Das Kontakt- und Grußverbot bei Zeugen Jehovas nach einem „Gemeinschaftsentzug“ (Exkommunikation)

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung (Definition)

Das Wort „Exkommunikation“ kommt im Neuen Testament [1] nicht vor, wohl aber das Verb „ausschließen“ („aus der Synagoge“, Joh 9, 22; 12, 42; 16, 2) [2] und noch einmal in Gal 4, 17. Auf dem Konzil zu Nicäa, wo auch der Arianische Streit um die Zweinaturenlehre hinsichtlich Jesus Christus ausgetragen wurde und den Boden für die zum christlichen Glaubensbekenntnis gewordene Trinitätslehre bereitete, ist sowohl von „Ausgeschlossenen“ als auch vom „Wiederaufnahmeverfahren“ die Rede, so dass man sagen kann, dass der Gemeinschaftsentzug bei Zeugen Jehovas vom Wortbegriff her in dieser Tradition steht. „Gemeinschaft“ ist die Wiedergabe des lateinischen Begriffs communio, welches uns vom Sakrament der Kommunion in der Katholischen Kirche als geläufig bekannt ist. Es entspricht dem griechischen koinonía und kommt im NT z. B. in Apg 2, 42 vor, und in 1Kor 1, 9 im Sinne der „Teilnahme“ oder „Teilhabe“. Das Präfix [3] „ex-“, welches unter anderem in ex-communio steckt, ist uns auch aus den Verbindungen Exfrau, Exfreund usw. (je nach Situation hat „ex-“ auch einen pejorativen Beigeschmack) bekannt und lässt erkennen, dass es sich um etwas Ehemaliges handelt oder um eine Person, die früher einmal eine bestimmte Stellung oder einen Status innehatte. Dementsprechend bezieht sich ex-communio auf die Gemeinschaft, aus (= ex) der man verbannt ist, d. h. ausgeschlossen ist. Im Griechischen steht es im NT nur als Verb, wie z. B. ekkleisai in Gal 4, 17: „Sie wollen euch doch nur ausschließen [ekkleisai]“ (Zürcher Bibel). Das griechische Präfix „ek-“ entspricht hier dem lateinischen „ex-“.

In dem Werk Reallexikon für Antike und Christentum wird „Exkommunikation“ wie folgt erklärt:

E.[xkommunikation] ist die Kirchenstrafe im Ursinn des Wortes. Die Kanonistik definiert sie heute als die ‚strafweise erfolgende, einstweilige Ausstoßung eines Kirchengliedes aus der Gemeinschaft der Gläubigen […]‘. [4]

II. Der Gemeinschaftsentzug - gegenwärtige Situation und Fallbeispiele

Eine an mich persönliche gerichtete Mitteilung vom 28. April 2011, welche Anlass der vorliegenden Abhandlung ist, enthält folgende Anfrage:

Hallo Frank

Vielleicht kannst Du mir helfen

[Ich] suche Argumente, die gegen ein völliges Kontaktverbot, (also auch kein Grüßen, Zunicken, Anlächeln...) bei einem Nichtverwandten nach dem Ausschluss sprechen! Kann man die [Bibel]texte, die immer angeführt werden, irgendwie anders erklären? Das was ich gefunden habe, bezieht sich meistens auf Verwandte.

Morgen wird die beste Freundin meiner Frau und auch meine beste Freundin ausgeschlossen ... und Meine hält sich garantiert an die Anweisungen der WTG [Wachtturm-Gesellschaft]!

Ich bin der Meinung, dass ich einem besonderen Bedürfnis nachkomme, wenn ich dem Thema Gemeinschaftsentzug eine nahezu erschöpfende Abhandlung widme. Beim Lesen des Essays wird der Leser feststellen, dass ich mich bemüht habe, gerade nicht auf der Oppositionsbank zu sitzen, da sonst die Objektivität darunter leidet. Objektivität und Ehrlichkeit beim Abfassen dieses Artikels bedeutete für mich unter anderem, der Wachtturm-Gesellschaft nicht grundsätzlich in allen Punkten zu widersprechen, sondern ihr auch in manchen Punkten zuzustimmen, was ich in dieser Abhandlung auch tun musste. Es bedeutet aber auch, den Mut aufzubringen, auch unserem allseits geliebten und inzwischen heimgegangenen Freund Raymond Franz [5] zu widersprechen, was ich in meinem Essay auch tatsächlich zu tun wage. Mit anderen Worten: Der Leser wird in diesem Essay manche Überraschungen erleben. Wissenschaftliche Bibelarbeit ist nämlich kein „Wunschkonzert“, sondern eine Begegnung auch mit unangenehmen Gegebenheiten, welche uns aber umso mehr der Wahrheit näher bringen. Eine solche Herangehensweise an die Heilige Schrift bewahrt uns davor, Opfer des Relativismus oder der Beliebigkeit zu werden.

Ich halte es für unerlässlich, auch die von mir angegebenen Bibelstellen nachzuschlagen, um zu erfassen, worauf ich meine Argumentation aufbaue. Wichtig ist dies auch deshalb, damit der Leser in der Lage ist, nachzuvollziehen, welche Brücken ich schlage, weil sich nur auf diese Weise ein Gesamtbild ergeben kann.

Wie aus der E-Mail hervorgeht, geht es um die angewandte Kirchendisziplin bei der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas (von den meisten als Sekte wahrgenommen). Was z. B. die Katholische Kirche als „Exkommunikation“ bezeichnet, ist bei Zeugen Jehovas der so genannte „Gemeinschaftsentzug“ Der Absender hat mir außerdem am 14. Mai 2011 - meine vorliegende Abhandlung war noch in Arbeit - mitgeteilt, dass ihm bis dahin inzwischen drei Fälle von Gemeinschaftsentzug in den letzten zwei Wochen bekannt geworden sind. In der Regel beträgt die Dauer des Gemeinschaftsentzugs bei Zeugen Jehovas mindestens ein Jahr. Ich selbst kenne einen Fall, bei dem der Gemeinschaftsentzug einer Glaubensschwester schon etwa sechs Jahre dauert. Sie kämpft seit Jahren um die Wiederaufnahme. Zudem habe ich eine Tante, welche schon seit mehreren Jahrzehnten wegen vorehelichen Verkehrs ausgeschlossen ist. Jedenfalls hat sie eine Rückkehr zur Organisation nie mehr angestrebt. Auch ich hatte ihr den Gruß verweigert. Meiner Schwester wurde sofort die Gemeinschaft entzogen, nachdem sie in einem Geständnisbrief an den Ältestenrat ihrer Versammlung [6] in Dortmund ihren „Ehebruch“ und ihre „Hurerei“ [7] („Unzucht“, Luther) gestanden hat. Sie hat sich im letzten Jahr nach über 27 Jahren von ihrem Mann - einem bekennenden Zeugen Jehovas - getrennt und ist zu ihrem neuen „weltlichen“ Lebensgefährten [8] gezogen. Gleichzeitig sollte ihr schriftlicher Austritt aus der Organisation eine Zäsur in ihrem Leben darstellen. Sie wird nun von ihren ehemaligen Glaubensbrüdern und -Schwestern mit gröbster Ablehnung und Verachtung bestraft, denn sie wird nun als jemand betrachtet, welche „dem Satan übergeben“ wurde:

Wenn jemandem, der schwerwiegende Sünden nicht bereut, die Gemeinschaft der Versammlung entzogen wird, gehört er wieder zur bösen Welt Satans (1. Joh. 5:19). In diesem Sinn wird er dem Satan übergeben. [9]

Auf die im Zitat angegebene Bibelstelle 1. Joh 5, 19 werden wir in der Zusammenschau von 1Ko 5, 5 und 1Tim 1, 20, wo von der ‚Übergabe an den Satan‘ die Rede ist, später zurückkommen müssen.

Für die Mitglieder [10] der Kirchengemeinde und ihre Angehörigen bedeutet diese Maßnahme absolute Kontaktsperre zum „Übeltäter“ (auch „Missetäter“ genannt) bzw. zum „Abtrünnigen“. Das Kontaktverbot kommt für viele Betroffene dem sozialen Tod gleich, da es auch häufig die dauerhafte Trennung z. B. zwischen Eltern und Kindern nach sich zieht und ganze Familiengemeinschaften betroffen sind. Im Weser Kurier vom 16.02.2011 erzählt ein Betroffener im Artikel „Jehovas Zeugen wollen mehr Rechte“:

„Ich war bis zu meinem 37. Lebensjahr bei den Zeugen Jehovas“, erzählt Bernd Galeski vom Netzwerk Sektenausstieg e.V. [11] in Barmstedt. Zwei seiner Brüder machten sich in den Augen der Gemeinschaft der ,Hurerei’ schuldig, weil sie unverheiratet eine Freundin hatten und das nicht bereuten. „Zwanzig Jahre lang habe ich deshalb nicht mit meinen Brüdern gesprochen. Nach meinem Ausstieg habe ich mich als Erstes bei ihnen entschuldigt.“ [12]

Der Fall von Bernd Galeski[13] schildert anschaulich, wie sehr dabei häufig Ehen und Familien auseinandergerissen werden, „zum Beispiel, wenn der Vater austritt und seine Kinder nicht mehr sehen kann oder von großen Teilen des Familienlebens ausgeschlossen wird“. [14]

III. Der Gemeinschaftsentzug bei Minderjährigen und Jugendlichen

Bei minderjährigen Kindern wird die Regelung etwas anders gehandhabt:

Ist dein Kind ein getaufter Christ, zeigt aber keine Reue, erhält es womöglich Zucht in der strengsten Form: den Gemeinschaftsentzug. Inwieweit du dann Kontakt zu ihm hast, hängt von seinem Alter und anderen Umständen ab. Wenn das Kind minderjährig ist und noch bei dir zu Hause wohnt, kümmerst du dich natürlich um seine körperlichen Bedürfnisse. Dein Kind benötigt dich nach wie vor: Es muss erzogen und moralisch angeleitet werden, und du bist verpflichtet, genau das zu tun (Sprüche 1:8-18; 6:20-22; 29:17). Es wäre auch gut, mit deinem Kind die Bibel zu studieren und es dabei direkt mit einzubeziehen. Du kannst es auf verschiedene Bibeltexte und auf Veröffentlichungen vom „treuen und verständigen Sklaven“ hinweisen (Matthäus 24:45). Du kannst dein Kind auch mit in die Zusammenkünfte nehmen, wo es dann neben dir sitzt. All das in der Hoffnung, dass es sich biblischen Rat zu Herzen nehmen wird. [15]

So wohlwollend diese Regelung im Eltern-Kind-Verhältnis auch zunächst klingen mag, so wird sie trotzdem vom „Alter und anderen Umständen“ abhängig gemacht, inwieweit der Kontakt aufrechterhalten wird. Zudem kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass z. B. ein gebannter Elternteil dennoch vom Familienleben ausgeschlossen wird. Dies mag z. B. bei einem Ausflug, Kino-, Restaurantbesuch oder anderen Freizeitaktivitäten der Fall sein. Wie sieht es aber im Falle eines Jugendlichen aus, der nicht minderjährig ist? Im gleichen Wachtturm wird folgende Regelung getroffen, so dass hier deutlich wird, was im vorangegangen Zitat mit Altersabhängigkeit gemeint ist:

Anders sieht es aus, wenn der Ausgeschlossene volljährig und schon aus dem Haus ist. Der Apostel Paulus ermahnte Christen im alten Korinth, „keinen Umgang mehr mit jemandem zu haben, der Bruder genannt wird, wenn er ein Hurer oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener oder ein Schmäher oder ein Trunkenbold oder ein Erpresser ist, selbst nicht mit einem solchen zu essen“ (1. Korinther 5:11). Zwar können notwendige Familienangelegenheiten Kontakt mit dem Ausgeschlossenen erfordern, aber Eltern sollten sich bemühen, den Umgang mit dem Ausgeschlossenen auf das Nötige zu beschränken.

