EINLEITUNG

Für sich selbst denken

Die Wachtturm-Gesellschaft ermuntert manchmal Menschen, ihr eigenes Denkvermögen zu gebrauchen, wenn es um Themen wie die Religion geht. Doch die Gesellschaft möchte nicht, dass Jehovas Zeugen diese Fähigkeit auf ihre eigene Religion anwenden.

Erwachet! vom 8. Dezember 1978 veröffentlichte den Artikel „Lässt du andere für dich denken?“ Er ermunterte Menschen, sich nicht von Evolutionisten unter Druck setzen zu lassen, an die Evokution zu glauben. Auf den Seiten 3 und 4 des Artikels hieß es:

IN DER Schule wird uns beigebracht, wie man zu einer Auffassung gelangt. Die Propagandisten möchten uns beibringen, welche Auffassung wir haben sollten. Ein guter Erzieher beleuchtet alle Seiten einer Frage und fordert die Zuhörer auf, sich dazu zu äußern. Die Propagandisten hämmern auf ihrer Ansicht herum und suchen jede Meinungsäußerung zu verhindern. Vielfach bleiben ihre wahren Beweggründe verborgen. Sie sichten die Tatsachen: Von denen, die zu ihren Gunsten sind, reden sie viel, die anderen dagegen verbergen sie. Sie entstellen und verdrehen Tatsachen, spezialisieren sich auf Lügen und Halbwahrheiten. Sie haben es auf unsere Gefühle, nicht auf unsere Fähigkeit, logisch zu denken, abgesehen. Viele gehen ihnen ohne weiteres ins Garn, weil es keine Mühe kostet, Gefühle zu hegen, während das Denken harte Arbeit ist. Der Propagandist achtet darauf, dass das, was er sagt, vernünftig, richtig und sittlich einwandfrei erscheint und dass du das Gefühl hast, geachtet zu werden und am richtigen Platz zu sein, wenn du entsprechend handelst. Du zählst dann zu den Tüchtigen, du stehst nicht allein, du hast es gut und bist geborgen — jedenfalls nach seinen Worten.

Die Propagandisten haben wenig Achtung vor der Denkfähigkeit der Leute. Hitler schrieb:

„Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergesslichkeit groß ... Sie [die Propaganda] hat sich auf wenig zu beschränken und dieses ewig zu wiederholen.“

Trick der Propagandisten

Symbole sprechen das Gefühl an. Wörter wie Mutter, Heim, Gerechtigkeit und Freiheit bewegen das Herz. Schlagwörter sind einprägsam und erscheinen äußerst klug. Vorteilhafte Tatsachen werden übertrieben, nachteilige entstellt oder verheimlicht. Beredsamkeit tritt häufig an die Stelle vernünftiger Argumente und lenkt die Aufmerksamkeit von unbequemen Wahrheiten ab, die nicht verheimlicht werden können. Man verfährt nach der Devise: Steck ein Haus in Brand, und während es brennt, plündere anderswo einen Laden.

Zu den Taktiken, die angewandt werden, um deinen Geist im Sturm zu erobern, gehören die Tyrannei der Autorität, andere lächerlich machen, beschimpfen, verleumden, verunglimpfen und sarkastische Bemerkungen über sie fallenlassen. Stichhaltige Beweise, verstandesmäßige Überlegungen, Logik? Das sind die schlimmsten Feinde des Propagandisten.

Aber selbst gebildete, intellektuell anspruchsvolle Personen fallen einer Form der Propaganda zum Opfer, die unfair und unsachlich ist. Diese Form der Propaganda tut den Standpunkt eines Andersdenkenden mit einer überlegenen Geste ab und behandelt ihn als bemitleidenswert, als einen Standpunkt, der keine Beachtung verdient. Viele Evolutionisten verhalten sich so, um Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten können. Sie sind nicht imstande, ihre Theorie zu beweisen. Deshalb nehmen sie zu Behauptungen Zuflucht und verspotten jeden, der es wagt, diese anzuzweifeln ... Für ihre Behauptungen erbringen sie keine Beweise, und auch ihre Verleumdungen begründen sie nicht, sondern sie kehren nur ihre Autorität heraus und stellen ihre Meinung als unfehlbar hin, unterdrücken Einwände und schüchtern Andersdenkende ein. Das funktioniert, und anscheinend intelligente Leute, die sich mit der Theorie nicht auseinandergesetzt haben, glauben, sie sei richtig, weil „alle intelligenten Leute das glauben“...

