften. Die Wachtturm-Gesellschaft gibt heute zu, daß viele Bibelforscher oder Russelliten, wie man sie oft nannte, sich der „Personenverehrung“ gegenüber ihrem Pastor schuldig gemacht hatten. Diese Personenverehrung war eine natürliche Folge dessen, was sie über ihn gelehrt worden waren. Er wurde mit dem treuen Sklaven oder „Knecht“ aus Matthäus 24:45-47 gleichgesetzt. A. H. Macmillan sagt dazu:

Oft, wenn wir gefragt wurden, wer der kluge und treue Knecht sei, antwortete Russell: „Einige sagen, ich bin es; andere meinen, die Gesellschaft sei es.“ Beide Aussagen stimmten. Russell war tatsächlich die Gesellschaft (in absolutem Sinne), da er das Vorgehen und den Kurs der Gesellschaft bestimmte. In Verbindung mit der Gesellschaft suchte er manchmal den Rat anderer, hörte ihren Vorschlägen zu und entschied dann nach bestem Gewissen, so wie er glaubte, daß der Herr es getan haben wollte. (A. H. Macmillan, Faith on the March (Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall, 1957), Seiten 126, 127)


Konsequenterweise wurde Russell fast bis zur Anbetung verehrt, wie das Buch Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben einräumt. Das Buch beschreibt auch die Haltung der Bibelforscher ihm gegenüber direkt nach seinem Tod:

Indem man auf der Ansicht beharrte, daß Russell jener „Knecht“ gewesen sei, wurden viele veranlaßt, Russell auf eine Weise zu betrachten, die tatsächlich der Menschenverehrung gleichkam. Man glaubte, daß alle Wahrheiten, die Gott seinem Volke zu offenbaren für gut befunden hatte, Russell geoffenbart worden seien und daß nun — da dieser „Knecht“ tot war — nichts mehr hervorgebracht werden könne. (Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, Seite 69)


Man darf hierbei nicht vergessen, daß nicht ein paar Leute privat zu dieser Ansicht kamen; sie wurde von der Wachtturm-Gesellschaft gelehrt. Interessant sind folgende Zitate:

Es erhob sich tatsächlich ein gewisser Widerstand von seiten derer, die nicht fortschrittlich dachten und keine Vision von dem vor ihnen liegenden Werke hatten. Einige zogen es vor, in der Vergangenheit zu leben, in der Zeit Pastor Russells, als die Brüder im allgemeinen ihn als den einzigen Kanal biblischer Erleuchtung betrachtet hatten. Bis 1927 wurde der Gedanke, daß er „jener Knecht“ von Matthäus 24:45 gewesen sei, propagiert und angenommen. So glaubten praktisch alle Bibelforscher bis 1927 — elf Jahre nach seinem Tod —daß er „jener Knecht“ war. (Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, Seite 95)

Er wurde nicht nur als kluger und treuer Knecht aus Matthäus 24:45-47 angesehen, er wurde auch mit „dem Mann mit dem Tintenfaß eines Schreibers“ aus Hesekiel 9 und mit dem „siebten Boten“ aus Offenbarung 1:20 gleichgesetzt. Im letzterwähnten Vers wird der verherrlichte Jesus Christus mit sieben Sternen in seiner rechten Hand dargestellt, die für sieben „Engel“ oder „Boten“ stehen. Russell wurde als einer dieser Sterne, als der siebte, angesehen. Daher wurde er als der „siebte Bote“ bekannt. (Eine Erörterung dieser Bezeichnungen findet sich in The Memoirs of Pastor Russell: The Laodicean Messenger: His Life, Works and Character (Chicago: The Bible Students Bookstore, 1923).)


Der Leitartikel im Watchtower vom 15. November 1917, veröffentlicht ein Jahr nach Russells Tod, trug den Titel „Ein Zeichen der Ehre für den siebten Boten“. Es wird argumentiert, das ganze Evangeliumszeitalter sei in sieben Perioden oder Epochen eingeteilt, für deren jede Gott für einen besonderen Boten für die Kirche Jesu Christi auf Erden gesorgt habe. Auf Seite 324 heißt es:

Das große Schauspiel des Evangeliumszeitalters begann mit dem Apostel Paulus als Hauptboten oder -engel der Kirche. Es schließt mit Pastor Russell als dem siebten und letzten Boten der kämpferischen Kirche. Für die anderen fünf Epochen der Kirche sorgte der Herr für Boten in dieser Reihenfolge: Johannes, Arius, Waldo, Wycliffe und Luther. Jeder trug die Botschaft auf, mit der er während der Epoche, für die er stand, verstanden werden sollte. Doch die bekanntesten Boten sind der erste und der letzte — Paulus und Pastor Russell. (Rückübersetzung)


Gemäß der Wachtturm-Gesellschaft überstrahlte Pastor Russell also Johannes, den Schreiber der Offenbarung, einen von denen, die sie als zwölf Apostel anerkennt.

Diese Ansicht über Russell und seine Schriften war eindeutig sektiererisch. Überdies war seine Beweihräucherung kaum das, was einem „Knecht“ oder „Sklaven“ üblicherweise zustand. Doch genau das lehrten die Wachtturm-Gesellschaft und ihr Sprachrohr über dreißig Jahre lang. Die Zeugen weisen dies zwar heute zurück, aber man betrachtete es lange als „Wahrheit“, und wenn irgendein Bibelforscher Zweifel daran hatte, sagte man, er ginge in die „geistige Finsternis“. Er hatte nicht die „richtige Einstellung“ gegenüber Gottes „Kanal“. Merkwürdigerweise möchte die Wachtturm-Gesellschaft ihre Anhänger glauben machen, in gewisser Weise sei Gott für das alles verantwortlich.

1917-1919: Wachtturm-Schisma und „babylonische Gefangenschaft“

Nach Russells Tod geriet die Wachtturm-Organisation durcheinander. Gottes „kluger und treuer Knecht“ war nicht mehr da. Der „siebte“ und letzte Bote an die Kirche war tot. Und zwei Jahre zuvor, 1914, war auch nicht das Ende der Welt gekommen, wie Russell es lang zuvor vorhergesagt hatte; und die Bibelforscher waren noch verunsichert über diesen Fehlschlag seiner Prophetie. Manche waren auch enttäuscht von der Bewegung abgefallen. Als ob das nicht genug sei, war ein bitterer Machtkampf in der Wachtturm-Zentrale im Gange, wer in der Gesellschaft das Sagen hätte.

Im Frühjahr und Frühsommer 1917 versuchte Richter Joseph Franklin Rutherford, Russells Nachfolger als Wachtturm-Präsident, praktisch dieselbe absolute Kontrolle über die Tätigkeit der Gesellschaft auszuüben, wie sie Russell hatte. Doch Russell hatte nicht diese Absicht gehabt. In seinem „Letzten Willen und Testament“ hatte er für eine kollektive Führung als seine Nachfolger gesorgt. So nahmen vier Mitglieder des Direktoriums der Gesellschaft, die Mehrheit, starken Anstoß an dem, was sie als Rutherfords selbstherrliches Verhalten ansahen und widersetzten sich ihm klar.

