IM EIGENEN DENKEN GEFANGEN

von W.P. Brown, MP

Ein Mitglied des britischen Parlamentes umreisst die Gefahren, Sklave von Institutionen oder Organisationen zu werden.

Man kann Menschen auf vielerlei Weise klassifizieren — als Ober-, Mittel- oder Unterschicht; reich, wohlhabend und arm; religiös, skeptisch und theistisch; konservativ, liberal, sozialdemokratisch, katholisch, protestantisch, sein eigener Herr usw. — ohne Ende. Doch ich glaube, die einzige Einordnung, auf die es wirklich ankommt, ist die, die Menschen als Diener des Geistes von Sklaven der Organisation trennt. Diese Einordnung, die quer durch alle anderen Einordnungen geht, ist tatsächlich die grundlegende. Die Idee, die Inspiration hat ihren Ursprung in der Innenwelt, der Welt des Geistes. Aber so, wie der menschliche Geist sich in einen Körper inkarnieren muss, so muss sich die Idee in eine Organisation inkarnieren. Ob es sich um eine politische, religiöse oder soziale Organisation handelt, spielt hier keine Rolle. Der entscheidende Punkt ist: Wenn die Idee als Organisation Gestalt angenommen hat, dann wird die Organisation die Idee, der sie ihr Dasein verdankt, langsam, aber sicher zunichte machen.

Wir können diesen Prozess auf vielen Gebieten am Werk sehen. Eins oder zwei davon möchten wir illustrieren. Auf dem Gebiet der Religion hat ein Prophet, ein Inspirierter, eine Vision der Wahrheit. Er äußert diese Vision in Worten, so gut er kann. Er sagt nicht alles, was er gesehen hat. Jede Äußerung von Wahrheit hat ihre Grenzen. Aber er wird sozusagen die Bedeutung seiner Vision ausdrücken. Wer ihm zuhört, versteht ihn nur zum Teil, und wenn er wiederholt, was er meinte, soweit er ihn verstanden hat, weicht dies bereits erheblich von der ursprünglichen Vision des Propheten ab. Auf das, was die Jünger des Propheten von seiner Botschaft verstanden haben, wird eine Organisation, eine Kirche gebaut. Die halb verstandene Botschaft wird als Glaubensbekenntnis Form annehmen. Über kurz oder lang besteht das Hauptinteresse der Kirche dann darin, sich selbst als Organisation am Leben zu erhalten. Zu diesem Zweck muß sie jedem Abweichen vom Glaubensbekenntnis mit Widerspruch begegnen; nötigenfalls muß sie es als Ketzerei zum Schweigen bringen. Was einmal als Bühne für eine neue und höhere Wahrheit gedacht war, ist innerhalb von ein paar dutzend oder auch einigen hundert Jahren zum Gefängnis für den menschlichen Geist geworden. Und Menschen bringen sich für die Liebe Gottes gegenseitig um. Die Sache hat sich ins Gegenteil verkehrt.

Auf dem Gebiet der Politik träumen die Entrechteten von einer Sozialordnung, die sich auf Gerechtigkeit gründet, ein System, in dem der eine den anderen nicht ausbeutet, in dem jeder nach seinem Vermögen seinen Beitrag leistet und nach seinen Bedrüfnissen erhält. Auf diesem Konzept ist eine politische Partei aufgebaut. Sie bekämpft über die Jahre die bestehende Ordnung. Wie bei der Kirche dauert es nicht lang, bis das Hauptanliegen der Partei die Selbsterhaltung ist. Auch hier muss jede Abweichung vom politischen Glaubensbekenntnis unterdrückt werden. Die „Parteilinie“ muss beibehalten und Abweichung niedergehalten werden. Im Laufe der Zeit wird die Partei mächtig. Jetzt wird sie nicht mehr von blauäugigen Idealisten geführt, sondern von äußerst Unnachgiebigen — die jetzt die neu gewonnene Macht dazu benutzen, einen schlimmeren Despotismus aufzurichten als den, den sie umgestoßen haben, und alle Löcher verstopfen, die sie in dem alten entdeckt haben. Das Ergebnis ist nicht Freiheit und soziale Gerechtigkeit, sondern eine umfassende und totalitäre Kontrolle, um eine neue Klasse von Privilegierten zu stützen, die wegen der früheren Erfahrungen ihrer Mitglieder noch rücksichtsloser als die alte ist.

Ähnliche Veranschaulichungen könnte man von jedem Gebiete des Lebens anstellen. Aber diese beiden genügen, um die Wahrheit zu zeigen, um die es mir hier geht. Hat die Idee einmal die Organisation hervorgebracht, entwickelt diese ein Eigenleben, das keine Verbindung zur anfänglichen Idee mehr hat und ihr zu schaden beginnt. Was diesen Abweichungsprozess ablaufen lässt, so dass die Organisation schließlich das Gegenteil der ursprünglichen Idee repräsentiert, ist die menschliche Neigung, sich in Organisationsdenken zu verfangen, statt dem Geiste zu dienen. In dieser Neigung gibt es viele Elemente. In einem gewissen Sinne kann man keine Organisation führen, ohne ihr Gefangener zu werden. Organisationen haben ihre eigenen Zwänge, in deren Interesse die ursprüngliche Idee etwas modifiziert werden muss. Sobald sich die unmanifestierte Idee konkretisiert, beginnt in sie das einzudringen, was der Dichter „das langsame Rosten der Welt“ nennt. Dabei muss von seiten der Führer keine bewusste Untreue im Spiel sein. Sie argumentieren vielleicht: Besser, die große Idee nimmt nur teilweise Form an, als dass sie nur als Idee im leeren Raum schwebt. Besser eine Scheibe, als gar kein Brot.