Auch im Wachtturm vom 1. Januar 2010 kommt das Umgangsverbot deutlich zum Ausdruck:

Falls einem getauften Jugendlichen die Gemeinschaft entzogen wird, wird von den Gliedern der Versammlung erwartet, „keinen Umgang mehr“ mit ihm zu haben (1. Korinther 5:11; 2. Johannes 10, 11). [16]

Dabei bezieht sich das Umgangsverbot natürlich nicht nur auf Jugendliche, sondern auf alle Ausgeschlossenen. Dass durch solche Regelungen auch enge Freundschaften auseinanderbrechen, liegt auf der Hand. Es wird sogar den Gemeindemitgliedern untersagt, gegenüber dem Ausgeschlossenen Mitleid zu bekunden. Deutlicher als im Wachtturm vom 1. November 1994 (S. 20, Abs. 20) kann eine solche Herzlosigkeit - unverständlicherweise mit Verweis auf das mosaische Gesetz, das für Christen heute nicht mehr gilt - nicht veranschaulicht werden:

Es gibt allerdings auch Fälle, in denen ein Diener Jehovas kein Erbarmen zeigen darf. (Vergleiche 5. Mose 13:6-9.) Für einen Christen kann es zu einer echten Prüfung werden, mit einem engen Freund oder einem Verwandten, der ausgeschlossen wurde, „keinen Umgang mehr ... zu haben“. In einem solchen Fall ist es wichtig, Gefühlen des Mitleids nicht nachzugeben (1. Korinther 5:11-13).

Das scheinbar wohlwollende und fromme Zugeständnis, es könne für einen Christen „zu einer echten Prüfung werden“, den Kontakt zum Ausgeschlossenen zu meiden und jegliche Mitleidsbekundung zu unterdrücken, unterstreicht den Zynismus, der hiervon begleitet wird.

IV. Die nachhaltigen sozialen Auswirkungen des Gemeinschaftsentzugs aufgrund unkorrekter Bibelarbeit

Damit die Kontaktsperre wirkungsvoll ist, hat die Wachtturm-Gesellschaft, wie man jetzt schon erahnen kann, in ihren Schriften Verhaltensregeln entwickelt und den Gemeindemitgliedern über Jahrzehnte eingeschärft, die sie dazu erziehen, jegliche kontakteröffnende Grußformel zu unterlassen. Warum legen Zeugen Jehovas so viel Wert auf die Grußverweigerung gegenüber gebannten Mitgliedern? Weil es sich bei einem Gruß um „Handlungen und Sprachformeln zur Regelung des sozialen Kontaktes [handelt], besonders beim Zusammentreffen und beim Abschied. […]; eine Grußverweigerung kann als Ablehnung angesehen werden“. [17] Zeugen Jehovas argumentieren jedoch, dass sie darin keine ablehnende oder menschenverachtende Haltung sehen, sondern eher eine Maßregelung „aus Liebe“, um den Gebannten „zur Reue zu bewegen“. Bei vielen Zeugen Jehovas geht aber dennoch diese „Maßregelung“ gewöhnlich mit Ablehnung und Verachtung gegenüber der Person einher. Es lässt sich auch nicht vermeiden, denn eine Grußverweigerung bleibt immer auch eine innere ablehnende Haltung oder Verfassung gegenüber dem Mitmenschen. Es wird damit aber auch deutlich, dass mit dieser Sichtweise Liebesentzug „aus Liebe“ zu einem Paradoxon werden muss. Schon gar nicht entspricht es Jesu Sichtweise. Fairerweise muss aber auch eingeräumt werden, dass einigen Zeugen Jehovas die Grußverweigerung sehr schwer fällt. Sie widerspricht im Allgemeinen ihrer guten Erziehung, und sie empfinden es oft als einen Verstoß gegen die gute Sitte und den Anstand. Manche verweigern daher den Gruß mit großer Verlegenheit bzw. setzen sich sogar über das Grußverbot hinweg. Es handelt sich hierbei jedoch bedauerlicherweise nur um eine Minderheit, die mit der Auflage des Grußverbots nicht zurechtkommt.

Die Politik des Gemeinschaftsentzugs als Teil der „Kirchenzucht“ und das sich daraus ergebende Gruß- und Kontaktverbot ist das Ergebnis falsch angewandter Bibelarbeit. Davon sind häufig auch Kinder betroffen, zu denen ein Elternteil, das aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen wurde, den „geistigen“ Kontakt einschränken muss. Aber nicht nur Kinder sind betroffen. Wenn z. B. das Enkelkind nicht mehr zur Oma und zum Opa darf, weil beide oder ein Großelternteil ausgeschlossen sind, dann ist dies vor allen Dingen für ältere Menschen eine unerträgliche Situation, von der sie sich wahrscheinlich nie mehr erholen. Enkelkindern ist es in dieser Situation nicht vermittelbar, dass Oma und Opa ausgeschlossen wurden, weil sie „ungehorsam“ waren, der Kontakt daher „aus Liebe“ ihnen gegenüber abgebrochen werden müsse. Diese Dialektik des Kontaktabbruchs „aus Liebe“ ist für ein Kind nicht nachvollziehbar. Ein derartiges Verhalten wurde sogar unter anderem Gegenstand gerichtlicher Untersuchung im Rahmen des Anerkennungsverfahrens der Zeugen Jehovas als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ (zunächst nur in Berlin) [18]. Es komme zwar, so das Bundesverfassungsgericht, nicht auf die Haltung gegenüber der Gesellschaft und den Gesetzen an, sondern auf das tatsächliche Verhalten. „Gerichtlich zu prüfen seien [daher] die tatsächliche Rechtstreue wie die Beachtung fundamentaler Verfassungsprinzipien in Gestalt der Wahrung der Grundrechte Dritter, vor allem das Wohl der Kinder betreffend oder die Behandlung austrittswilliger Mitglieder “ [19]. Die Aufklärungsarbeit des Berliner Senats sowie des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache war mehr als mangelhaft. Nicht nur ich, sondern auch zahlreiche andere Ehemalige und Betroffene haben sowohl an das Bundesverfassungsgericht als auch an den Berliner Senat geschrieben [20] in dem Bemühen, über die soziale Wirklichkeit aufzuklären. Die Zeugen Jehovas bekamen die Anerkennung. Begreifen muss man es nicht!

Die Exkommunikation oder der Gemeinschaftsentzug stützt sich genau genommen auf Mt 18, 17. Dort lesen wir:

Wenn er nicht auf sie hört, sprich zu der Versammlung. Wenn er auch nicht auf die Versammlung hört, so sei er für dich ebenso wie ein Mensch von den Nationen und wie ein Steuereinnehmer.

„Das bedeutete Abbruch jeglichen Verkehrs“ [21]. Wie man sieht, war Jesus nicht zimperlich im Umgang mit dem sündigen Bruder, „der nach dreimaliger erfolgloser Zurechtweisung ‚wie ein Heide u. ein Zöllner [22] zu behandeln ist“ [23]. Der Hintergrund dieses Vergleichs liegt darin, dass der Beruf des Zöllners „ein verachteter Beruf [war], der im Ruche der Korruption stand und zudem im Dienste der römischen Besatzungsmacht ausgeübt wurde“. [24] Sie waren wohl unter anderem auch dafür berüchtigt, dass sie von den Armen Geld erpressten (Lk 19, 8). Allerdings steht der Vergleich mit dem Zöllner im Spannungsverhältnis zu Lk 18, 11.13, wo uns das Gleichnis Jesu vom betenden Zöllner und Pharisäer begegnet, denn hier wird der Zöllner im Gegensatz zum selbstgerechten Pharisäer als jemand dargestellt, der sich seiner Unzulänglichkeiten bewusst ist und aufgrund dessen eine demütige Haltung einnimmt. Jesus bezeichnete den Zöllner daher als gerechter als den Pharisäer. Auch in Lk 19, 1-10 ist Jesus Gast im Hause des Oberzöllners Zachäus, was ihm abermals den Vorwurf einbringt, dass er mit Sündern verkehre und ein Freund der Zöllner sei (Lk 7, 34). Die Zöllner kommen in den Gleichnissen also gut weg, und auch Zachäus erweist sich als äußerst reumütig und einsichtig, als er die Hälfte seines Reichtums den Armen geben und erpresstes Geld vierfach erstatten will. Diese Spannung lässt sich nur auflösen, wenn man Jesu Worte ‚aus dem Blickwinkel gesetzestreuer Judenchristen, die mit Zöllnern und Heiden niemals verkehrt haben‘, betrachtet. [25] Rein christliche Gemeinden wie später bei Paulus gab es noch nicht, wohl aber Judenchristen, d. h. Christen jüdischer Herkunft, die sich unter Bewahrung der jüdischen Zeremonialgesetze und ihrer Identität zu Jesus Christus bekannten. Jesus meinte mit anderen Worten: ‚Betrachte den Bruder so, wie auch die Judenchristen im Allgemeinen die Zöllner betrachten‘. Das Gewicht liegt somit nicht auf die Zöllner, die im NT immer wieder positiv dargestellt werden, sondern auf die Haltung der Judenchristen gegenüber den verrufenen Zöllnern. Der Skopus des Gleichnisses liegt also auf der inneren Haltung des geschädigten Gemeindemitglieds gegenüber dem uneinsichtigen Glaubensbruder, nicht auf dem Vergleich zwischen dem Bruder und dem Zöllner. So, wie das judenchristliche Gemeindemitglied ohnehin nicht mit Zöllnern und Heiden verkehrte, so sollte er auch mit dem uneinsichtigen Bruder nicht mehr verkehren. Aber auch der Vergleich mit den Heiden erscheint zunächst paradox, spricht doch Jesus in Joh 10, 16 von den „anderen Schafen“, eben den Heiden, die nicht aus diesem Stall sind und die er leiten muss. Somit muss man den Vergleich auch hier aus judenchristlicher Perspektive sehen. Judenchristen verkehrten nicht nur nicht mit Zöllnern, sondern auch nicht mit Heiden. Das angespannte Verhältnis zwischen Juden- und Heidenchristen ist in der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen belegt.