Schließlich kam die Spannung zwischen dem Richter und den Direktoren am 17. Juli 1917 auf einen Höhepunkt. Rutherford verkündete beim Essen in der Bethelfamilie (Brooklyner Personal), er habe die vier Direktoren durch selbsternannte ersetzt und dabei vom Pennsylvanischen Gesetz Gebrauch gemacht, wonach die Aufmüpfigen ihre Stellungen nicht rechtmäßig innehätten.

Später behaupteten Rutherford und die Gesellschaft, eine hitzige, fünfstündige Debatte, die der Ankündigung folgte, sei durch die Gegnerschaft der entlassenen Direktoren gegen die Herausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis verursacht worden, das direkt vor dem dramatischen Coup des Richters für die Bethelfamilie freigegeben wurde. Das Buch wurde zum „siebten Band“ der Schriftstudien Russells hochstilisiert und als posthumes Werk angekündigt. So war es Rutherford möglich zu behaupten — falsch, wie eine spätere Aussage unter Eid erkennen ließ — daß die vier und weitere mit ihnen die geistige Speise vom „klugen und treuen Knecht“ ablehnten. So bekommen Jehovas Zeugen noch heute gesagt, die vier aus dem Amt Gedrängten und später aus der Wachtturm-Zentrale Ausgeschlossenen seien böse und selbstsüchtig gewesen, „böse Sklaven“.

Es stimmt natürlich, daß die vier Direktoren und viele weitere Bibelforscher bald Das vollendete Geheimnis ablehnten, weil sie es nicht als Russells Werk ansahen. Damit reagierten sie nur gemäß ihrer eigenen Überzeugung. Der „siebte Band“ enthielt auch nicht viel aus Russells Hand, doch in Wirklichkeit war er das Werk zweier Unterstützer Rutherfords, Clayton Woodworth und George Fisher. Überdies wurde er den Bibelforschern als der „Groschen“ aus Jesu Gleichnis vom Groschen aus Matthäus 20:1-16 und Lukas 12:42-48 angedreht, und Woodworth bezeichnete Rutherford vor einem Bibelforscher-Kongreß in Boston im Herbst 1917 als den „Verwalter des Groschens“ . So konnten, da nun der letzte „Bote“ an die Kirche tot war, viele der Kritiker Rutherfords unter den Bibelforschern Das vollendete Geheimnis nicht als „neues Licht“ akzeptieren und Rutherfords Verletzung des letzten Willens Russells und seine selbstherrliche Herausgabe des „siebten Bandes“ nur als ungerechtfertigte Machtergreifung ansehen.

Aus der Sicht der Bibelforscher im Jahre 1917 war der „kluge und treue Knecht“ aus Matthäus 24 tot. Der „siebte — und letzte — Bote“ an die Kirche war von ihnen gegangen. Wie konnte man ihnen da ihre Reaktion auf Rutherfords Herausgabe des Buches Das vollendete Geheimnis anrechnen — etwas, das ihnen als anmaßend erschien? Wie konnte jemand etwas der Botschaft hinzufügen, die der „siebte Bote“ bereits überbracht hatte? Ihre Wut kam aus ihrer Loyalität gegenüber Gottes „klugem und treuem Knecht“, Charles Taze Russell — eine Loyalität, wie sie Jehovas Zeugen heute gegenüber einer Körperschaft, der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft zeigen. Sie reagierten auf diese Situation nur gemäß ihrer Überzeugung. Hätten sie unter diesen Umständen anders gehandelt, wäre das Inkonsequenz und aus ihrer Sicht Untreue gewesen. Entweder Russell wurde so gebraucht, wie man es sie gelehrt hatte, oder nicht. Entweder war er der wahre Kanal oder ein falscher. Sie glaubten, er war nicht falsch — er war wirklich Gottes auserwählter Diener. So verließen sie lieber die Wachtturm-Zentrale in Brooklyn, als Rutherfords Angebot anzunehmen, sie zu reisenden „Pilgrimen“ zu ernennen, eine Stellung, die ungefähr dem heutigen Kreisaufseher bei den Zeugen Jehovas gleichkommt.

Der ganze interne Organisationsstreit spielte sich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs ab. Es war eine extrem schwierige Zeit für die Bibelforscher. Nicht nur, daß Russell tot war, seine Vorhersagen zum Ende der Welt 1914 hatten sich nicht erfüllt. Sowohl die Wachtturm-Gesellschaft als auch die Bibelforschergemeinde waren über die Führung der Gesellschaft gespalten. Überdies machte man Bibelforscher als falsche Propheten lächerlich, und einige ihrer Führer — auch Rutherford — wurden unter dem US-Spionagegesetz verhaftet, weil sie gegen die militärischen Anstrengungen Amerkas im Ersten Weltkrieg waren . Doch zu jener Zeit soll sich etwas für die der Gesellschaft gegenüber treuen Bibelforscher Bemerkenswertes zugetragen haben

Nach der heutigen Wachtturm-Lehre ist Jesus Christ 1914 angeblich unsichtbar „gekommen“, und nach seiner Wiederkehr soll er mit dem Gericht über seine irdischen Diener begonnen haben. Die Gesellschaft legt Jesus Worte aus Matthäus 24:46, 47 — „Glücklich ist jener Sklave, wenn ihn sein Herr bei seiner Ankunft so tuend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über seine ganze Habe setzen“ — so aus, als hätten sie sich zu jener Zeit an der treuen Bibelforschergemeinde erfüllt. Nach Wachtturm-Berechnungen ging diese Ernennung im Frühjahr 1919 vor sich. Zu dieser Zeit wurden die Bibelforscher mit allen irdischen Interessen von Gottes neuerrichtetem himmlischen Königreich betraut. Diese Lehre wird ausführlich im Wachtturm vom 1. April 1977 behandelt. Es ist daher der Betrachtung wert, wie die Zeugen die geistigen Verhältnisse während der Zeit von 1914-1918 beschreiben, der Zeit, als sie gemäß ihrem Verständnis vom verherrlichten Herrn Jesus Christus beurteilt wurden, ob sie für größere Dienstvorrechte auf Erden in Frage kämen. Gemäß dem Wachtturm vom 15. Februar 1981 (Seite 26) sagen sie über sich selbst:

Die geistigen Israeliten hatten sich wie die Israeliten zur Zeit Jesajas durch verkehrte Handlungen verkauft und waren in die Knechtschaft Groß-Babylons, des Weltreiches der falschen Religion, und seiner weltlichen Liebhaber geraten ... Besonders bezeichnend dafür ist die Zeit des Ersten Weltkrieges (1914—1918).


