Zeugen Jehovas, die sich kritisch mit den Bibelinterpretionen und Lehren ihrer Organisation auseinandersetzen und definitiv feststellen müssen, daß nicht wenige gravierende Kritikpunkte berechtigt sind, stellen sich alsbald die häufig gestellte Frage: "Wohin sollen wir denn gehen?"
Diese Fragestellung allein zeigt deutlich, wie tief der einzelne Zeuge mit der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas und deren Glaubenslehren verbunden ist. Es scheint unmöglich, diesen Glauben loszulassen und ein neues Leben zu beginnen. Man mag sich kein adäquates Leben außerhalb der Gemeinschaft vorstellen können und befürchtet, in ein Loch der Orientierungslosigkeit zu verfallen.
Obwohl Zeugen Jehovas in ihrem weltweiten Predigwerk Menschen eindringlichst ermuntern, ihren eigenen Glauben zu überprüfen und erwarten, daß diese die entsprechenden Konsequenzen ziehen, indem sie sich von ihrer vertrauten religiösen Gemeinschaft distanzieren und die damit verbundenen, harten Folgen tragen, fällt es Zeugen Jehovas in den eigenen Reihen ausnehmend schwer, eine kritische Haltung gegenüber der Organisation der WTG einzunehmen. Ein gemeinsames Bekenntnis bekräftigt eben die gewohnte Lebensführung, läßt eine Art Schutzraum der Richtigkeit entstehen und befreit von „unruhestiftenden“ Grundsatzdiskussionen.
Nimmt jemand dennoch eine kritische Haltung ein, so gibt es genügend Aufpasser, die dem einzelnen sagen, was er zu glauben, zu denken und vor allen Dingen auch zu sagen hat. Es ist tatsächlich nicht einfach, dem Käfig der religiösen Entmündigung zu entkommen, die mit der Zeit erschlafften Muskeln des selbständigen Handelns und Denkens wieder zu mobilisieren und ohne Repressalien dem Leben eine persönliche Richtung zu geben.
Wer schon einmal eine Leiter hinaufgestiegen ist, weiß wie dies funktioniert. Um die nächste Sprosse erreichen zu können, muß die vorherige zwangsläufig verlassen oder losgelassen werden. Festhalten und Loslassen, das ist der Rhythmus. Klammern wir uns an einer Stelle verkrampft fest, werden wir nicht vorwärts kommen. Halten wir uns nicht vernünftig an der nächsten Sprosse fest, werden wir den Halt verlieren.
Diesen Rhythmus auf das Leben zu übertragen fällt im allgemeinen nicht leicht. Die größten Probleme hat der Mensch offensichtlich damit, etwas oder jemanden loslassen zu können. Das gilt insbesondere für die Religion. Was wir einmal haben, geben wir nicht so gern wieder her und verteidigen es bis an die Zähne bewaffnet. Logik oder vernünftige Argumente spielen dann keine Rolle mehr. Lieber wird im trauten Kreise über Schwierigkeiten, Probleme, Enttäuschungen und Kritikpunkte endlos geklagt und disputiert, als Konsequenzen gezogen. Das Leben kann bekanntlich eine sehr harte Schule dafür sein, notwendiges Loslassen oder auch Abschied nehmen zu lernen. Am schwierigsten ist es, Gefühle wie zum Beispiel die Angst vor dem Verlassensein loszulassen.
Man könnte sich selbst einmal fragen: Wer bin ich ohne meine Angst? Wer oder was bin ich ohne die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas eigentlich? Was sagt mein Herz, der Sitz meiner Beweggründe? Höre ich diese „innere Stimme“ überhaupt noch? Ist mein Hauptbeweggrund etwa ein ständig schlechtes Gewissen?
Eltern müssen ihre Kinder loslassen und umgekehrt. Für ein Kleinkind ist das Klammern ein lebensnotwendiger Reflex. Wird das Kind älter, so wird es bekannterweise immer mehr Dinge allein tun wollen und auch müssen. Wird das Kind aber, aus welchen Gründen auch immer, daran gehindert zu wachsen, so wird es in einem bestimmten infantilen Stadium stecken bleiben. Viele erwachsene Menschen sind ein Beispiel dafür, daß sie in Sachen Glauben und Religion in einem infantilen Stadium haften geblieben sind. Wer spirituell wachsen und an das Glaubensmodell einer Organisation nicht mehr sklavisch gebunden sein möchte, wird lernen müssen, den ängstlichen Klammergriff zu lockern und wirklich loszulassen. Indem er sich von alten Lehren, Dogmen, Weltbildern und Vorstellungen löst, eröffnen sich ungeahnt viele Möglichkeiten, den eigenen Horizont zu erweitern.
Die Bibel spricht davon, daß Christen zur Freiheit berufen sind, macht aber berechtigterweise deutlich, daß diese christliche Freiheit nichts mit Willkür oder einem Leben nach Lust und Laune zu tun hat, sondern mit einem inneren Zustand, einem Reifegrad, der das Wesen eines Menschen ausmacht. Loslassen und Freisein steht in direkter Verbindung mit der Fähigkeit, vergeben zu können und zukunftsorientiert Eigenverantwortung für das persönliche Leben zu übernehmen. Freisein bedeutet, das Leben von innen heraus zu gestalten und dem Fremdbestimmtsein einen Riegel vorzuschieben. Es bedeutet, bei sich zu sein und nicht mehr Opfer fremder Meinungen zu sein.
Wer loslassen kann, befreit sich selbst und läßt echter Liebe Raum zum Leben und Wachsen.