Wie steht es mit dir?

In Sprüche 14:15 lesen wir: „Der Einfältige glaubt jedes Wort, das er hört; der Kluge weiß, dass Beweise erforderlich sind“ (The New English Bible). Viele Menschen sind wie ein Schwamm; sie saugen einfach alles, was sich über sie ergießt, in sich auf. Das geht mühelos. Wir wissen, dass Muskelarbeit anstrengend ist, und Geistesarbeit ist noch anstrengender ... „Der Gott dieses Systems der Dinge [hat] den Sinn der Ungläubigen verblendet“, damit ihnen die wichtigen Wahrheiten, die heute jeder kennenlernen sollte, verborgen bleiben. Wie steht es mit dir? Lässt du andere für dich denken, oder denkst du für dich selbst? Wenn du das Denken nicht anderen überlässt, wird „Denkvermögen selbst stets über dich wachen“. Gleichzeitig muss zugegeben werden, dass wir Menschen eine gute Führung benötigen.“

George Orwells Sichtweise

Eine ausgezeichnete Schilderung der bis zum Äußersten gesteigerten Tyrannei der Autorität und der geistigen Drehungen, die das bei den Betroffenen erfordert, gab George Orwell in seinem 1949 erschienenen Roman 1984 [Zur Erinnerung: „Big Brother is watching you?“]. Er beschrieb eine totalitäre Gesellschaft namens Engsoz (von ‘Englischer Sozialismus’), in dem ein oberster Staat der Bevölkerung eine Art von Theokratie aufgezwungen hat — praktisch ein „Himmlisches Königreich auf Erden“ geschaffen hat. Der Roman hatte die Absicht, deutlich davor zu warnen, was passieren könnte, wenn bestimmten totalitären Trends, die Orwell sich während und kurz nach dem 2. Weltkrieg entwickeln sah, freier Lauf gelassen würde. Die oberste Gruppe an der Spitze des Staates war die Partei. Um zu gewährleisten, dass jeder wie die Partei dachte, änderte die Partei sorgfältig die Tatsachen, damit sie zur gegenwärtigen Lage passten, und schulte die Menschen gründlich, sich dem anzupassen. Orwell schrieb:

Was immer die Partei für Wahrheit erachtet, ist Wahrheit. Teil 3, Kapitel II; Seite 252, Ullstein 1995

Um zu gewährleisten, dass alles, was die Partei als Wahrheit ansah, streng befolgt wurde, wurde einem Gedankenprozess namens Doppeldenk Geltung verschafft. Doppeldenk, wie ihn sich Orwell in 1984 vorstellt, ist ein „ausgedehntes System geistiger Täuschung“:

Doppeldenk bedeutet die Fähigkeit, gleichzeitig zwei einander widersprechende Überzeugungen zu hegen und beide gelten zu lassen. Der Parteiintellektuelle weiß, in welcher Richtung seine Erinnerung geändert werden muss; er weiß deshalb auch, dass er der Wirklichkeit einen Streich spielt; aber durch die Anwendung von Doppeldenk versichert er sich auch darüber, dass die Realität nicht angetastet wird. Dieser Prozess muss bewusst erfolgen, weil er sonst nicht mit genügender Präzision ausgeführt werden würde, doch er muss auch unbewusst erfolgen, weil er sonst von einem Gefühl der Lüge und somit von Schuld begleitet wäre. Doppeldenk ist der Kern des Engsoz, denn das Hauptgeschäft der Partei besteht in bewusster Täuschung, bei der sie die Unerschütterlichkeit absoluter Redlichkeit bewahrt. Bewusste Lügen zu erzählen, an die man ehrlich glaubt; jede unbequem gewordene Tatsache zu vergessen, um sich bei Bedarf wieder daran zu erinnern; die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und die ganze Zeit über die von einem geleugnete Realität einzukalkulieren — all das ist unabdingbar. Teil 2, Kapitel IX; Seite 215, Ullstein 1995