Im Wachtturm vom 15. September 1960 (Seiten 563, 564) wird weiteres über ihren Zustand gesagt:

Aber die Schrift zeigt, daß ihre Kleider unrein waren, weil sie so lange mit abtrünnigen Christen verbunden gewesen waren. (Sach. 3:3, 4) Sie pflegten noch viele Gewohnheiten und hatten noch viele Charaktermerkmale und Glaubensansichten, die dem ähnlich waren, was in den unkrautgleichen Sekten der Christenheit zu finden war. Somit kam für sie vom Jahre 1914 bis 1918 eine Zeit feuriger Prüfungen, die nicht ohne Grund mit der alten Zeit von 607 bis 537 v.Chr. verglichen werden kann, während der die Juden in babylonischer Gefangenschaft weilten.


Es heißt dann weiter:

All dies geschah in Verbindung mit ihrer Übertretung, weil sie noch Menschenfurcht gehabt und sich während der Kriegsjahre nicht strikt neutral verhalten hatten und auch mit vielen unreinen religiösen Bräuchen befleckt waren. Jehova und Jesus Christus ließen es geschehen, daß diese Zeugen geschmäht, verfolgt, verboten und ihre Beamten von den Nationen dieser alten Welt eingesperrt wurden. Bis zum Sommer des Jahres 1918 war die Stimme der stark organisierten Wachtturm-Zeugen zum Schweigen gebracht; sie waren also kollektiv getötet worden, wie es in Offenbarung 11:7, 8 prophezeit worden ist. Man beachte jedoch, daß die Stimme dieses Wächters nicht zum Schweigen gebracht wurde, ehe sie ihr phänomenales Werk des Warnens der Völker der Nationen vor 1914 beendet hatte.


Es ist interessant, wie der Wachtturm Mitglieder der Bibelforschergemeinde jener Zeit in den Zitaten beschreibt. Ihre Kleider waren unrein, sie waren mit Abtrünnigkeit infiziert, hatten sich verkehrter Praktiken schuldig gemacht, zeigten unkrautgleiche Eigenschaften, ließen Menschenfurcht erkennen, verkauften sich aufgrund falscher Praktiken in die Sklaverei. Er vergleicht ihre Erfahrungen gar mit der Babylonischen Gefangenschaft der Juden. Sie hatten sich aufgrund falscher Praktiken in die Sklaverei verkauft. Die Juden waren abtrünnig, als sie nach Babylon deportiert wurden, und so sagen auch Jehovas Zeugen, daß die Mitglieder dieser Organisation, die während des Ersten Weltkriegs schon erwachsen waren, ebenfalls abtrünnig waren.

Fehlschläge der Wachtturm-Prophetie

In einem anderen Punkt rühmen Jehovas Zeugen sich heute, sie hätten vor 1914 fast vierzig Jahre lang ein besonderes Predigtwerk durchgeführt, um die Menschheit vor dem zu warnen, was in jenem Jahr geschehen sollte. Aber wenn man sich die Geschichte ansieht, bemerkt man, daß sie eigentlich eine falsche Botschaft verkündeten. Denn was sie verkündeten, war, daß Jesus Christus im Jahre 1874 unsichtbar zurückgekehrt sei und daß die Zeit zwischen 1874 und 1914 eine Erntezeit sei, die 1914 mit der Vernichtung aller menschlichen Nationen enden würde. Im Hinblick darauf schrieb Charles Taze Russell selbst:

Wir erachten es als eine feststehende Wahrheit, daß das endgültige Ende der Königreiche dieser Welt und die vollständige Aufrichtung des Königreiches Gottes am Ende des Jahres 1914 herbeigekommen sein werden. (Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, Seite 55)


Daher gab der zweite Wachtturm-Präsident 1930 zu:

Das ganze Volk des Herrn blickte in freudiger Erwartung auf 1914. Als das Jahr kam und verging, gab es viel Enttäuschung, Kummer und Klagen, und das Volk des Herrn stand in Schande da. Die Geistlichkeit und insbesondere ihre Verbündeten machten sie lächerlich und zeigten verächtlich auf sie, weil sie soviel über 1914 und das, was geschehen sollte, gesagt hatten, und ihre Vorhersagen hatten sich nicht erfüllt. (J.F. Rutherford, Light I (Watchtower Bible and Tract Society, 1930). Seite 194. Eigene Rückübersetzung)


Wie konnten sie da argumentieren, während des Ersten Weltkriegs hätten die Bibelforscher wie ein „kluger und treuer Knecht“ gehandelt? In ihren eigenen Aussagen bezeichnen sie sich als zur damaligen Zeit „untreu“ und von Gott „mißbilligt“. In ihrer eigenen Sicht war dies so sehr der Fall, daß sie wohl geistig verlassen waren, so wie das alte Israel Babylon übergeben worden war. Wie sollten sie also „verständig“ gewesen sein, als sie die falsche Botschaft über 1914 verkündeten? Auch von diesem Faktum her konnten sie vernünftigerweise nicht als Klasse des „treuen und verständigen Sklaven“ angesehen werden. Natürlich muß man einräumen, daß die Bibelforscher der Tage Russells bestimmte wichtige biblische Lehren erkannten. Doch vieles, was sie lehrten, war verschroben. Sie haben viele Endzeitdaten festgesetzt, sie haben törichterweise — und falsch — vorhergesagt, das Weltende sei 1914, und sie hatten eine sektiererische Einstellung zu Charles Taze Russell und seinen Schriften. Noch mehr: sie waren gegnerisch und rechthaberisch gegenüber anderen, die sich weigerten, ihren Offenbarungszeitplan und ihre geistige Überheblichkeit hinzunehmen. Aufgrund dieser abstoßenden Merkmale machten sie ihre geistige Effektivität zum großen Teil zunichte, die sie sonst vielleicht gehabt hätten. Und ihre geistigen Nachfahren, Jehovas Zeugen, sind in ihre Fußstapfen getreten. Auch sie haben einige gesunde biblische Lehren, doch ihre neuartigen Privatauslegungen der Bibel und ihre falschen Vorhersagen weisen sie als viel weniger aus, als sie zu sein beanspruchen.

Über die Zeit von 1914 bis 1918 und den Anspruch der Bibelforscher, 1919 in „größere Königreichsvorrechte“ eingesetzt zu sein, heißt es im Wachtturm vom 15. Oktober 1960 (Seite 564):

Ein treuer Überrest von einigen tausend „Dienern des Hauses“ der „treuen und verständigen Sklaven“-Klasse überlebte diese Zeit der Prüfung. Vom Frühjahr 1919 an begannen sie sich aus dem Staube der Untätigkeit zu ihrem neuen, erhabenen Dienst als Wächter für die Welt zu erheben. (Dan. 12:2; Off. 11:11,12) Die Schrift beschreibt sie auch und sagt, daß sie mit den neuen, reinen Kleidern der Kenntlichmachung bekleidet seien, um Jehovas Interessen auf der Erde zu vertreten.