Bedacht werden muss aber auch, dass es in Mt 18, 15-17 nur um persönliche Differenzen zwischen zwei Gemeindemitgliedern geht. Der Text sei hier deshalb einmal vollinhaltlich wiedergegeben:

15 Wenn dein Bruder an dir schuldig wird, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit alles durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt werde. 17 Hört er nicht auf sie, so sag es der Gemeinde. Hört er auch nicht auf die Gemeinde, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner (Zürcher Bibel).

Um welche Art Schuld es sich handelt, die der Bruder gegen den anderen begangen hat, sagt der Text nicht. Wir erfahren aber in V. 17, dass der uneinsichtige Bruder nicht für die Gemeinde, sondern „für dich wie ein Heide und ein Zöllner“ sei. Die Gemeinde ist also an den Meinungsverschiedenheiten der Brüder nicht direkt beteiligt, auch wenn sie hiervon unterrichtet wird (V. 17). Die Wendung „für dich“ lässt jedenfalls auf nichtöffentlichen Charakter schließen. Auffällig ist auch (was ebenfalls zum nichtöffentlichen Charakter passt), dass hier keine Gemeindeältesten oder Amtsträger mit ins Boot geholt werden. Es ist der Bruder selbst, der seinen Glaubensbruder zur Rede stellt. Es lässt sich somit hieraus kein allgemein der Gemeinde auferlegtes Gruß- oder Kontaktverbot ableiten. Von Exkommunikation ist hier ebenfalls nicht die Rede. Der betroffene Bruder selbst wird allenfalls den Kontakt zum Sünder einschränken oder ganz abbrechen. Den formellen Gruß mag er dennoch beibehalten haben. Der „Abbruch jeglichen Verkehrs“ konnte daher nur in diesem einen Fall vom betroffenen Gemeindemitglied selbst ausgehen, nicht aber von der ganzen Gemeinde. Dies betrifft allerdings nur Mt 18, 15-17. In den Paulusbriefen dagegen ist die ganze Gemeinde betroffen.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal zur E-Mail-Anfrage zurückkehren, was den Unterschied zwischen ausgeschlossenen Verwandten und Nichtverwandten betrifft. Nach Ansicht der Zeugen Jehovas ist hier nicht zu unterscheiden. Die Kontaktsperre gegenüber Nichtverwandten kann sogar noch konsequenter durchgehalten werden, da in der Regel nur mit Angehörigen ein „Mindestmaß“ an Kontakt notwendig sein mag, um z. B. familiäre Verpflichtungen zu regeln. Zumindest können bei Nichtverwandten Gemeinschaftsentzüge am Arbeitsplatz und in der Schule zu Gewissenskonflikten führen, da ein notwendiges „Mindestmaß“ die Teamarbeit betreffend oft eine Gradwanderung für das „loyale“ Gemeindemitglied ist. Aus dieser Unsicherheit heraus kann es auch dazu kommen, dass einige in Extreme gehen und sich unverhältnismäßig verhalten. Vonseiten eines Arbeitnehmers, der ein Zeuge Jehovas ist, kam es daher auch schon zur Weigerung, mit seinem Arbeitskollegen, der ebenfalls Zeuge Jehovas ist und dem die Gemeinschaft entzogen worden ist, zusammenzuarbeiten, was dann arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Der „gemäßigtere“ Arbeitnehmer jedoch, der sich nach den Richtlinien der Organisation „normal“ verhält, wird zwar mit einem ausgeschlossenen Arbeitskollegen nicht gemeinsam in der Kantine eine Mahlzeit einnehmen, aber sonst, wo es nötig ist, mit ihm zusammenarbeiten.

Die letzte umfangreiche Abhandlung, in der das Verhalten gegenüber Ausgeschlossenen geregelt wird, ist in dem Büchlein Bewahrt euch in Gottes Liebe [26], welches die Leitung der Zeugen Jehovas in Brooklyn (New York) 2008 herausgegeben hat und dessen Titel angesichts der vorliegenden Thematik zynisch klingen muss, enthalten. Dort wird die Frage beantwortetet, wie sich die Gemeindemitglieder gegenüber einem gebannten Glaubensbruder [27] verhalten sollten:

Wie sollten wir uns gegenüber einem Ausgeschlossenen verhalten? Die Bibel hält uns dazu an, „keinen Umgang mehr mit jemandem zu haben, der Bruder genannt wird, wenn er ein Hurer oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener oder ein Schmäher oder ein Trunkenbold oder ein Erpresser ist, selbst nicht mit einem solchen zu essen“ (1. Korinther 5:11). Über den, der „nicht in der Lehre des Christus bleibt“, lesen wir: „Nehmt ihn niemals in euer Haus auf, noch entbietet ihm einen Gruß. Denn wer ihm einen Gruß entbietet, hat an seinen bösen Werken teil“ (2. Johannes 9-11). Wir reden mit Ausgeschlossenen nicht über unseren Glauben und haben keinen sozialen Kontakt mit ihnen. Im Wachtturm vom 15. Dezember 1981 hieß es auf Seite 24, dass „ein einfacher Gruß der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein kann. Möchten wir bei einem Ausgeschlossenen diesen ersten Schritt tun?“

Im Zitat werden zwei Bibelstellen genannt, auf deren Grundlage Zeugen Jehovas das Verhalten gegenüber Ausgeschlossenen regeln. Zunächst wird 1Ko 5, 11 angeführt (erst später werden wir auch über 2Joh 9-11 reden). Dort heißt es:

Nun aber schreibe ich euch, keinen Umgang mehr mit jemandem zu haben, der Bruder genannt wird, wenn er ein Hurer oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener oder ein Schmäher oder ein Trunkenbold oder ein Erpresser ist, selbst nicht mit einem solchen zu essen.

Nun müssen wir allerdings, auch wenn es im Zitat nicht mit angegeben ist, einen kleinen Schlenker zu 2Thess 3, 14-15 machen, da die Bannsprüche in beiden Schriftstellen inhaltlich eine ziemlich große Nähe zueinander aufweisen:

14 Wenn aber jemand unserem durch diesen Brief [gesandten] Wort nicht gehorcht, so haltet diesen bezeichnet und hört auf, Umgang mit ihm zu haben, damit er beschämt werde. 15 Und doch betrachtet ihn nicht als einen Feind, sondern ermahnt ihn weiterhin ernstlich als einen Bruder.

Insbesondere der Vers 15 gibt zu manchen Fragen Anlass, so z. B., ob hier nicht eine Relativierung des Kontaktverbotes vorliegt, denn es kann doch nicht beides zugleich gelten: das Umgangsverbot und die Zurechtweisung „als euren Bruder“.

V. Hebt 2Thess 3, 15 das Gruß- und Kontaktverbot auf?

Liest man sich beide Schriftstellen 2Thess 3, 14-15 und 1Ko 5, 9.11.13, aus denen unzweideutig das Kontaktverbot hervorgeht, gründlich durch, so könnte man zur Auffassung gelangen, die Textstelle in Vers 15 [28] widerlege die Regelungen des Kontakt- und Grußverbots der Zeugen Jehovas und stelle dessen Handhabung auf den Kopf. Sie entziehe ihnen infolgedessen auch den Boden für die Politik des Gemeinschaftsentzugs, denn Paulus lasse an dieser Stelle ja die Bruder-Anrede weiter gelten. Immerhin werde er hier zudem auch als Gemeindemitglied weiter akzeptiert. Gegen das Kontaktverbot spreche auch, dass Paulus im gleichen Vers dazu auffordere, ihn „weiterhin ernstlich als einen Bruder“ zu ermahnen. Gerade dies setze doch aber die Kontaktaufnahme voraus! Der Text in 1Ko 5, 11 liefere daher unter Berücksichtigung der Parallelstelle in 2Thess 3, 14 keine Legitimation zu einem „formellen“ Gemeinschaftsentzug durch die Gemeindeältesten. Es seien vielmehr die Gemeindemitglieder selbst, die ihn „bezeichnet“ [29] halten sollen, so wie dies auch sonst im gesellschaftlichen Leben üblich ist. Ähnlich heißt es im EKK:

Gewiß kann man den Text paraphrasieren und etwa so interpretieren: Ihr sollt ihn zunächst merken lassen, daß er sich außerhalb der Gruppe stellt, indem ihr ihn meidet und die Kontakte reduziert oder aufgebt. Dann wird er zur Besinnung kommen und beschämt werden. Aber er soll keinesfalls als ein »Feind« in dieser Zeit angesehen werden, sondern einige Leute möchten diesen Zwischenstatus von Drinnen- und Draußensein benützen, ihm die Leviten zu lesen. Dann mag es gelingen, daß er sich wieder ganz einfügt …o.ä. [30]

Das Verständnis des Kommentars zur Stelle in 2Thess 3, 14-15, so mag man argumentieren, liefere demnach ein weiteres Argument gegen das Kontaktverbot. Hinzu komme noch, dass uns hier die gleiche griechische Wendung mḕ synanamígnosthai begegnet wie auch in 1Ko, für die die Wiedergabe im Deutschen „keinen Umgang haben“ oder „den Umgang meiden“ lautet. Obwohl in 2Thess damit die gleiche Aussagekraft vorliege wie in 1Ko, wird die Gemeinde aufgefordert, das Gemeindemitglied weiter als „Bruder“ zu ermahnen. Umso rätselhafter sei es, dass 2Thess 3, 14-15 in Wachtturm-Artikeln, die sich mit dem Gemeinschaftsentzug befassen, niemals mit angegeben werde, obwohl dies eine willkommene Parallelstelle wäre. Der Verzicht auf diese Parallelstelle sei aus einem Kalkül heraus motiviert, damit den Lesern diese klare Aussage, nämlich die Möglichkeit, den „Bruder“ weiter zu ermahnen (was ja den Kontakt voraussetzt!), entgeht. Die ausführlichste Abhandlung enthält der Wachtturm vom 15. Dezember 1981 mit dem Thema „Wenn einem Verwandten die Gemeinschaft entzogen wird“. Der Artikel umfasst sechs Seiten. Aber auch hier wird die Bibelstelle 2Thess 3, 14-15 mit keinem Mal erwähnt, wo diese doch mit 1Ko 5, 11 so eng beieinanderliegt, also wieder diese Parallelstelle, welche doch auch hier willkommen gewesen wäre. Auch in der neuesten Ausgabe des Wachtturm vom 15. Februar 2011 (S. 31-32), die sich hiermit befasst, wird diese Stelle nicht genannt. Stereotyp wird wie auch in allen anderen Ausgaben nur 1Kor 5, 9-13 angegeben. [31] Die Tatsache, dass diese Schriftstelle in den genannten Wachtturm-Veröffentlichungen nie mit angegeben wird, sei damit erklärbar, dass die Gemeindemitglieder zu einem Fehlschluss verleitet werden sollen, hier also ein Kalkül vorliege.