Propagandisten greifen oft gerne auf Doppeldenk zurück, um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass alles, was sie tun, zu einem guten Zweck geschieht. Sie greifen oft darauf zurück, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie nicht „wirklich“ in einer Sache lügen.

Phillip Johnson, Autor des 1991 erschienenen Anti-Evolutions-Buchs Darwin On Trial, prangerte den Dogmatismus in Bezug auf die Evolution in Bildungseinrichtungen an und schrieb im Januar 1993 Computer-Nachrichtennetzwerk:

Die strittigen Punkte lassen sich nur durch eine vorurteilsfreie Untersuchung der Beweise beilegen. Wer ihren Beweisen und ihrer Logik vertraut, appelliert nicht an Vorurteile, er besteht auch nicht darauf, Diskursregeln Geltung zu verschaffen, die nur eine Position zulassen, um ernsthaft zur Kenntnis genommen zu werden. Er gebraucht auch keine unklare oder schwankende Terminologie, um die Aufmerksamkeit von wirklich schwierigen Punkten abzulenken. Und noch weniger überhäuft er andere, die Fragen über die Beweise und die philosophischen Annahmen, die einer Theorie zu Grunde liegen, stellen, mit Beschimpfung und Spott. Wenn ein Bildungsestablishment zu Taktiken wie diesen greifen muss, kann man sicher sein, dass einige Leute am Verzweifeln sind.

Die Gesellschaft erhebt die Stimme gegen Gehirnwäsche

Der Artikel „Lässt du dich von der Masse beeinflussen?“ in der Erwachet!-Ausgabe vom 8. April 1980 enthielt eine allgemeine Erörterung darüber, dass man weit verbreitete Haltungen oder Philosophien nicht blind annehmen sollte. Auf den Seiten 13 und 14 hieß es:

Die leichteste Beute der Gehirnwäsche ist der „normale“ Mensch, der Durchschnittsbürger. Er hat sich bereits daran gewöhnt, Auffassungen von anderen zu übernehmen, statt eine eigene starke Überzeugung zu entwickeln. Am problematischsten für die Gehirnwäsche sind die „Patienten“, die eine unübliche Meinung vertreten, eine starke Überzeugung haben und sich nichts daraus machen, was andere davon halten.

Der Artikel führte fünf Punkte auf, wie man einer Gehirnwäsche entgehen kann:

1. Entwickle eine starke Überzeugung. Wie bereits erwähnt, sind vor allem diejenigen ein bevorzugtes Opfer der Gehirnwäsche, die sich schnell von anderen umstimmen lassen. Übernimm eine Ansicht nicht einfach deshalb, weil deine Bekannten sie akzeptieren. Vergewissere dich, dass deine Ansichten der Wahrheit entsprechen. Vergleiche sie vor allem mit Gottes inspiriertem Wort, das „Wahrheit“ ist (Joh. 17:17; 2. Tim. 3:16).
2. Frage nach dem Grund. Oft übernehmen wir ungewollt eine Einstellung, deren Hintergründe wir gar nicht kennen. Vielleicht haben deine Nachbarn eine negative Ansicht über bestimmte Rassen oder Volksgruppen. Wenn dir jedoch der Grund nicht einleuchtet, warum solltest du dann diesen Standpunkt übernehmen?
3. Widerstehe unrechten Gedanken ... In der heutigen Welt ist es nicht möglich, nie etwas Unrechtes zu sehen oder zu hören. Müssen wir aber unseren Sinn damit vollsaugen? Das würde unser Urteilsvermögen und unsere Handlungsweise ungünstig beeinflussen. Wieviel besser ist es doch, unrechten Gedanken zu widerstehen und sich mit etwas Erbaulichem zu befassen! (Eph. 5:3-5).
4. Tritt für das ein, was du als recht erkannt hast. Das gibt dir die Möglichkeit, selbst zu überprüfen, was du glaubst, und du kannst die Wahrheit in dir noch stärker Fuß fassen lassen. Bist du einmal — nach gründlichem Nachforschen — von der Richtigkeit einer Sache überzeugt, dann lass dich nicht durch den Spott anderer davon abbringen.
5. Lebe gemäß der Wahrheit. Suche nicht nach Ausflüchten, um das zu verwässern, was du als recht erkannt hast. Wenn etwas richtig und schicklich ist, wird es sich für dich zum Guten auswirken. Lass dich nicht dazu verleiten, zu meinen, du würdest etwas verpassen oder seist ungebührlich eingeschränkt, weil du dich an das hältst, was recht ist.

Die [Wachtturm-]Gesellschaft befürwortet Aufgeschlossenheit

Erwachet! vom 22. Februar 1985 enthielt zwei Artikel, „Bist du aufgeschlossen oder unzugänglich?“ und „Durch Aufgeschlossenheit Gottes Wohlgefallen erlangen“. Im ersten Artikel hieß es auf den Seiten 3 und 4:

Ein aufgeschlossener Mensch ist frei von Vorurteilen. Das Wort Vorurteil wird in einem englischsprachigen Wörterbuch wie folgt definiert: „eine Meinung oder ein Urteil (negativ und positiv), das vorschnell, ohne genaue Prüfung der Tatbestände gefällt wird; eine unüberlegte, ungerechte Entscheidung; besonders eine vorgefasste negative Meinung“.
Entscheiden und Urteilen ist unentbehrlich im Leben. Aber „ohne genaue Prüfung der Tatbestände“ zu entscheiden oder eine „unüberlegte, ungerechte Entscheidung“ zu fällen verrät einen Mangel an Aufgeschlossenheit.
Ein aufgeschlossener Mensch dagegen ist für Neues empfänglich. Er ist bereit, sich unvoreingenommen mit Neuem zu beschäftigen und es zu beurteilen. Wir können zu gutbegründeten, definitiven Schlussfolgerungen kommen, wenn wir das, was wir für wertvoll erachten, annehmen und Wertloses ablehnen, gleichzeitig aber für Korrekturen aufgeschlossen bleiben, die aufgrund zusätzlichen Aufschlusses, den wir später erhalten mögen, notwendig werden. Die Meinung, man wisse alles, hindert einen mit Sicherheit daran, etwas hinzuzulernen.
Einem unaufgeschlossenen Menschen fehlt es offensichtlich an Kenntnissen. Wir mögen über ein Thema so wenig wissen oder das, was wir wissen, mag so entstellt oder unvollständig sein, dass die für richtige Schlussfolgerungen notwendigen Tatsachen einfach fehlen...
Ein unaufgeschlossener Mensch ist uninteressiert oder abgeneigt, eine Sache zu prüfen. Unaufgeschlossenheit könnte sogar ein Zeichen von Unsicherheit oder Zweifel sein. Wenn wir zum Beispiel unsere Glaubensansichten nicht verteidigen können, mögen wir auf kritische Fragen nicht logisch antworten, sondern mit vagen Erklärungen oder spitzen Bemerkungen darauf reagieren. Das riecht nach Vorurteil und Unaufgeschlossenheit.
Ferner mögen Menschen unaufgeschlossen sein, weil sie den selbstsüchtigen Wunsch hegen, gewisse Vorteile nicht zu verlieren, was vielleicht geschehen könnte, wenn sie aufgeschlossen wären...