Das ist wirklich unglaublich! Man gibt zu, fast vierzig Jahre lang falschprophezeit und Berechnungen von Zeitmerkmalen benutzt zu haben, die völlig verkehrt waren. Man gibt zu, man sei unrein und derart abtrünnig gewesen, daß Gott sie dem übergeben habe, was sie „Babylon die Große“ nennen. Und dann sollen wir glauben, daß sie in ein neues erhabenes Dienstvorrecht eingesetzt wurden und alle erweiterten Interessen ihres Meisters, Jesus Christus, wahrnahmen.

Eine solche Lehre ist völlig unlogisch. Das ist so, als würde man zu einem Geschäftsmann gehen, der sich durch seine eigene Dummheit in Schwierigkeiten gebracht und einen Großteil deines Geldes verloren hat und nun den Bankrott erklären muß — und du sagst dann zu diesem Geschäftsmann: „Wohlgetan! Du hast ein kleines Vermögen von mir verloren. Daher werde ich dir jetzt mein ganzes Vermögen anvertrauen.“ Doch genau das lehrt die Wachtturm-Gesellschaft, daß Gott gegenüber ihrer Führung so handelte; und die meisten Zeugen Jehovas glauben es. Natürlich sind sie konditioniert, praktisch alles zu glauben, was die Gesellschaft sagt.

So unglaublich die gerade gegebene Erklärung ist, eine andere kommt ihr zumindest gleich. Zum Ende des Ersten Weltkriegs konnten die Bibelforscher ihre Geschichte nicht weiter als bis 1870 zurückverfolgen, dem Jahr, als Russell mit seiner kleinen Bibelstudienklasse begann. 1919 bestand ihre Bewegung also insgesamt weniger als fünfzig Jahre. Und doch geben sie im Wachtturm vom 15. September 1960 (Seiten 564, 565) folgendes Bild von sich:

Jetzt, da das lang ersehnte Königreich im Himmel eine feststehende Tatsache geworden war, sollten seine Interessen auf Erden, die sich nach dem Jahre 1919 mehrten, bestimmt nicht den Händen einer Organisation von Neulingen, von geistigen Kleinkindern, überlassen werden. Und das geschah auch nicht, sondern der 1900 Jahre alte „treue und verständige Sklave“, die alte Christenversammlung, wurde mit diesem kostbaren Königreichsdienste betraut. Reich an Loyalität und Lauterkeit, langmütig im geduldigen Erleiden von Verfolgung, stark in seinem althergebrachten Glauben an Jehovas kostbare Verheißungen, zuversichtlich über die Führung durch unseren unsichtbaren Herrn, Jesus Christus, gehorsam gegenüber seinem jahrhundertealten Auftrag, Zeuge auf der Erde zu sein, und schließlich gereinigt durch eine feurige Prüfung, die um das Jahr 1918 kam, war der reife „Sklave“, vertreten durch einen Überrest, nun zu neuen Dienstaufgaben bereit.


Auf Seite 566 fügt derselbe Wachtturm hinzu:

Ja, ohne Zweifel steht der alte, aber hellwache, „treue und verständige Sklave“ heute als ein Wunder-Wächter vor den Völkern der Nationen da. Wie schon sein Herr, Jesus Christus, im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung zum Fall und Aufstehen vieler in Israel gesetzt war, so steht heute die gesalbte Zeugenschar vor der ganzen Welt als Führer da, um eine Minderheit aus den Menschen dem Leben entgegenzuführen, erweist sich aber für alle übrigen als ein Anlaß zum Straucheln, was zu deren Vernichtung in Harmagedon führt.


Zu argumentieren, diese neuartige religiöse Organisation, weniger als 50 Jahre alt, zugegebenermaßen ein falsches Evangelium predigend und daher geistig unrein geworden, sei der 19 Jahrhunderte alte „treue und verständige Sklave“ in voller Loyalität und Treue, gehorsam gegenüber seinem jahrhundertealten Auftrag, ist einfach lächerlich. Doch genau das muß die Wachtturm-Gesellschaft ihre Anhänger glauben machen, um den Mythos aufrechtzuerhalten, ihre Führung sei der „treue und verständige Sklave“.

Lehrte die erschütternde Erfahrung von 1914 die Wachtturm-Gesellschaft etwas, vermied ihre geistige Führung danach Privatauslegungen der Bibel zu prophetischen Zeitmerkmalen und das Aufstellen dogmatischer Vorhersagen? Nein! Unmittelbar nach der Enttäuschung von 1914 gerieten sie wieder in eine Falle derselben Sorte. 1920, ein Jahr nach dem Beginn ihrer sogenannten neuen, erhabenen Berufung publizierte die Wachtturm-Gesellschaft eine Broschüre mit dem Titel Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben. Man griff zu Zeitungsanzeigen, um die Vortragsreihe in Verbindung mit dem Buch anzukündigen. Die Kampagne dauerte bis 1925. Das Buch bildete zusammen mit den sieben Bänden der Schriftstudien und weiterer Wachtturm-Literatur die gepredigte „Wahrheit“. Natürlich war darin auch Russells „biblische Chronologie“ enthalten, die die Bibelforscher damals immer noch akzeptierten.

Welche Botschaft sollte durch Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben vermittelt werden? Sie handelt von der Wiederherstellung der Dinge durch Gottes Königreich. Es wird die Wiedereinsetzung des fleischlichen Israel in Gottes Gunst gelehrt, wie Russell es getan hatte. Zusätzlich greift man zu einem ausgefeilten System von Zeitberechnungen, um zu beweisen, daß Gottes Gunst seit 1878 wieder auf den Juden ruhte. Zusätzliche Berechnungen zum israelitischen Jubeljahrsystem werden dafür herangezogen, daß 1925 ein apokalyptisches Jahr werde. Der Buchautor, Richter Rutherford, maßt sich an, zu dieser Vorstellung zu sagen:

Eine einfache Berechnung dieser Jubeljahre bringt uns zu dieser wichtigen Tatsache: Siebenzig Jubeljahre zu je fünfzig Jahren würde uns zu einer Gesamtanzahl von 3.500 Jahren bringen. Da diese Zeitperiode 1575 vor dem Jahre 1 beginnt, würde sie notwendigerweise im Herbst des Jahres 1925 zu Ende gehen, zu welcher Zeit das Vorbild endet und das grosse Gegenbild beginnen muss. Was sollten wir also zu jener Zeit erwarten? Im Vorbilde musste eine volle Wiederherstellung stattfinden; daher muss das grosse Gegenbild den Beginn der Wiederherstellung aller Dinge markieren. Das menschliche Geschlecht zum Lebenm zurückzubringen ist es hauptsächlich, was wiedergebracht werden soll; und da andere Schriftstellen der Tatsache bestimmt Ausdruck geben, dass eine Auferstehung Abrahams, Isaaks, Jakobs und anderer Treuen des alten Bundes stattfinden wird, und dass diese die erste Gunsterweisung empfangen werden, können wir erwarten, im Jahre 1925 Zeuge zu sein von der Rückkehr dieser treuen Männer Israels aus dem Zustande des Todes, indem sie auferweckt und zur vollkommenen Menschlichkeit wiederhergestellt sein werden, um gemacht zu werden zu sichtbaren, gesetzlichen Vertretern der neuen Ordnung der Dinge auf Erden. (Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben (Zürich, Bern 1920), Seite 79, 80)


Rutherford fügt dann hinzu:

Wie wir vorausgehend dargelegt haben, ist der Beginn des grossen JubeljahrZyklus mit dem Jahre 1925 fällig. Zu jener Zeit soll die irdische Phase des Königreiches vorhanden sein. Im elften Kapitel des Hebräerbriefes nennt der Apostel Paulus eine lange Reihe von glaubenstreuen Männern, die vor der Kreuzigung des Herrn und vor dem Beginn der Herauserwählung der Kirche starben. Diese können niemals einen Teil der himmlischen Klasse bilden; sie hatten keine himmlischen Hoffnungen; aber Gott hält etwas Vorzügliches für sie in Bereitschaft. Sie sollen als vollkommene Menschen auferweckt werden und, gemäss seiner Verheissung, die Fürsten oder Herrscher auf Erden bilden. (Psalm 45, 16; Jesaja 32, 1; Matthäus 8, 11.) Daher können wir vertrauensvoll erwarten, dass mit 1925 die Rückkehr Abrahams, Isaaks und Jakobs und der glaubenstreuen Propheten des alten Bundes eintreten wird, besonders derjenigen, deren Namen von dem Apostel in Hebräer 11 genannt werden — zum Zustande menschlicher Vollkommenheit.


Schließlich wird der zweite Wachtturm-Präsident sehr dramatisch:

Auf das zuvor dargelegte Argument gestützt, dass also die alte Ordnung der Dinge, die alte Welt, zu Ende geht und daher verschwindet, und dass die neue Ordnung hereinbricht, und dass das Jahr 1925 die Auferweckung der treuen Ueberwinder des alten Bundes und den Beginn der Wiederherstellung markiert, ist es vernünftig zu schliessen, dass Millionen jetzt auf Erden lebender Menschen im Jahre 1925 noch auf Erden sein werden. Sodann auf die Verheissungen, die in dem Worte Gottes niedergelegt sind, gestützt, müssen wir zu dem positiven und unbestreitbaren Schluss kommen, dass Millionen jetzt Lebender nie sterben werden.


Das war also die „großartige Botschaft“, die die Bibelforscher 1919, direkt nach ihrer „Ernennung“ durch Gott in ihr neues erhöhtes Dienstvorrecht, zu verkünden begannen. Natürlich geschah das angeblich unter der Leitung Jeus Christi. Und diese Vorstellung verkündet die WachtturmGesellschaft noch heute! Alle loyalen Zeugen Jehovas lehrt man, daß sie annehmen müssen, was eigentlich die größten Irrtümer sind, weil Gottes „Sklave“ sie es durch seinen „Kanal“ gelehrt habe. Tun sie es nicht, beschuldigt man sie, nicht den „nötigen Respekt“ vor der „einen Organisation“ zu zeigen, die Jehova Gott heute auf Erden benutzt.

Natürlich hat die Geschichte Richter Rutherfords Prophezeiung zu 1925 Lügen gestraft; eine Prophezeiung, die damals als „die Wahrheit“ gehandelt wurde und die, so lehrt die Wachtturm-Gesellschaft, für den 1.900 Jahre alten „treuen und verständigen Sklaven“ beschafft und ihm als Speise gegeben wurde. Doch noch vor diesem Fehlschlag verlautete die Gesellschaft über jeden Bibelforscher, der Zweifel hatte, er sei in die geistige Finsternis gegangen. Um in der „Wahrheit“ zu sein, mußte man glauben , was sich dann als falsch herausstellte.

Das Buch Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben rühmt sehr den Erfolg der „Millionen-Kampagne“, wie sie es nennt. Sie nennt die Zahl der Ansprachen, der verkauften Bücher, der Zunahme an Bibelforschern, aber es sagt nichts über den Inhalt von Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben. Das wäre peinlich. Was geschah in den Reihen der Bibelforscher, als 1925 kam und die Auferstehung der Treuen der alten Zeit nicht, und als der auf der Erde spielende Teil der Auferstehung nicht begann? Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben kommentiert das zahlenmäßige Wachstum der Bibelforscher:

Während der Jahre 1922 bis 1925 half Jehova Gott seinem Volke, zu warten oder auszuharren und das Werk der Verkündigung in immer größerem Umfang durchzuführen. Dies hatte zur Folge, daß viele weitere Menschen in das Heiligtum hereingebracht wurden, damit sie Glieder des von Jehova geweihten Überrests werden könnten. Das konnte man an der stets zunehmenden Zahl der Teilnehmer bei der jährlichen Feier des Abendmahls des Herrn sehen, an dem 32.661 Personen im Jahre 1922 teinahmen, 42.000 im Jahre 1923, 65.105 im Jahre 1924 und 90.434 im Jahre 1925. Offensichtlich gab es jedoch einige, die nicht mit dem treuen Überrest des Herrn „warteten“. Im Jahre 1926 wurde ein Absinken der Teilnehmerzahl gemeldet, denn am 27. März nahmen nur noch 89.278 Personen am Abendmahl des Herrn teil. Besonders das Jahr 1925 erwies sich für viele Glieder des Volkes Jehovas als ein Jahr großer Prüfungen. Einige gaben das Warten auf und gingen mit der Welt. (Seite 110)


Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben erwähnt nicht, warum 1925 ein solches Prüfungsjahr für die Bibelforscher war. Man verdreht Tatsachen, schreibt Halbwahrheiten und färbt die Geschichte gemäß den eigenen Vorurteilen. Damit hat sich die Führung der Gesellschaft schon immer von jeder Schuld freigesprochen. Sie erklärt ihre Falschvorhersagen damit, sie lehre die „gegenwärtige Wahrheit“, auch wenn sie tatsächlich verkündete, was Falschprophezeiungen waren. In unehrlicher Weise hat sie die Dreistigkeit, zu verkünden, daß die, die sie durch solche doktrinären Verrenkungen zum Straucheln brachte, „untreu“, „böse“ und „böse Sklaven“ waren, die es versäumten, „auf Jehova zu warten“. Doch es sind sie — die Führer der Gesellschaft —, die, gemessen an den eigenen Maßstäben, versäumten, „auf Jehova zu warten“, und die „sein Volk“ mit Lügen prüften.