Inzwischen mag sich der geneigte Leser in 2Thess 3, 14.15 regelrecht verliebt haben, scheint doch der Text die Bannpraxis der Zeugen Jehovas über den Haufen zu werfen und somit die Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte zu retten. Aber mit den obigen Einwänden, die ein Betroffener, der um den Kontakt mit seinen lieben Angehörigen ringt, anhand von 2Thess 3, 14.15 vorbringen mag, ist es bedauerlicherweise nicht möglich, das Bannverbot der Zeugen Jehovas zu widerlegen, wie es Raymond Franz in seinem Buch Auf der Suche nach christlicher Freiheit [32] versucht hat (wir werden später darauf zurückkommen). Das auf 2Thess 3, 14.15 gestützte Argument gegen die Bannpraxis lässt sich nämlich nur aufrechterhalten, wenn ohne theologische Reflexion über beide Schriftstellen 2Thess 3, 14.15 gegen 1Ko 5, 9.11 ausgespielt wird, d. h. beide Stellen stünden einander in Widerspruch. Es muss daher zunächst die Frage beantwortet werden: Welcher Fall liegt in 2Thess 3, 14.15 und welcher in 1Ko 5, 9.11 vor? In 1Ko haben wir es mit Unzucht zu tun, in 2Thess ist von „unordentlichen“ Gemeindemitgliedern die Rede. Die Führung der Zeugen Jehovas sieht dies ebenso. Sie argumentiert nämlich zu Recht, dass in 1Ko 5, 9-13 andere Gründe vorliegen als in 2Thess 3, 6ff. In einem Wachtturm-Artikel „Fragen von Lesern“ wird erklärt:

Das Problem mit den ‚unordentlichen‘ Brüdern stand somit weder auf der Stufe einer rein persönlichen Angelegenheit zwischen Christen, noch war es so ernst, daß die Versammlungsältesten eingreifen und einen Gemeinschaftsentzug vornehmen mußten, wie es Paulus in Verbindung mit der Unsittlichkeit in Korinth tat. Die „Unordentlichen“ hatten keine schweren Sünden begangen wie der Mann, der in Korinth ausgeschlossen wurde. [33]

Wenn wir objektiv bleiben wollen, dann kommen wir nicht umhin, einzuräumen, dass Paulus im 2. Thessalonicherbrief tatsächlich nur von „Unordentlichen“ spricht (vgl. den Kontext 2Thess 3, 6-15) [34]. Unordentlichkeit ist hier kein sittliches Vergehen wie in 1Ko 5, 9.11. Mit den „unordentlichen Brüdern“ meint Paulus solche, die „überhaupt nicht arbeiten, sondern sich in etwas einmischen, was sie nichts angeht“ (V. 11). Offenbar hatte sich in dieser Gemeinde der Schlendrian eingeschlichen. Er betonte zuvor, dass er sich selbst ja auch nicht „unordentlich benommen“, sondern hart gearbeitet habe, um niemandem zur Last zu fallen (V. 7-8). Die Qualität der Gemeindezucht im 2. Thessalonicherbrief ist somit aufgrund der anders gelagerten Situation eine andere als die im 1. Korintherbrief. Dies ist schon daran erkennbar, dass in 2. Thessalonicher die Wendung „keinen Umgang haben“ im Griechischen im Imperativ steht (synanamígnysthe), in 1Kor 5, 9.11 jedoch nur im Infinitiv (synanamígnysthai). Nur marginal sei an dieser Stelle eingestreut, dass ich den Imperativ eher in 1Ko 5, 9.11 erwartet hätte, da dort die schwerwiegenderen Sünden (also die sittlichen) aufgeführt sind. Und dennoch stoßen wir in der Kirche von Korinth auf eine andere, härtere Gangart mit Sündern, wenn es dort sogar heißt „selbst nicht mit einem solchen zu essen“. Raymond Franz hatte sich bei seinen Begründungen in seinem Buch nur auf den griechischen Begriff mḕ synanamígnosthai bzw. mḕ synanamígnysthe beschränkt [35] und nur dies zur „Nagelprobe“ gemacht. Dabei hat er wohl die unterschiedliche Qualität der Gemeindezucht, die ja auch vom Grad des Fehlverhaltens eines Bruders abhing, übersehen. Ihm ist zwar darin zuzustimmen, dass die griechischen Wörter in beiden Textstellen die gleiche Aussagekraft haben, aber nicht darin, dass in der Konsequenz auch beide Textstellen ebenso die gleiche Qualität in Bezug auf die Gemeindezucht hätten. Aber eigentlich ist Paulus für dieses Missverständnis verantwortlich, wie wir später sehen werden.

Aber setzt nicht auch in 2Thess die Formulierung „keinen Umgang haben“ ein absolutes Kontaktverbot voraus, auch wenn es dort nur um „Unordentliche“, geht? Immerhin macht diese Wendung zwischen dem Sünder im Korintherbrief und dem „Unordentlichen“ im Thessalonicherbrief keinen Unterschied. In den Wachtturm-Schriften wird man vergebens für diese merkwürdige Spannung eine Lösung finden. Dass Umgangsverbot ist daher wegen der Beibehaltung der Bruder-Anrede insbesondere in 2Thess problematisch. Wie weit darf man gehen? In der korinthischen Gemeinde scheint die Regelung eindeutiger zu sein: „Selbst nicht mit einem solchen zu essen“ dehnt das Kontaktverbot auch auf den geselligen Umgang innerhalb der Gemeinde aus, eben auf die Liebesmähler, wie wir später hören werden. Hier sind die Verhältnisse also klar abgesteckt. Die Wendung „keinen Umgang haben“ kann man aber auch im 2. Thessalonicherbrief ebenso auf den gesellschaftlichen Umgang innerhalb der Gemeinde deuten. Demnach dürften auch die „Unordentlichen“ an diesen Liebesmählern nicht teilnehmen. Andererseits aber sollen die Gemeindeglieder den Bruder nur „bezeichnet halten“ (V. 14), was keinen völligen Kontaktabbruch, aber doch schon eine gewisse Distanz zum Bruder voraussetzt. Erst recht stellt dies kein Grußverbot dar, zumal der formelle Gruß ja auch noch keine Einladung zu einem geselligen Beisammensein bedeuten muss. Er kann aber dazu führen. Wie weit soll man also gehen? Auch nach einem formellen Gruß: Wie weit darf die Unterhaltung gehen? „Bezeichnet halten“ bedeutet hier: „»den merkt euch«, »den macht (als einen solchen unter euch) bekannt«, »den seht dafür vor, daß…«“ [36]. Gilt dies nur innerhalb der Gemeinde oder auch außerhalb? Wie aber passt dann der Abbruch des Umgangs zur freundlich brüderlichen Ermahnung? Ist die brüderliche Ermahnung nicht auch eine Umgangsform? Paulus lässt uns hierüber im Unklaren. Das Umgangsverbot mit den Unordentlichen ist meines Erachtens unverhältnismäßig. Der Kommentator von Wolfgang Trilling bemerkt hierzu:

Soll man mit ihm [dem „Bruder“] reden oder nicht? Muß nicht das eine oder das andere gelten? […] Nimmt man den Text beim Wort und vergleicht die VV 6.14.15 miteinander, so wirkt er unausgeglichen und eins paßt nicht zum anderen, oder anders: Auch wenn man nicht so strenge Logik anwendet, machen die Anweisungen einen unausgewogenen Eindruck. Es sind einige allgemeine »gute Worte«, die letztlich von der Verfasser-Fiktion diktiert sein dürften. Wirkt doch auch der Kontrast von »Feind« und »Bruder« künstlich und gesucht. Aufgrund dieser Beurteilung des Textes ist es m. E. nicht möglich, historische Folgerungen auf eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der urchristlichen »Kirchendisziplin« zu ziehen. [37]

Kurz: Man dreht sich im Kreis. Es fehlen klare Anweisungen, die das Verhalten gegenüber „Unordentlichen“ regeln. Man hat das Gefühl, Paulus „eiert“ herum. Das Umgangsverbot widerspricht der Aufforderung, die Bruder-Anrede beizubehalten und diesen freundlich zu ermahnen. Es ist nicht möglich, beiden Aufforderungen des Paulus gleichzeitig nachzukommen. Wolfgang Trilling hat daher auch schon einige Zeilen früher bemerkt:

Diese Unklarheit, der moralische Einschlag und die Undeutlichkeit des ganzen empfohlenen Verfahrens machen die »Regel« für die Praxis unbrauchbar. Ich vermute, daß sie auch nie praktiziert worden ist […]. [38]

Die Vermutung dürfte zumindest auf 2Thess 3, 6.15.15 zutreffen. Wie immer man diese Stellen auslegen mag, was jedoch hoffentlich deutlich geworden ist, ist die Tatsache, dass Paulus sämtliche Empfehlungen und Auflagen nur auf den Lebensraum innerhalb der Kirchengemeinde hin formuliert hat, nicht jedoch auf das private Umfeld hin. Die Sorge des Paulus betraf somit nur die Kirche selbst, den Ort, wo sich Christen im Namen Jesu versammeln, die Eucharistie feiern und im Anschluss daran gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen, also „Liebesmähler“ veranstalten. Der „gesellige Umgang“ war damit innerhalb der Gemeinde gegeben, so dass man nicht darüber spekulieren muss, ob das Umgangsverbot auch für den privaten Bereich gilt. Paulus lässt uns über den Umgang mit Glaubensbrüdern in der Privatsphäre im Unklaren, so dass vom Gemeindeleben nicht auf das Privatleben geschlossen werden kann und im Übrigen auch nicht sollte. Gerade hier fehlen klare Anweisungen. Man darf daher getrost den Gemeinschaftsentzug, wie Paulus ihn fordert, auf den „Ausschluss von der Kultgemeinschaft der Gläubigen u. der eucharistischen Speise“12 beschränken (Siehe 1Ko 11, 27.32).