Im zweiten Artikel hieß es auf Seite 8-10:

AUS den Worten in Epheser 5:10 und 17 geht hervor, dass Aufgeschlossenheit eine wichtige Voraussetzung dafür ist, Gottes Wohlgefallen zu erlangen. Sie lauten: „Vergewissert euch fortwährend dessen, was beim Herrn annehmbar ist ... Deshalb hört auf, unvernünftig zu werden, sondern nehmt weiterhin wahr, was der Wille Jehovas ist“...
Selbst religiöse Leute sind nicht immer aufgeschlossen. Sie sind nur an „ihrem“ Glauben interessiert und sind nicht bereit, sich andere Ansichten auch nur anzuhören...
Richtig kann nur der Glaube sein, der sich eng an das Wort Gottes hält. Ob unser Glaube diesem Kriterium standhält oder nicht, kann nur entschieden werden, wenn man ihn anhand der Bibel objektiv prüft...
Die Ermahnung des Apostels Petrus, ‘gesunden Sinnes zu sein’, schließt natürlich ein, aufgeschlossen zu sein, weil nur ein aufgeschlossener Mensch vernünftig schlussfolgern und urteilen kann. Einige Bewohner von Beröa waren aufgeschlossen, denn wir lesen über sie: „Sie nahmen das Wort mit der größten Bereitwilligkeit auf, indem sie täglich in den Schriften sorgfältig forschten, ob sich diese Dinge so verhielten“ (1. Petrus 4:7; Apostelgeschichte 17:11).
Wenn wir aufgeschlossen, ja vorurteilslos sind, werden wir fortfahren können, ‘täglich in den Schriften sorgfältig zu forschen’ und dann das Gelernte anzuwenden. Das ist im Einklang mit dem Rat der Bibel: „Werdet ... Täter des Wortes und nicht bloß Hörer“...

In der Wachtturm-Ausgabe vom 15. Januar 1989 hieß es in dem Artikel „Bist du für neue Gedanken aufgeschlossen?“ auf Seite 5:

EINIGE Leute verschließen ihren Sinn vor allen neuen Gedanken. Und womöglich tun sie es nur deshalb, weil diese von ihren persönlichen Ansichten abweichen.

Der Rest des Artikels schildert, wie man vorurteilslos wie die Beröer neue Ideen angeht, aber im Annehmen wählerisch ist und sie an Gottes Wort misst.

Die obigen Artikel ermuntern dazu, persönlich zu bestimmen, ob die Dinge, die man gelehrt wird und die man glaubt, wahr und bibelgemäß sind. Sie befürworten nicht eine Haltung des „Mitmarschierens“, nur um sich der Mehrheit oder den Ansichten einer bestimmten Gruppe anzupassen. Sie ermuntern zu eigenem Prüfen und Abwägen, persönlicher Annahme oder Ablehnung. Sie fordern dazu auf, bereit zu sein, für das, was man glaubt, einzutreten — im Vertrauen darauf, dass es immer zum Besten dient, kompromisslos an der Wahrheit festzuhalten.

Eine alternative Sichtweise

Ganz anders der Rat, der Jehovas Zeugen im Wachtturm vom 15. August 1984 Seite 31, in der Rubrik „Fragen von Lesern“, gegeben wird. Es wird argumentiert, es sei richtig, dass Zeugen, die den Leuten an den Türen Wachtturmliteratur anbieten, sich weigern, religiöse Literatur anzunehmen, die die besuchten Wohnungsinhaber ihnen vielleicht im Gegenzug offerieren. Unter anderem heisst es:

Die Zeugen gehen somit nicht an die Türen der Menschen, um nach der Wahrheit zu suchen oder um Aufklärung zu erhalten. Vielmehr haben sie bereits zahllose Stunden dafür eingesetzt, die Wahrheit des Wortes Gottes zu erforschen...

Mit anderen Worten: Die Wachtturm-Gesellschaft hat die Zeugen Jehovas bereits alles gelehrt, was sie über Religion zu wissen brauchen, und daher können sie von jemand anderem nichts mehr lernen.