"Nichtinspirierte Offenbarungen"

Trotz alledem ist man verpflichtet, die Sichtweise der Gesellschaft über ihre Geschichte und ihren Platz im göttlichen Schema anzunehmen, wenn man ein treuer Zeuge Jehovas bleiben will. Doch dies nach einer Untersuchung der beschriebenen Falschprophezeiungen und der daraus resultierenden Enttäuschungen zu tun, erfordert wirkliche Naivität. Wer diese Enttäuschungen durchlebt hat und dennoch ungebrochenes Vertrauen zur Wachtturm-Gesellschaft hat, muß wohl eher als leichtgläubig denn als gläubig bezeichnet werden.

Die Gesellschaft erhebt nicht den Anspruch, inspiriert zu sein, sie spricht jedoch mit derselben Autorität, als sei sie es gewesen und sei es noch. Und sie verlangt, daß man ihr unbesehen alles abnimmt, als ob sie inspiriert sei. Dabei läßt sie nicht einmal zu, daß man eine ihrer Lehren in Frage stellt, anzweifelt oder mit Vorbehalt betrachtet. Wenn dann etwas geändert oder berichtigt werden muß oder eine Prophezeiung sich nicht erfüllt, lehnt sie die Verantwortung dafür ab. Der Wachtturm vom 15. September 1964 ist typisch für die deutliche Beschreibung ihrer Haltung. Es heißt dort, Jehova offenbare heute der Christenversammlung ebenso Wahrheiten wie den Urchristen. Durch diese Christenversammlung würde Prophetie weitergegeben, da Jesus vorhergesagt habe, durch einen „treuen und verständigen Sklaven“ würden forschreitende Offenbarungen von Gott kommen.

Praktisch beansprucht die Wachtturm-Gesellschaft also göttliche Inspiration. Wörterbücher erklären „offenbaren“ als „Kommunikation oder Kundgabe auf übernatürliche Art“. Mit anderen Worten: etwas „Offenbartes“ lernt man nicht durch gewöhnliche Kanäle oder Prozesse kennen; es ist wie die Bibel selbst inspiriert oder „von Gott eingehaucht“. Und die Wörterbuchdefinition von Inspiration ist der für „Offenbarung“ und dem Verb „offenbaren“ sehr ähnlich. Es handelt sich um einen „übernatürlichen Einfluß, der Menschen befähigt, göttliche Wahrheit zu empfangen.“

Genau das behauptet die Wachtturm-Gesellschaft. Daß man im Gegensatz zu dem Anspruch, inspiriert zu sein, den Begriff „geoffenbart“ verwendet, ist nur ein semantisches Problem — eine Frage der Wortwahl für im Prinzip dasselbe. Man nimmt ihn nur, um Änderungen, Widersprüche und enttäuschte Hoffnungen hinwegzuerklären. Wenn man meint, es handle sich nur um eine Gruppe religiöser Menschen, die zwar aufrichtig sind, aber nicht unter einer besonderen göttlichen Führung stehen, dann machen ihre Erfahrungen Sinn, weil hier der Faktor Mensch deutlich wird — Fehleinschätzungen, der Hang, aus allem einen Kult zu machen, usw. Wenn man jedoch andererseits argumentiert, Jehova stehe hinter allem, dann ergibt sich kein Sinn. Verwirrung, widersprüchliche Botschaften, sektiererische Loyalität der Bibelforscher/Zeugen erst gegenüber Russell und dann der Wachtturm-Gesellschaft zeugt nicht von dem göttlichen Sinn, den die Bibel meint. So einfach ist das!

Von christlichen Standpunkt aus hat der allmächtige Gott immer wieder in der Bibel gezeigt, daß er unvollkommene Menschen eine eindeutige, genaue Botschaft verkünden lassen kann, wenn das sein Wille ist. Sie muß nicht modernisiert, geändert, um- oder wegerklärt werden. Wahre Propheten lagen nie verkehrt. Warum sollte man die Wachtturm-Gesellschaft mit ihrer Prophetie ernst nehmen, wenn man ihre Geschichte kennt? Seit 1975 gibt es eine weitere Enttäuschung über ein Datum. Aber die Führung möchte nicht darüber reden, und wenn man das Vorgehen der Gesellschaft in der Vergangenheit sieht: sie wird sie auch diesmal überspielen.

Die Wachtturm-Gesellschaft und 1975

Es bleibt die Tatsache bestehen, daß Wachtturm-Führer ihre Spekulationen über das Jahr 1975 anstellten und unterstellten, in jenem Jahr würde das Weltende kommen. Viele Zeugen Jehovas glaubten ganz und gar, daß das geschähe, und als es nicht so kam, waren einige ernüchtert. Es stimmt zwar, daß die Führung der Gesellschaft nicht ausdrücklich sagte, 1975 würde das Ende der Welt bedeuten, aber sie legte die Grundlage für diesen Glauben und gebrauchte sogenannte „Zeitmerkmale“ zusammen mit weiteren scheinbar treffenden Argumenten, um den Eindruck aufrechtzuerhalten, es könne sich sehr wohl um ein „gekennzeichnetes Jahr“ handeln. Natürlich gab es eine große Bestürzung bei Jehovas Zeugen, als das Jahr kam und vorbeiging, ohne daß etwas Besonderes geschehen war. Der Wachtturm vom 15. Oktober 1976 sprach diese Bestürzung in einem Artikel mit dem Titel „Eine sichere Grundlage für unser Vertrauen“ an und hatte dazu zu sagen (Seite 632):

Es kann sein, daß sich einige Diener Gottes bei ihren Planungen von einer verkehrten Ansicht darüber leiten ließen, was an einem gewissen Datum oder in einem bestimmten Jahr geschehen würde.


Bedeutsamerweise vermied dieser Wachtturm jede Erwähnung des Jahres 1975 in dieser Aussage, aber jeder, der ihn in den Königreichssälen der Zeugen Jehovas las und studierte, wußte, auf welches Datum der Artikel anspielte.