Wie aber steht es mit 1Ko 5, 9.11, wo die Anweisungen eindeutig sind? Wird nun angesichts dessen das Kontaktverbot von Zeugen Jehovas zu Recht praktiziert? Ist es etwa nicht biblisch, wenn Paulus dort das Verbot auferlegt, von gemeinsamen Mahlzeiten mit dem Sünder abzustehen? Wenn wir dem biblischen Text treu bleiben wollen, haben wir uns auch Aussagen in der Bibel zu stellen, die uns Unbehagen bereiten können. Da die Bannsprüche des Paulus, auf die konsequenterweise auch das Kontaktverbot folgt, eindeutig sind, reduziert sich die Frage darauf, ob es sich hierbei um soziale Kontakte nur innerhalb der Gemeinde oder auch außerhalb dieser handelt. Hier müssen wir etwas tiefer in die Diskussion eintreten.

VI. Das Kontaktverbot ‒ nur in Bezug auf das Gemeinde- oder auch Privatleben?

Es sprechen viele Gründe dafür, die nahelegen, dass Paulus das Verbot, „mit einem solchen [Glaubensbruder] zu essen“, nur auf die Gemeinschaftsmahle innerhalb der Kirchengemeinde bezog (Apg 2, 42; siehe auch Jud 12, wo von „Liebesmählern“ [40], auch Agapefeier genannt, die Rede ist), die Bestandteil des Gottesdienstes waren und im Anschluss an der Eucharistie [41] veranstaltet wurden. In der Brockhaus-Enzyklopädie wird zum Begriff Agapefeier erklärt:

Mit dem sakramentalen Genuss von Brot und Wein (Eucharistie) war, ähnlich wie beim jüdischen Passahmahl, anfangs eine sättigende Mahlzeit verbunden (vergleiche Didache 10, 1), zu der die Wohlhabenden Lebensmittel mitbrachten; auch Almosen wurden bei dieser Gelegenheit ausgeteilt (vergleiche Apostelgeschichte 6, 1f.). Erst wegen der Entartung der Mahlfeier (1. Korintherbrief 11, 20-22; Judasbrief 12) empfiehlt Paulus die Trennung des Sättigungsmahls von der sakramentalen Feier (1. Korintherbrief 11, 34). Der Name Agape ging nun auf das verselbstständigte Sättigungsmahl über; seit dem 2. Jahrhundert für Rom bezeugt (Justin) und im 7. Jahrhundert letztmals erwähnt. - Als Gemeinschaftsmahl im Anschluss an einen Gottesdienst hat die Agape heute in zahlreichen christlichen Gemeinden wieder an Bedeutung gewonnen.

Das Sättigungsmahl fand in der Urkirche somit vor der Eucharistiefeier statt und wurde später ab dem 2. Jh. auf das Ende des Gottesdienstes gelegt. Mir selbst sind zwei Freikirchen bekannt, in denen im Anschluss an den Gottesdienst regelmäßig eine gemeinsame Mahlzeit abgehalten bzw. zumindest Kaffee getrunken wird. Selbst Zeugen Jehovas veranstalteten früher einmal Liebesmähler. In dem Buch Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes [42] heißt es:

Bei den ersten Kongressen wurde nach Schluß das sogenannte Liebesmahl veranstaltet, das die christliche Brüderlichkeit, die unter den Anwesenden herrschte, widerspiegelte. [43]

Und im Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1975) wird berichtet:

Bei jenen ersten Kongressen des Volkes Gottes war einiges etwas anders als heute. Nimm zum Beispiel das „Liebesmahl“. Was war das? Über diesen Bestandteil der ersten Kongresse berichtet J. W. Ashelman: „Einige Bräuche, die später nicht mehr nötig waren oder nicht weiter gepflegt wurden, schienen damals ein Segen zu sein, zum Beispiel, daß sich die Redner auf der Bühne in einer Reihe aufstellten und Teller mit in Würfel geschnittenem Brot in der Hand hielten, während die Zuhörer vorbeimarschierten, etwas von dem Brot nahmen, jedem Redner die Hand schüttelten und gemeinsam das Lied ,Gesegnet Band, das bind’t der Christen Herz‘ sangen.“ Das war also das „Liebesmahl“, es war ein rührendes Erlebnis. […]

Die ersten Christen veranstalteten manchmal „Liebesmahle“, aber die Bibel beschreibt sie nicht näher (Jud. 12). Einige glauben, daß es Gelegenheiten waren, bei denen wohlhabende Christen ein Festessen gaben, zu dem sie ihre ärmeren Mitgläubigen einluden. Doch was diese „Liebesmahle“ damals auch immer gewesen sein mögen — die Bibel schreibt sie nicht vor, und so sind sie auch heute unter wahren Christen nicht mehr üblich. [44]

Wenn Paulus somit untersagte, „selbst mit einem solchen zu essen“, bezog er sich zweifellos nur auf die Liebesmähler, die bei den Urchristen üblich waren. Insbesondere in 1Ko 5, 11 kommt zum Ausdruck, „daß mit dem Sünder auch nicht Tischgemeinschaft zu pflegen ist (11), das Herrenmahl einbezogen. Im Zuge der weiteren Entwicklung hatte die Exkommunikation außer dem Verbot der Teilnahme am Herrenmahl im Gefolge, daß der Betroffene alle Rechte einer Teilhabe am religiösen Leben verlustig ging“ [45]. Die Liebesmähler waren Bestandteil des Gottesdienstes. Damit wird deutlich, dass Paulus die Regelung von Kontakten zwischen Gemeindemitgliedern und dem Sünder oder den „Unordentlichen“ nur auf das kirchliche Gemeindeleben beschränkte, auf die Tischgemeinschaft, auf das Herrenmahl, auf die Eucharistie. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit Sündern außerhalb der Gemeinde stehen bei Paulus gar nicht zur Disposition und waren daher Privatangelegenheit, wie auch sonst Privatangelegenheiten in anderen paulinischen Aussagen niemals zur Debatte stehen. Das NT berichtet uns nicht, dass durch das Umgangsverbot in Kauf genommen wurde, dass Ehen und Familien gespalten wurden. Nirgendswo im NT finden sich Berichte über die sozialen Folgen einer Exkommunikation. Dies lässt den Schluss zu, dass es außerhalb der Gemeinde nicht praktiziert wurde. Ebenso heißt es in dem Werk Reallexikon für Antike und Christentum:

Excommunicatio bzw. excommunicare sind in der ältesten Zeit christlichen Gemeindelebens quellenmäßig nicht zu belegen. Sie sind Neubildungen latein.-christl. Sprachgebrauchs.[46]

Zudem muss man bedenken, dass es sich bei dem großen Maß an Gastfreundschaft, wie sie in der antiken Welt üblich war, herumgesprochen hätte, wenn die Grußverweigerung und das Kontaktverbot auch außerhalb der Gemeinde praktiziert worden wäre. Einem derart detailgetreuen antiken Autor, wie beispielsweise dem jüdischen Geschichtschreiber Josephus Flavius, wäre ein solch ungewöhnliches Verhalten von Christen mit Sicherheit aufgefallen.

Nachdem wir nun untersucht haben, inwieweit der Kirchenbann praktiziert wurde, treten wir nun im Folgenden in die Diskussion darüber ein, welche Gründe Zeugen Jehovas für einen Gemeinschaftsentzug vorbringen, inwieweit sie biblisch haltbar sind und welche ausschließlich biblischen Gründe akzeptabel sind.

VII. Gemeinschaftsentzug wegen porneía

Die meisten Fälle von Gemeinschaftsentzug bei Zeugen Jehovas sind auf porneía [47] zurückzuführen. Dieses griechische Wort wird in den meisten Bibelübersetzungen mit „Unzucht“ („Hurerei“, NWÜ) wiedergegeben. Bei Zeugen Jehovas geht es dabei fast ausschließlich um das Verbot vorehelichen Verkehrs, d. h. einer eheähnlichen Gemeinschaft ohne Trauschein. Porneía schließt nach der Moralauffassung der Zeugen Jehovas auch ein, wenn ein Ehepartner sich trennt und einen anderen heiratet oder in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihm zusammenlebt. Wir werden im Folgenden diesen Sachverhalt näher beleuchten müssen, denn es scheint sich inzwischen herauszukristallisieren, dass der Kirchenbann in der Urkirche dennoch nur in Extremfällen praktiziert wurde, wie z. B. bei dem Unzuchttreibenden in 1Ko 5, 1, wo es heißt:

Überhaupt ‒ man hört von Unzucht bei euch; und zwar von so schlimmer Unzucht, wie es sie nicht einmal bei Heiden gibt: daß jemand mit der Frau seines Vaters zusammenlebt. [48]

„Daß jemand mit der Frau seines Vaters zusammenlebt“ erinnert an 3Mo 20, 11. Dort heißt es mit fast gleichem Wortlaut:

11 Und ein Mann, der bei der Frau seines Vaters liegt, hat die Blöße seines Vaters aufgedeckt.

Ulrich Wilckens kommentiert die Stelle in 1Ko 5, 1 wie folgt:

Sowohl im jüdischen wie im römischen Recht war der Verkehr mit der zweiten Frau des Vaters als ‹Schändung des Vaters› verboten (3Mo 18, 7f; 20, 11). Der betreffende korinthische Christ lebte wahrscheinlich in wilder Ehe mit der entlaufenen, geschiedenen Frau seines Vaters.