Dann: Je weiter das Gebiet, in das die Idee eingeführt wird, je größer der Kreis von Menschen, denen sie durch die Organisation propagiert wird, um so mehr muss sie aus Propagandazwecken „vereinfacht“ werden. Die Idee, die eine Partei hervorbringt, die eine gerechte Sozialordnung aufrichten will, muss in praktische Vorschläge übersetzt werden, wie den Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche, und was nicht alles, wenn sie die Massen anziehen soll. Und so wird die Organisation weniger zur Bühne für die Idee als vielmehr zu einem Kanal, mittels dessen man bestimmten Interessen zu dienen hat. Das Dienen solch bestimmter Interessen zieht weitere Organisationen an, die mehr an den begrenzten Zielen interessiert sind, die sich die Organisation jetzt zu eigen gemacht hat, als an der großen Idee selbst. Und die Organisation fühlt den Druck solcher Gruppierungen, mit dem Ergebnis, dass die Idee zugunsten weniger ehrgeiziger Ziele in den Hintergrund tritt. In dieser Welt geht der Teufel um, und manchmal muss man ihm eine Kerze halten.

Ein weiteres Element ist dieses: Bei Propheten besteht immer eine gute Chance, dass sie kaltgestellt werden. Diese Chance nimmt zu, wenn sie von den Bergen in die Dörfer kommen, und noch mehr, wenn sie unbewaffnet sind. Propheten sollten nur dann unbewaffnet in die Dörfer gehen, wenn sie glauben, ihr Werk sei vollbracht, und bereit sind, abzutreten. Manche Propheten greifen zu Waffen. Der eigentliche Prophet tut das vielleicht nicht, aber seine Anhänger tun es. Man muss den Teufel mit seinen eigenen Waffen schlagen. Das ist von der Begründung her vernünftig, aber praktisch verheerend. Denn es heißt, dass ein Diener Gottes, der Anhänger der Idee, dazu neigt, auf die Ebene des Teufels hinabzusteigen. Die Organisation wächst und verdirbt dabei immer mehr. Ihre Führer sind nicht die Männer, die sie einmal waren.

Unter den einfachen Mitgliedern kommt vieles zusammen, das sie in der Organisation hält, selbst wenn ihnen beunruhigend bewusst wird, dass sich zwischen der Organisation und der Idee ein Riss aufzutun beginnt oder bereits eine gähnende Kluft besteht. Zuerst ist da die Trägheit. Es ist leichter, nicht zu gehen, als zu gehen. Sich treiben zu lassen ist einfacher, als eine Entscheidung zu treffen. Dann gibt es da die Sentimentalität. Wir alle neigen dazu, auf eine Organisation, deren Mitglieder wir sind, die guten Eigenschaften zu projizieren, die wir gerne hätten, und die Augen vor ihren Fehlern zu verschließen. Und schließlich sind Menschen Herdentiere. Sie tanzen nicht gerne aus der Reihe, weg von ihren Genossen. Allmählich ändert sich die Organisation. Und damit zieht sie neue Elemente an, die die Änderung gutheißen. Nicht aus bewusster Berechnung, was erst viel später kommt, wenn die Idee aufgegeben wird, sondern weil die Organisation ihre eigene Logik entwickelt, ihre eigene Daseinsberechtigung. Und weil Menschen dazu neigen, Gefangene der Organisation zu werden, kann es passieren, dass die Organisation schließlich für das genaue Gegenteil der Idee steht, der sie ihr Dasein verdankt.

Was ist die Moral von der Geschichte?

Eine Moral, so wäre es nicht gänzlich spöttisch vorzuschlagen, könnte sein, dass die erste Regel für eine Organisation die sein sollte, die dafür sorgt, dass sie sich in einer begrenzten Zeit selbst auflöst. „Diese Organisation wird nicht später als ... aufgelöst.“ Aber bei der tieferen Moral geht es um unsere Haltung gegenüber Organisationen als solchen. Die Moral ist, dass wir, selbst wenn wir Mitglieder einer Organisation sind, immer einen teilweisen Abstand von ihr einhalten. Selbst wenn wir ihr Mitglied sind, müssen wir über ihr stehen. Wir sollten in dem Wissen einig sein, dass wir keinen dauerhaften Platz in ihr haben. Wir sollten wochenweise Mieter sein, keine Dauerpächter. Wir sollten keine Verpflichtungen übernehmen, die uns daran hindern, zu gehen, wenn die Umstände es erfordern. Wir sollten darauf zählen, in fast ständigem Aufstand mit ihr zu sein. Über allem anderen sollten wir unsere Treue gegenüber einer Organisation als vorläufig und provisorisch ansehen. Die ganze Vorstellung von „meine Partei, im Guten wie im Bösen“, „meine Union, im Guten wie im Bösen“, „meine Kirche, im Guten wie im Bösen“ sollte unserem Denken völlig fremd sein. Wir müssen Diener des Geistes sein, nicht Gefangene einer Organisation. Wir müssen Kontakt zu den Quellen des Lebens halten, nicht uns in ihren zeitweiligen Werkzeugen verlieren. Und wann immer die Forderungen des Geistes, die Kategorischen Imperative der Seele, mit den Forderungen einer Organisation im Widerspruch stehen, ist alles mit einem der legendären Ausspüche Jesu gesagt, der alle Anzeichen der Authentizität in sich trägt:

Diese Welt ist eine Brücke. Ihr könnt über sie hinübergehen, aber ihr werdet keine Häuser auf ihr bauen.

Biwaks. Ja! Zelte. Vielleicht! Häuser. Nein!