Doch sowohl die Wachtturm-Gesellschaft als auch die meisten Zeugen Jehovas haben die biblische Warnung über das Ende dieser Welt oder dieses „Systems der Dinge“ außer acht gelassen und meinen, daß die „Bibelchronologie“ helfe, spezifische Daten aufzudecken. So war es also nicht göttliche Prophetie, die versagt hatte und zu dieser Enttäuschung geführt hatte: es war ihr eigenes Verständnis auf der Grundlage falscher Prämissen. Nirgendwo in der Erörterung räumen die Herausgeber des Wachtturms vom 15. Oktober 1976 ihre Verantwortung für die falschen Erwartungen ein. Erst sieben Jahre später ließ sich das Sprachrohr der Wachtturm-Gesellschaft herbei, anzuerkennen, daß ihre Vertreter verkehrte Vorstellungen über das Jahr 1975 gefördert hatten. Im Sommer 1979 wurden vor den auf den Wachtturm-„Bezirkskongressen“ versammelten Zeugen Aussagen dazu gemacht. Sie wurden im Wachtturm vom 15. Juni 1980 veröffentlicht und lauteten (Seiten 17, 18):

In der Ausgabe vom 15. Oktober 1976 schrieb Der Wachtturm, es sei nicht ratsam, sein Augenmerk auf ein bestimmtes Datum zu richten. In diesem Zusammenhang hieß es: „Falls jemand enttäuscht worden ist, weil er nicht diese Einstellung hatte, sollte er sich jetzt bemühen, seine Ansicht zu ändern, und sollte erkennen, daß nicht das Wort Gottes versagt und ihn betrogen und enttäuscht hat, sondern daß sein eigenes Verständnis auf falschen Voraussetzungen beruhte.“ Wenn Der Wachtturm hier „jemand“ sagte, so meinte er damit alle enttäuschten Zeugen Jehovas, also auch diejenigen, die an der Veröffentlichung von Informationen beteiligt waren, die dazu beitrugen, daß in bezug auf dieses Datum Hoffnungen geweckt wurden.


Wiederholte Falschprophezeiungen

Mit anderen Worten, die Wachtturm-Führer täuschten und enttäuschten nicht nur die Leser des Wachtturms, sie täuschten und enttäuschten auch sich selbst. Sie nahmen sich selbst als „Behältnis aller göttlicher Erleuchtung“ so wichtig, daß sie sogar kühn genug waren, ihre Spekulationen betreffs 1975 weltweit zu verkünden — was sie zwischen 1966 und 1975 taten. Und doch behauptet die Gesellschaft jetzt, daß sie nicht die Schuld eines falschen Propheten in der Organisation trifft. Es bleibt aber Faktum, daß die Führung falschprophezeite. Sie prophezeite vierzig Jahre lang vor und innerhalb des Jahres 1914 falsch. Sie prophezeite von 1920 bis 1925 falsch mit Bezug auf das, was in dem letztgenannten Jahr geschehen sollte. Und auch dann, wenn man ihre Spekulation bezüglich 1975 als etwas ansieht, das nur eine „Möglichkeit“ war (und dann doch eher eine „Wahrscheinlichkeit“), müßte man genau fragen, ob es von Verständnis zeugte, solche Spekulationen weltweit zu verbreiten — Spekulationen, die zu falschen Hoffnungen führten und bei Millionen wiederum Enttäuschung weckten.

Die Bibel, von Jehovas Zeugen als das „Wort Gottes“ angesehen, macht sehr deutlich den Unterschied zwischen einem wahren und einem falschen Propheten klar. In 5.Mose 18:20-22 heißt es:

Der Prophet jedoch, der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu reden, das zu reden ich ihm nicht geboten habe, oder der im Namen anderer Götter redet, dieser Prophet soll sterben. Und falls du in deinem Herzen sagen solltest: ‘Wie werden wir das Wort erkennen, das Jehova nicht geredet hat?’ — wenn der Prophet im Namen Jehovas redet, und das Wort trifft nicht ein oder bewahrheitet sich nicht, so ist dieses das Wort, das Jehova nicht geredet hat. Mit Vermessenheit hat der Prophet es geredet. Du sollst nicht vor ihm erschrecken.


Trotz der Fehlschläge in der Vergangenheit predigt die Führung der Gesellschaft weiterhin dogmatisch, daß die Welt am Rande der Vernichtung lebt — der Schlacht von Harmagedon. Sie lehrt immer noch, daß das Ende der Welt in Kürze kommen müsse, obwohl die Generation, die alt genug war, die Ereignisse 1914 bewußt zu erleben, in neuerer Zeit von diesem Datum abgekoppelt wird. Denn in genau derselben Wachtturm-Ausgabe, in der die Führung der Gesellschaft Jehovas Zeugen wegen der Erwartung eines genauen Datums (1975) für ihre Erlösung aus dieser Welt kritisierte — der Ausgabe vom 15. Oktober 1976 — fuhr sie fort, zu mit absoluter Sicherheit zu sagen, das Ende müsse innerhalb der Generation seit 1914 kommen. Auf Seite 627 heißt es:

Die „Offenbarung von Jesus Christus“ beweist also, daß sich die in Matthäus 24, Markus 13 und Lukas 21 aufgezeichnete Prophezeiung Jesu über die „große Drangsal“ nicht auf das erste Jahrhundert beschränkte. Sie zeigt, daß die Prophezeiung Jesu durch die Drangsal, die Jerusalem erlebte, nur im kleinen erfüllt wurde und daß ihre größere Erfüllung, von der die ganze Erde betroffen werden sollte, die Drangsal Jerusalems weit in den Schatten stellen würde. So sicher, wie die Generation, die im ersten Jahrhundert lebte und die damals Jesu Warnung hörte, die Generation war, die eine Erfüllung seiner Worte erlebte, so sicher wird auch unsere Generation — die Generation, die die größere Erfüllung des „Zeichens“ sieht, das die letzten Tage dieses Systems der Dinge kennzeichnet — die bevorstehende weltweite Drangsal erleben (Matth. 24:34).


Mit dieser Annahme, nimmt der Wachtturm, der für die jetzige Führung spricht, einen eindeutigen Standpunkt ein, wann das Ende der Welt kommen müsse, obwohl wir jetzt (1997) schon 83 Jahre nach 1914 leben. Mit ihrer Gewißheit und ihrem Dogmatismus sagt sie praktisch immer noch, ihr Wort, ihre Auslegung des Wortes Gottes aus der Bibel, ihre Lesart der sogenannten „Zeichen der Zeit“ sei ebenso sicher und gültig wie die inspirierte Lehre des Herrn Jesus Christus. Und paradoxerweise sagt sie gleichzeitig, sie sei nicht inspiriert. Dazu heißt es im Wachtturm vom 1. März 1981 (Seite 29):

Der „Sklave“ ist nicht von Gott inspiriert, sondern fährt fort, die Heilige Schrift zu durchforschen und die Weltereignisse sowie die Situation des Volkes Gottes sorgfältig zu studieren, um zu einem Verständnis der Erfüllung biblischer Prophezeiungen zu gelangen. Zufolge menschlicher Unzulänglichkeiten kann es gelegentlich vorkommen, daß er etwas nur teilweise oder unrichtig versteht, so daß später eine Korrektur erforderlich wird. Aber das bedeutet nicht, daß der „Sklave“ erst Erklärungen veröffentlichen darf, wenn das endgültige, vollständige Verständnis vorhanden ist.