Mit anderen Worten: Der Sohn des Vaters hat mit dessen zweiter Frau, also seiner [des Sohnes] Stiefmutter, Verkehr gehabt und auf diese Weise Unzucht getrieben. Hier ist also nicht von verbotenem Verkehr mit irgendeiner Frau die Rede, sondern von verbotener sexueller Beziehung mit seiner Stiefmutter. Dass hier nicht allgemein vorehelicher Verkehr zwischen Unverheirateten, also ohne Trauschein, gemeint ist, wird auch durch die mit Entsetzen zum Ausdruck kommenden Worte des Paulus „wie es sie selbst nicht unter den Nationen gibt“ (NWÜ) deutlich. Paulus wirft der Gemeinde vor, nicht selbst schon gegen den Sünder vorgegangen zu sein (1Ko 5, 2) [49] und verhängt nun selbst den Bann über den Unzuchttreibenden: „Ich für meinen Teil habe, obwohl dem Leib nach abwesend, im Geist aber anwesend, den Mann, der auf eine solche Weise gehandelt hat, sicherlich bereits gerichtet, als wäre ich anwesend […]“. Interessant ist, um welche Art von Unzucht es sich bei dem ausgeschlossenen Mann in Korinth handelte:

Die von Paulus gegen den Blutschänder von Korinth verhängte Strafsanktion ist typische, auf den physischen Tod des Frevlers abgestellte Devotionsformel nach antik-heidn. Vorbild […]. [50]

Blutschande war im Judentum eines der schlimmsten Verbrechen. Im NT hat Jakobus in seiner so genannten „Jakobusklausel“ beim Apostelkonzil (um 48/50 n. Chr.) diese Form der Unzucht als porneía bezeichnet (Apg. 15, 20). Bei den Heiden war die Heirat unter Verwandten mit Ausnahme des ehelichen Verhältnisses, wie es in 1Ko 5, 1 beschrieben ist (und auch nach römischem Recht verboten), üblich. Unzucht umfasste aber nach jüdischer Sicht mehr als nur den Verkehr „mit der Frau seines Vaters“; vielmehr alle verbotenen verwandtschaftlichen sexuellen Beziehungen, wie sie in 3Mo 18, 6-17 beschrieben werden. So hielt es Jakobus für notwendig, den Heidenchristen aufzuerlegen, sich auch von allen anderen Formen der porneía im Sinne der Blutschande zu enthalten, um die Juden nicht vor den Kopf zu stoßen. Der Unzuchttreibende in 1Ko 5, 1f. hat also, wie bereits erwähnt, nicht „vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr“ begangen, wie Zeugen Jehovas dies gerne hineinlesen, sondern hier ging es um Verkehr innerhalb enger Verwandtschaftsgrade - um Blutschande aus jüdischer Sicht. Die Gute Nachricht-Bibel gibt daher zu Recht das griechische Wort porneía in Apg 15, 20 mit „Blutschande“ wieder. Um also zu verstehen, was in dem einen oder anderen Fall mit porneía gemeint ist, muss der Kontext vor dem Hintergrund des antiken soziokulturellen und jüdischen Hintergrunds berücksichtigt werden.

Dieser Aspekt der porneía betreffend schien mir wert, geklärt zu werden, da Zeugen Jehovas sowie auch andere Freikirchen, unter denen viele für ihre rigide Sexualmoral bekannt sind, das griechische Wort porneía für ihre eigenen Moralvorstellungen missbrauchen, indem sie ihm eine Bedeutung unterschieben, die es in der Bibel so nicht hat. Porneía kann meines Erachtens daher heute nicht auf „eheähnliche“ Lebensgemeinschaften von Mann und Frau angewandt werden, um damit den Gemeinschaftsentzug zu legitimieren. Eine Ehe ohne Trauschein ist heute durch Gesetz und Sitte anerkannt und wird nicht mehr wie früher, z. B. bis zur Ära des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, als porneía empfunden („Kuppelei“) und seit 1973 auch nicht mehr unter Strafe gestellt. Diese rigide Moralvorstellung war nicht zuletzt auf „eine weithin leibfeindliche Betrachtungsweise“ zurückzuführen, die „maßgeblich beeinflusst [war] durch in die Patristik eingeflossene neuplatonische und auch gnostische Denkansätze“ [51], so dass wir hieraus den Schluss ziehen dürfen, dass Zeugen Jehovas eher in dieser neuplatonischen und gnostischen Tradition denn in biblischer Tradition stehen. Sie haben wie auch viele andere Kirchen die spätantike Leibfeindlichkeit von den Kirchenvätern übernommen und diese in ihre Moraltheologie [52] integriert.

Das griechische Wort ist daher keine statische Größe, bei der eine bestimmte Sexualmoral unverändert über Jahrtausende tradiert wird, wobei eine Ausnahme wohl immer das Verbot von Geschlechtsbeziehungen innerhalb enger Verwandtschaftsgraden bleiben wird.

Kommen wir als Nächstes zur biblischen Grundlage des Kirchenbanns.

VIII. Der Gemeinschaftsentzug hat eine biblische Grundlage

Um das ganze Spektrum abzudecken, müssen wir uns mit einem weiteren Bannspruch befassen, den Paulus geäußert hat. Er sagt unmissverständlich:

„Entfernt den bösen [Menschen] aus eurer Mitte.“ (1Ko 5:13)

Spätestens an dieser Stelle wird klar: Der Gemeinschaftsentzug, die Exkommunikation, hat eine biblische Grundlage. Hier gibt es nichts zu deuteln, nichts zu diskutieren, nichts zu beschönigen. Da hilft kein rhetorischer Kunstgriff, kein Euphemismus, um seine Worte zu relativieren. Mit 2Thess 3, 6.14.15 hat dies nichts mehr im Geringsten zu tun. Dort geht es nicht um „böse [53] [Menschen]“, sondern nur um „Unordentliche“. Die Anweisung des Paulus an die Korinther mutet jedoch schlimmer an, als sie ist, denn die Regelung des Kontakts erledigt sich in der Regel von selbst, wenn wir erfahren, um was für Menschen es sich handelt, die mit diesem Bann belegt werden sollen. Von welchen Menschen hat Paulus also hier gesprochen, deren Verhalten gegenüber den Gemeindemitgliedern dermaßen unzumutbar ist, so dass ihnen der Zugang zum Gottesdienst versperrt werden muss? Nun, er sprach von Gemeindemitgliedern, die zwar als Glaubensbrüder bekannt sind, aber ein Leben als Unzuchttreibende, [54] Habgierige, Götzendiener, Schmäher, Trunkenbolde oder Erpresser führen. Zur Unzucht (gr. porneía) gehörte in der Antike auch die Tempelprostitution. Jeder Club, Verein oder Verband würde Menschen wie Erpresser oder Trinker sofort ausstoßen:

Jede soziale Gruppe in Geschichte u. Gegenwart pflegt das Recht für sich in Anspruch zu nehmen, einzelne Glieder unter bestimmten Voraussetzungen vorübergehend oder für immer auszuschließen. Solche Maßnahmen waren auch Kulturvölkern des röm. Weltreiches nicht fremd. […] Ein Ausschluß aus Vereinen ist bei den röm. collegia für unwürdige Mitglieder u. für solche, die sich gegen die Vereinssatzungen vergangen haben, bezeugt. [55]

Der Ausschluss z.B. aus einem Golf-, Fußball- oder Tennisclub führt aber nicht zwangsläufig zum Kontaktabbruch. Einzelne Mitglieder mögen sich zwar dafür entscheiden, den Kontakt zu meiden, aber der Club oder Verein macht dies nicht zur allgemeingültigen Auflage gegenüber seinen Mitgliedern. Er verhängt kein allgemeines Gruß- und Kontaktverbot. Die Gemeindemitglieder werden sich aber schon im eigenen Interesse von solchen Menschen zurückziehen oder dem Unbotmäßigen nahelegen, die Gemeinschaft zu verlassen, denn welcher aufrichtige und ehrliche Mensch wünscht schon die Gemeinschaft mit Trinkern, Erpressern, Götzendienern oder Habgierigen! Der Übeltäter selbst ist es, der durch sein Verhalten seine Zugehörigkeit zur Gemeinde in Frage stellt. Aber biblisch gesehen lässt sich auch hieraus ein allgemeines Kontakt- und Grußverbot außerhalb der Gemeinde nicht ableiten! Wir reden hier – und das tut auch der Apostel Paulus – über Gemeindezucht, nicht über die Ausdehnung der Gemeindezucht auf Privatangelegenheiten außerhalb der Gemeinde.

IX. Der Gemeinschaftsentzug beruht auf einem falschen Kirchenverständnis der Zeugen Jehovas

Fatal sind die sozialen Konsequenzen des Gemeinschaftsentzugs vor allen Dingen dann, wenn auch noch falsche Begründungen zur Grundlage gemacht werden. Diese beruhen vor allen Dingen auf einem falschen Kirchenverständnis der Zeugen Jehovas. Daher sind die Begründungen biblisch unhaltbar und lassen sich deshalb nicht auf eine Weise rechtfertigen, wie sie im Wachtturm vom 15. Februar 2011 (S. 31) dargelegt werden. Es werden drei Begründungen angeführt, wobei die ersten beiden biblisch nicht haltbar sind:

Notwendig ist das [Entfernen aus der Versammlung] aus drei Gründen: 1. Damit der Name Jehovas nicht in den Schmutz gezogen wird, 2. Um die Versammlung vor schlechtem Einfluss zu schützen und 3. Um den Sünder wenn möglich zur Reue zu bewegen.

Eine Seite weiter ist noch von Reinerhaltung der ‚Organisation Jehovas‘ die Rede, ein Schlagwort, das uns stereotypisch immer wieder in den Wachtturm-Schriften begegnet. Zeugen Jehovas ist vor allen Dingen daran gelegen, ein idyllisches Bild einer „reinen Organisation“ zu zeichnen, um es als charakteristisches Merkmal einer wahren Religion darzustellen. Der Vorwurf, der sich immer wieder in ihren Schriften gegenüber anderen Religionen findet, diese versäumten die ebenso strenge Kirchenzucht, gibt Zeugen Jehovas das Gefühl, als einzige Religion auf dem richtigen Weg zu sein. Zwar klingt „Reinerhaltung der Organisation“ mit dem Ziel des Schutzes der Gemeindemitglieder zunächst plausibel. Aber eine solche Auffassung über die „reine“ Kirche widerspricht Jesu „Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen“ (Mt 13, 24-30), aus dem die Kirche nun einmal bis zur Parusie [56] (Ankunft) Jesu besteht. In dem Werk Religion in Geschichte und Gegenwart wird erklärt:

Ebensowenig kann es auf der anderen Seite darum gehen, die Kirche von Scheinchristen und Heuchlern zu befreien, also das Ideal einer reinen, »entschiedenen«, jeder Verweltlichung widerstehenden Gemeinde aufzurichten. Mit dem »Unkraut« würde am Ende auch der Weizen ausgerissen (Mt 13, 29). [57]