Ebensowenig sind Jehovas Zeugen in Unkenntnis über die Glaubenslehren anderer. Sie haben beträchtliche Grundkenntnisse über die Glaubenslehren der in ihrer Umgebung vertretenen Religionen...

Kenntnisse voller Vorurteile und von der Gesellschaft stark gefiltert.

Daher wäre es sowohl Waghalsigkeit als auch Zeitverschwendung, wenn Jehovas Zeugen religiöse Literatur, die der Täuschung dienen soll, annehmen und sich damit auseinandersetzen würden...

Hier wird unterstellt, alle religiöse Literatur, die nicht von der Wachtturm-Gesellschaft herausgegeben wird, solle vorsätzlicher Täuschung dienen.

Als loyale Christen wollen wir uns an Gottes Maßstäbe halten, unseren Sinn mit Dingen nähren, die wahr und gerecht sind, und uns voller Wertschätzung und Loyalität an den Kanal halten, durch den wir die biblische Wahrheit kennengelernt haben.

Von der Aufgeschlossenheit, zu der die obigen Artikel ermuntern — dass man der Schöpfungslehre und nicht der Evolutionslehre glauben solle und wie Nichtzeugen den Glauben der Zeugen ansehen sollten —, wird für die Zeugen selbst abgeraten. Ist das nicht Heuchelei? Wie antwortet ein Zeuge wohl einem Wohnungsinhaber, der sagt, seine Religionsgemeinschaft verbiete es, sich die Zeugenliteratur näher anzusehen? In Matthäus 7:3-5 steht geschrieben, wie Jesus so etwas ansah. Gilt etwa ein Maßstab für die Zeugen und ein anderer für alle übrigen Menschen?

Die Frage wartet auf Antwort: Kann man jemanden als konsequent bezeichnen, der sich an die vernünftigen Grundsätze obiger Artikel hält, wenn es um Informationsquellen und Einflüsse außerhalb seiner eigenen Gemeinde geht, und der sich innerhalb der Gemeinde nicht daran hält? Was soll man von einer Organisation halten, die ihre Mitglieder auffordert, sich bei Informationsquellen von außen genau an diese Grundsätze zu halten, die aber allen abrät, sie herabsetzt oder gar in Verruf bringt, die sich auch bei ihren eigenen Informationen daran halten? Wie ehrlich ist eine solche Organisation, wenn sie das Anwenden dieser Grundsätze durch die eigenen Mitglieder als „rebellisches Reden“ bezeichnet? Ist das konsequent, wenn man unabhängiges Denken mit Bezug auf Außenquellen lobt, es aber als Zeichen von Unbescheidenheit und mangelnder Demut bezeichnet, wenn es um die eigenen Informationen dieser Organisation geht?

Ein weiterer Begriff, den George Orwell in 1984 prägt, beschreibt dieses zweierlei Maß ganz genau. Es geht um einen besonderen Typ von Doppeldenk, Schwarzweiß genannt:

Die ozeanische Gesellschaft fußt letztlich auf dem Glauben, dass der Große Bruder allmächtig und die Partei unfehlbar ist. Aber da in Wirklichkeit weder der Große Bruder allmächtig noch die Partei unfehlbar ist, bedarf es einer nicht nachlassenden Flexibilität im Umgang mit Tatsachen. Das Schlüsselwort lautet hier: Schwarzweiß ... Einem Parteimitglied gegenüber gebraucht, bedeutet es die loyale Bereitschaft zu sagen, Schwarz sei weiß, wenn die Parteidisziplin dies verlangt. Aber es bedeutet ebenfalls die Fähigkeit zu glauben, dass Schwarz Weiß ist, und darüber hinaus zu wissen, dass Schwarz Weiß ist, und zu vergessen, dass man jemals das Gegenteil geglaubt hat. Teil 2, Kapitel IX; Seite 213, Ullstein 1995