Wie der Wachtturm argumentiert

Diese Art der Argumentation ist nichts weiter als eine Nebelwand, um die Tatsache zu vernebeln, daß Wachtturm-Führer einen Dogmatismus verkünden, der sich oft als irreführend oder falsch erweist. Wenn sie zukünftige Ereignisse ankündigt, ist sie dabei fast nie so vorsichtig zu sagen: „So verstehen wir die Sache gegenwärtig“ oder: „Dies scheint der Fall zu sein.“ Nein! Sie spricht mit einer Sicherheit, wie Rutherford und Russell es taten. Sie beharrt darauf, daß ihre Anhänger sie ebenso ernst nehmen wie direkte Aussagen aus der Bibel. Wenn sich ihre Vorhersage dann als falsch erweist, entschuldigt sie sich damit, sie sei ja schließlich nicht inspiriert. Mit anderen Worten, sie möchte uns glauben machen, sie sei von Jehova Gott ermächtigt, ihren Anhängern alles mögliche zu verkünden, was sie für die Wahrheit hält, und daß diese armen „Schafe“ verpflichtet seie, es zu akzeptieren. Sie dürfen keine Zweifel haben; sie müssen es ebenfalls verkünden. Und selbst wenn es falsch ist, geht das in Ordnung, weil ihre Fehler offensichtlich von Gott sanktioniert werden. So können Jehovas Zeugen gemäß der Wachtturm-Führung keinen Fehler machen, wenn sie etwas von Tür zu Tür oder von den Hausdächern predigen, das in den Publikationen der Gesellschaft veröffentlicht ist. Auch wenn es sich als falsch herausstellen sollte, wird es weder den Verkündigern noch ihren Zuhörern schaden. Aber das stimmt nicht, denn viele haben durch die falschen Wachtturm-Prophezeiungen geistige und psychische Enttäuschungen erlitten.

Das „Gleichnis“ vom „klugen und treuen Knecht“ oder „treuen und verständigen Sklaven“ aus Matthäus 24:45-51 ist eben nicht mehr als genau das, eine einfache Veranschaulichung, die jeden Christen zur Glaubenstreue auffordert. Der Kontext der Verse zeigt, daß Christi Wiederkehr plötzlich, unangemeldet, wie ein Dieb mitten in der Nacht kommen werde — daher die Notwendigkeit für Christen, geistig wachsam und wach zu sein. Die diesem Text von der Wachtturm-Gesellschaft übergestülpte Auslegung paßt weder zur Geschichte der christlichen Kirchen in der Welt noch zur eigenen Geschichte seit den 1870er Jahren. Tatsächlich legt die Wachtturm-Gesellschaft diese Passage so aus, um über Denken und Leben der Zeugen Jehovas die Kontrolle zu behalten. Nach der Bibel findet die schließliche Trennung von Unkraut und Weizen erst nach Christi Wiederkehr statt, und dann werden Engel trennen, nicht Menschen. Bibelforscher haben die Bibel in falscher Weise benutzt, um Russell als den „klugen und treuen Knecht“ und den „siebten Boten“ auszumachen. Sie haben sie falsch dazu benutzt, die Zeitmerkmale auszumachen, die auf 1914 als dem Jahr, in dem die Welt endet, weisen. Rutherford benutzte sie falsch, um das Weltende für 1925 vorherzusagen. Die neuzeitliche Wachtturm-Gesellschaft benutzte sie falsch, um Spekulationen über 1975 anzustellen. Und gerade der letzte Fall zeigt deutlich, wie einfach es für manipulierte Menschen ist, sich so vollständig auf die Gedanken von Einzelpersonen zu verlassen, denen sie überhöhte Rollen geistiger Vorherrschaft zuweisen.

Russells Anhänger wollten glauben, daß er der „Knecht“ sei. Sie wollten glauben, die Welt ende im Jahre 1914 und sie seien Gottes ernannte Vertreter, seine besonderen Boten. Sie wollten einfach glauben, daß Rutherford recht hatte, als er zwischen 1920 und 1925 die Broschüre Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben verteilte. Jehovas Zeugen wollten glauben, daß die Annahmen im Wachtturm zum Jahr 1975 vor diesem Zeitpunkt korrekt waren. Aber in jedem dieser Fälle stellte sich heraus, daß die Bibelforscher oder die Zeugen Jehovas verkehrt lagen. Ihr Wunsch, recht zu haben, ließ es damit noch nicht automatisch recht sein. Ihr Eifer zu glauben, die Wachtturm-Lehre habe recht, machte sie noch nicht richtig. In allen Fällen haben die Erwartungen der Zeugen Jehovas in Verbindung mit einem Datum zu Enttäuschungen geführt. Deshalb hat sich der treue und verständige Sklave im Lichte der Geschichte als gründlich unverständig erwiesen.

Nach allen diesen Ereignissen haben sie jeweils nach Gründen gesucht, warum die Prophezeiungen nicht eintrafen. Es wäre töricht zu argumentieren, weil die Wachtturm Bibel- und TraktatGesellschaft gewisse richtige Dinge gelehrt habe, sei man verpflichtet, alle ihre Lehren anzunehmen. Die eigene Geschichte zeigt, daß sie auf gewissen Gebieten eher falsch als richtig liegt. Das stimmt sicher im Hinblick auf ihre Bemühungen, prophezeite Zeitmerkmale in das hineinzulesen, was sie als die „Letzten Tage“ ansieht. Man erinnere sich an 5. Mose 18 über den anmaßenden Propheten, der vielleicht Vorhersagen machte, die nicht eintrafen. Erinnern wir uns, daß wir gesagt bekamen, wir sollten keine Furcht vor ihm haben. Daher sollten wir uns von der Wachtturm-Gesellschaft nicht einschüchtern lassen, egal wie dogmatisch und drohend sie redet.

Diese Gesellschaft lehrt, daß man ihr glauben und sie achten müsse, um gerettet zu werden. Die Bibel dagegen sagt, um gerettet zu werden, müsse man an den Herrn Jesus Christus glauben. Nirgendwo sagt die Bibel uns, um gerettet zu werden, müßten wir eine Organisation von Menschen anerkennen. Aber durch ihre Lehren sagt die Gesellschaft heute praktisch, wenn man nicht mit ihr zusammenarbeite; wenn man nicht genau predige, was sie ihren Predigern vorgibt; wenn man sie nicht als den Kanal des heiligen Geistes Gottes ansehe: dann könne man nicht gerettet werden! Wenn Harmagedon komme, werde man vernichtet. So hat sich die Führung der Gesellschaft unentbehrlich für die Rettung der Menschheit gemacht. In der Bibel dagegen wird die einzige Person genannt, die für die Rettung der Menschen unverzichtbar ist: unser Herr Jesus Christus — der einzige Name, der unter dem Himmel gegeben worden ist, durch den wir gerettet werden können (Apostelgeschichte 4:12).