Das NT lehrt nicht, dass Christen in dem Sinne „organisiert“ auftreten würden, als sei der Weizen vom Unkraut bereits getrennt, dass also die Kirche nur noch aus dem Weizen bestünde. Wenn dem so wäre, bräuchte Christus bei seiner Ankunft (Parusie) die Schafe von den Böcken nicht mehr trennen, weil ja die Kirche Christus hier bereits zuvorgekommen wäre, also das Trennungswerk bereits vollzogen hätte. Jesus Christus warnte in seinem Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut vor dem Wunsch, die Kirche jetzt schon von allem Übel zu reinigen. Das Kind würde mit dem Bade ausgeschüttet, das heißt, der Weizen würde, da er noch nicht klar zu erkennen sei, mit herausgerissen werden. Um dies deutlich zu machen, benötigt man Kenntnisse aus der Landwirtschaft: Während des Wachstums ist anfangs der Weizen wegen des Unkrauts nicht klar zu erkennen. Erst später bei der Ernte ist auch der Weizen deutlich sichtbar. Zunächst wurde in der antiken Landwirtschaft beim Ernten sowohl das Unkraut als auch der Weizen gleichzeitig abgemäht. Es war auch nicht anders möglich, denn die Wurzeln des Unkrauts sind zum Erntezeitpunkt mit den Wurzeln des Weizens ineinander verflochten. Hätte man also erst das Unkraut herausgerissen (oder ausgejätet), wie es die Jünger Jesus vorgeschlagen hatten, dann wäre in Übereinstimmung mit Mt 13, 29 auch der Weizen mit herausgerissen und damit beschädigt worden. Daher sollte beides zunächst so hoch wachsen, dass es mit der Sichel abgeschnitten werden konnte. Bei der Ernte konnte man also die Sichel anlegen und somit das Unkraut und den Weizen zunächst zusammen auf den Boden fallen lassen. Danach konnte man das Unkraut einsammeln und dann den Weizen. Im EKK wird erklärt:

Trotz des Jätens stehengebliebener Lolch wurde von den Schnittern fallengelassen und nachher als Hühnerfutter gesammelt oder verbrannt. Eine eigenartige Landwirtschaft also […]. Stimmig ist in diesem [jüdischen] Kontext auch, daß die Lolchhalme zuerst eingesammelt und verbrannt werden, denn nach jüdischer Erwartung werden in den Enddrangsalen oder im Vernichtungsgericht die Bösen vernichtet und die Gerechten bewahrt. [58]

Da am Ende das Unkraut und der Weizen gleichermaßen gut erkennbar sind, können sie nun voneinander getrennt werden. Im Gleichnis sind es die Schnitter, die das Unkraut einsammeln und verbrennen und anschließend den Weizen in die Vorratshäuser bringen. In der Deutung des Gleichnisses Jesu (ab V. 36) handelt es sich beim Weizen um die „Söhne Gottes“ und beim Unkraut um die „Söhne des Bösen“. Mit der Ernte sowohl des Unkrauts als auch des Weizens stellt Jesus eine Analogie zum Endgericht her, bei dem er seine Engel aussendet, um das Unkraut zu vernichten, und am Ende „[leuchten] die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne“ (V. 42, Zürcher Bibel). Dies ist der Skopus dieser Gleichnisrede.

Es steht also keinem Menschen zu, schon vor Jesu Ankunft das Unkraut herauszureißen, um aus der Kirche eine „reine Organisation“ zu machen. Wie wir im Gleichnis gesehen haben, würde diese voreilige Maßnahme den Gemeindemitgliedern (dem „Weizen“) schaden. Die Ernte ist nicht jetzt, sondern erst bei der Parusie Jesu Christi. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen relativiert daher auch die Praxis der Kirchenzucht. Nebenbei bemerkt ist auch die Behauptung der Zeugen Jehovas, durch ihr weltweites Predigtwerk („von Haus zu Haus“) hätten sie am Erntewerk teil, daher ein Fehlschluss. Sie beruht auf der unhaltbaren Lehre, Jesus Christus sei seit 1914 mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs unsichtbar wiedergekommen und handle seitdem durch den „treuen und verständigen Sklaven“, die Leitung in der Weltzentrale der Wachtturm-Organisation in Brooklyn (New York).

Worin liegt also der Sinn der Gemeindezucht, die auch gelegentlich zum Ausschluss aus der Gemeinde führen kann? Im bereits angeführten Werk RGG4 heißt es dazu:

Demgegenüber kann der Zweck der Kirchenzucht nur darin bestehen zu vermeiden, »daß während die Frommen schlafen, die Gottlosen voranschreiten und der Kirche Verderben bereiten« (→ Confessio Helvetica posterior, Art. 18). [59]

Es geht also nicht um Säuberung der Kirche, sondern darum, die Kirche vor Schaden zu bewahren. Dass die „Frommen“ schlafen, darf nicht als mangelnde christliche Wachsamkeit gedeutet werden, denn auch die fünf klugen Jungfrauen in Jesu „Gleichnis von den ‚zehn Jungfrauen‘ “ schlafen. Die törichten Jungfrauen schlafen ebenfalls: ‚sie alle wurden müde und schliefen ein‘ (V. Mt 25, 5). Aber der Unterschied besteht darin, dass die fünf törichten Jungfrauen zwar ihre Lampen, aber kein Öl bei sich haben, um sie anzünden zu können, sobald der Bräutigam (Jesus Christus) kommt. Die klugen Jungfrauen dagegen haben sowohl die Lampen als auch das Öl dabei. Sie können also ruhig schlafen (vgl. Mt 25, 1-12), denn sie sind bereit! Die Dummheit der törichten Jungfrauen wird zudem noch dadurch betont, wenn man sich fragt, warum sie nur die Lampen, aber kein Öl mitgenommen haben! Eine absurde Vorstellung! Sie hätten also der Kirche tatsächlich beinahe Verderben bereitet, denn sie wollten etwas von dem Öl der klugen Jungfrauen abbekommen. In diesem Fall wären aber auch die Klugen ins Verderben geraten, da sie ja dann auch nicht mehr genug Öl bei sich gehabt hätten. Und so wären alle zehn Jungfrauen ins Unglück gekommen. So bedacht wie die fünf klugen Jungfrauen sind, schicken sie die Törichten zu den Händlern, die das Öl verkaufen (V. 9). Als sie von den Händlern zurückkehren, haben sie zwar nun auch das Öl dabei, aber es ist zu spät. Jesus hat sie daher nicht mehr hineingelassen. Die Tür ist verschlossen. Sie sind gewissermaßen ausgeschlossen, exkommuniziert (Vgl. Mt. 25, 10-12) und können der Gemeinde nicht schaden.

Mit der dritten Begründung im erwähnten Wachtturm, nämlich „um den Sünder wenn möglich zur Reue zu bewegen“, können wir ganz bestimmt mitgehen. Dies ist aber nur unter Aufrechterhaltung des Kontakts möglich und nicht dadurch, indem dem unbotmäßigen Gemeindemitglied jeglicher Kontakt auch außerhalb der Gemeinde versagt wird, er hierdurch den sozialen Tod erleidet und sich unter diesem sozialen Druck und infolgedessen unter einem falschen Motiv zur „Umkehr“ bemüht. Im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament wird der Sinn des Banns bzw. des Ausschlusses aus der Gemeinde ähnlich erklärt:

Es bedeutete nicht den völligen Bruch, sondern den Versuch, die Schuldigen auf brüderliche Weise (2 Th 3, 15) wieder auf die rechte Bahn zu bringen. [60]

Es wird erneut deutlich, dass die Exkommunikation nur in seltenen Ausnahmefällen angewandt werden durfte. Die Seelsorge hat Vorrang vor dem Kirchenbann. Dies trifft ebenso auch auf die „Übergabe an den Satan“ zu. In dieser Verbindung begegnen uns im NT nur zwei Fälle. Sind gebannte Zeugen Jehovas in diese Kategorie einzuordnen? Diesen Sachverhalt wollen wir als Nächstes untersuchen.

X. „Dem Satan übergeben“

An früherer Stelle (S. 5) haben wir kurz skizziert, dass ein Zeuge Jehovas als jemand betrachtet wird, der nach einem Gemeinschaftsentzug „zur bösen Welt Satans“ gehört, so im Wachtturm vom 15. Juli 2008, S. 26-27 mit Verweis auf 1. Joh. 5:19, wo es heißt:

19 Wir wissen, daß wir von Gott stammen, aber die ganze Welt liegt in der [Macht] dessen, der böse ist.

Diese Stelle muss vor dem Hintergrund von 1Ko 5, 5 und 1Tim 1, 20, betrachtet werden, um herauszufinden, inwiefern ein Gebannter „zur bösen Welt Satans“ gehört:

[…] einen solchen Menschen zur Vernichtung des Fleisches dem Satan übergebt, damit der Geist am Tag des Herrn gerettet werde (1Ko 5:5).

Zu diesen gehören Hymenạ̈us und Alexander, und ich habe sie dem Satan übergeben, damit sie durch Züchtigung gelehrt werden, nicht zu lästern (1Ti 1:20).

In 1Ko 5, 5 geht es, wie wir schon erfahren haben, um den Mann, der aus der korinthischen Gemeinde wegen Blutschande (porneía) dem Satan übergeben wird. An anderer Stelle haben wir uns ja bereits mit dem Begriff porneía befasst. In 1Ti 1, 20 hat Paulus einige Gemeindemitglieder „dem Satan übergeben“, weil sie „lästern“. Das Lästern richtet sich dabei gegen Jesus Christus und möglicherweise auch gegen Gemeindemitglieder, die ihn bekennen, denn in 1Tim 1, 13 spricht Paulus davon, dass auch er als Lästerer bezeichnet wurde und versucht hat, unter Drohung andere zum Widerruf gegen Christus zu veranlassen (Apg 26, 9-11). Woraus dies noch hervorgeht, ist der Umstand, dass „lästern“ hier die Wiedergabe des griechischen Verbs blasphēmeō ist und durch das eingedeutschte Substantiv „Blasphemie“ (Gotteslästerung), die sich eben auch gegen Christus richten kann, vertraut ist. Paulus greift also diesen Tatbestand des Lästerns in 1Tim 1, 20, wovon er in V. 13 auch über sich selbst zu berichten wusste, wieder auf, schlägt also eine Brücke zum V. 13.

„Zur bösen Welt Satans“ gehörte also ein Gebannter, der ein Blutschänder (1Ko 5, 5) und ein Gotteslästerer (1Ti 1, 20) ist. Die Behauptung der Wachtturm-Gesellschaft, durch den Gemeinschaftsentzug werde der Gebannte dem Satan übergeben, ist daher ein Missbrauch der relevanten Textstellen, weil vor dem Hintergrund dessen, was sie aussagen, den Ausgeschlossenen falsche Gründe untergeschoben werden. Wenn ein Ausgeschlossener z. B. zu einer anderen christlichen Kirche übertritt, kann er schon aus biblischer Sicht nicht als jemand betrachtet werden, der „dem Satan übergeben“ wurde und dadurch „zur bösen Welt Satans“ gehört, da der Grund des Banns weder Blutschande noch Gotteslästerung war.

Die „Übergabe an Satan“ hatte aber dennoch nicht die ewige Verdammnis zur Folge, denn diese Maßnahme sollte bewirken, dass „der Geist am Tag des Herrn gerettet werde“ (1Ko 5, 5) bzw. damit die Lästerer „durch Züchtigung gelehrt werden, nicht zu lästern“ (1Tim 1, 20). Somit gehören Ausgeschlossene auch nicht in diese Kategorie. Blutschande und Gotteslästerung liegen erfahrungsgemäß bei Ausgeschlossenen so gut wie nie vor In den wenigsten Fällen handelt es sich ‒ wenn überhaupt ‒ um Kindesmissbrauch oder Inzucht.

Nach dem bis hierhin Ausgeführten kommen wir zu dem Schluss, dass Zeugen Jehovas die Kirchenzucht missbrauchen, indem sie Begründungen für den Gemeinschaftsentzug anführen, die keine biblische Grundlage haben. Zwar soll diese Maßnahme auch zur Reue des auf Irrwegen gekommenen Bruders führen, es ist aber nicht allein oder vordergründig hierdurch motiviert. Im Vordergrund steht nicht der Bruder, sondern die Reinerhaltung der „Organisation“ und des Gottesnamens „Jehova“. [61] Dass es sich hierbei um ein falsches Kirchenverständnis handelt, haben wir bereits im Gleichnis Jesu vom Unkraut und vom Weizen an früherer Stelle erfahren dürfen. Motiviert ist auch diese Form der Gemeindezucht dadurch, dass Zeugen Jehovas sich damit als die untadeligste und reinste aller Kirchen etablieren möchten und sich damit über andere Christen erheben. Dies bildet eine der Grundlagen ihres Wahrheitsanspruchs. Bei der Kirchenzucht, wie Zeugen Jehovas sie praktizieren, geht es somit vor allen Dingen um Absolutheitsansprüche.

XI. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“

Die Sünden, die in 1Ko 5.9.11 aufgeführt werden mit der Folge des Ausschlusses des Unzucht treibenden Mannes in Korinth aus der Gemeinde (Vers 13) sind eindeutig. Wer diese Laster praktiziert (Erpressung, Blutschande, Schmähung, Trinken usw.) wird sich ohnehin nicht mehr mit der Gemeinde identifizieren. Ein solches Gemeindemitglied passt auch nicht ins Gemeindeleben. Ein Glaubensbruder, der dennoch auch privat mit ihm weiter verkehrt, verrät ohnehin, wes Geistes Kind er ist: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, sagt ein Sprichwort. Darin soll zum Ausdruck kommen, „dass sich Menschen mit gleicher [schlechter] Gesinnung gern zusammenschließen“ [62]. Dies sei erwähnt, um die Bedeutung dieses Spruchs noch einmal ins Bewusstsein zurückzurufen. Es wundert daher, dass Paulus hier überhaupt das Umgangsverbot aussprechen muss. Erledigt sich die Trennung der „Spreu vom Weizen“ im Sinne des zitierten Sprichwortes nicht ohnehin meistens von selbst? In den meisten Fällen trifft dies zu. In der Regel zieht man sich von Personen automatisch zurück, die einen solchen fragwürdigen Lebenswandel führen. Innerhalb der Kirchengemeinde ist dies jedoch nicht so leicht möglich. Somit wird erst vor dem Hintergrund der Sorge des Paulus um die Kirchengemeinde das Verhängen des Umgangsverbots verständlich. Auch dies zeigt, dass es Paulus nicht um das Privatleben ging, sondern um das Gemeindeleben, wo man Sündern nicht so leicht aus dem Weg gehen konnte.

In dieser Abhandlung geht es mir daher gerade nicht um Kritik gegen das Kontaktverbot innerhalb der Gemeinde. Die Organisation der Zeugen Jehovas praktiziert das Gruß- und Kontaktverbot jedoch auch auf austrittswillige Mitglieder, die die Lehren der Organisation mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren können. Dabei bedeutet dies nicht einmal, dass sie deshalb nicht in der „Lehre Christi“ bleiben. Sie haben einfach nur festgestellt, dass im Gegenteil viele der Lehren der Zeugen Jehovas nicht mit der Bibel, der „Lehre Christi“, übereinstimmen. Sie lassen sich daher weder in die Reihe des „bösen Menschen“ aus 1Ko 5, 13 einordnen noch unbedingt in die Reihe derer, die „nicht in der Lehre des Christus“ bleiben (2Joh 9). Damit missbraucht die Wachtturm-Organisation die Regelung der Kirchendisziplin, wie Paulus sie anwandte, indem sie auch jenseits des Gemeindelebens Einfluss auf den Umgang der Mitglieder mit den ausgetretenen Glaubensbrüdern nimmt. Im NT fehlt hierfür jede Stütze.

XII. Abweichlern werden unlautere Motive unterstellt

Im NT werden Abtrünnige nur in Verbindung mit Irrlehrern und Antichristen in Verbindung gebracht. Es berichtet uns nichts über Kirchenmitglieder, die aus anderen Gründen die Gemeinschaft verlassen wollten oder (außer aufgrund von Blutschande und Blasphemie) gebannt wurden. Paulus erwägt nicht einmal mögliche Konsequenzen daraus. Vor dieser Situation, die im NT nicht geregelt ist, stehen aber Zeugen Jehovas. Um hierfür eine biblische Grundlage zu finden, werden die Motive von Austrittswilligen in den Wachtturm-Schriften so konstruiert, dass sie wieder ins Bild neutestamentlicher Abtrünniger passen. In ihren Schriften werden den ausgetretenen oder ausgeschlossenen Mitgliedern deshalb unrechte Beweggründe unterstellt, um die Praxis des Gemeinschaftsentzugs mit der Gemeindezucht des Apostels Paulus in Einklang bringen zu können. So können sie auch dann als abtrünnig gelten, wenn sie sich einer anderen christlichen Kirche anschließen. Den Führern der Zeugen Jehovas geht es nicht um die Lehre Christi (2Joh 11) an sich, von der Johannes sprach, sondern um die Lehren der Organisation, die sie als im Einklang mit der Lehre Christi stehend betrachten.

Aber was verstehen Zeugen Jehovas unter „Abtrünnigkeit“? Im bereits zitierten Wachtturm vom 15. Juli 2011 wird auf der Seite 15 in einer Fußnote erklärt:

* Mit „Abtrünnigkeit“ ist gemeint, dass man sich von der wahren Anbetung distanziert, davon abfällt, sie vollständig aufgibt und dagegen rebelliert.

Zeugen Jehovas erheben den Anspruch, dass nur sie die „wahre Anbetung“ praktizieren. Dies ist im Übrigen ein Grund, warum sie die Ökumene ablehnen. Zieht sich ein Zeuge Jehovas also von der „wahren Anbetung“, d. h. der „Organisation Jehovas“, zurück, ist es so, als bliebe er nicht mehr in der „Lehre des Christus“. Nur mit dem Wahrheitsanspruch, die einzig wahre Anbetung zu haben, lässt sich der Gemeinschaftsentzug scheinbar legitimieren. Es spielt aber auch keine Rolle, ob man zu einer anderen Kirche übertritt und sich weiter als Christ betrachtet oder einfach nur der Organisation der Zeugen Jehovas den Rücken kehrt. Man ist auf jeden Fall ein „Abtrünniger“.

Damit das Kontaktverbot wirksam wird, müssen Dissidenten verunglimpft und ihre Motive in Frage gestellt werden. Es werden nicht ihre Argumente aufgegriffen, sie werden nicht einmal gewürdigt, sondern es erfolgt ein Frontalangriff auf sie selbst. In allen Wachtturm-Schriften bestehen die Angriffe auf „Abtrünnige“ ausschließlich aus Argumenten ad hominem [63] statt ihre Argumente der „Wahrheit“ gegenüberzustellen. Warum sind denn die Vertreter der „Wahrheit“ nicht bereit, es mit diesen „Irrlehrern“ aufzunehmen? Müssten die Vertreter der „Wahrheit“ bei einer Konfrontation mit diesen „falschen Lehrern“ nicht umso siegreicher aus der Diskussion hervorgehen, wenn sie tatsächlich im Alleinbesitz der Wahrheit sind? Wäre es für Zeugen Jehovas nicht ein großartiges Zeugnis der „gottlosen“ Welt gegenüber, wenn sie diese „Irrlehrer“ mit einer solchen Konfrontation bloßstellen und ins Unrecht setzen würden? Warum lassen sich die Zeugen Jehovas den Triumph über diese „Irrlehrer“ entgehen? Zeugen Jehovas haben z. B. stattdessen häufig ihre Teilnahme an Talkshows abgesagt, als ihnen mitgeteilt wurde, dass auch ehemalige Zeugen Jehovas zugegen seien. Aber da die Tyrannei der Autorität nicht über die absolute Wahrheit verfügt, wird sie die Bedenken, Gewissenskonflikte und berechtigte Kritik der „Abtrünnigen“ nicht einmal erwägen. Sie tritt ihre Motive, egal wie aufrichtig sie sind, stattdessen mit Füßen. Schon allein der Angriff auf die Person reicht daher aus, um jeden möglichen Dialog mit ihnen zu unterbinden:

Was wollen sie [die Abtrünnigen] bewirken? Die Organisation, die sie vielleicht einmal liebten, zu verlassen, reicht ihnen nicht. Ihr Ziel ist, wie Paulus erklärte, „die Jünger hinter sich her wegzuziehen“. Achten wir hier auf den bestimmten Artikel: „die Jünger“. Sie ziehen nicht los und machen eigene Jünger; nein, sie wollen die Jünger Christi mitnehmen. Sie sind wie „raubgierige Wölfe“ — darauf aus, die zutraulichen „Schafe“ in der Versammlung zu verschlingen, ihren Glauben zu zerstören und sie von der Wahrheit wegzulocken (Mat. 7:15; 2. Tim. 2:18). [64]

Bei nur rund 7.000.000 Zeugen Jehovas weltweit, die sich einbilden, der Herr Jesus Christus hätte 2000 Jahre lang nur auf diese eine Gruppe gewartet, muss man sich wundern und fragen, warum Zeugen Jehovas sich derart wichtig nehmen, dass sie sich einreden, irgendjemand hätte das geringste Interesse daran, die Anhänger abzuwerben. In dem Artikel werden diese Verunglimpfungen fortgesetzt, indem ihnen auch ein falsches Ethos untergeschoben wird:

Wie gehen falsche Lehrer vor? Auf sehr hinterlistige Weise. Abtrünnige schleusen „unauffällig“ schädliches Gedankengut ein, „schmuggeln“ ihre verkehrten Ansichten also heimlich, still und leise in die Versammlung. Und wie Betrüger, die mit geschickt gefälschten Dokumenten arbeiten, so versuchen Abtrünnige, anderen „verfälschte Worte“, also irreführende Argumente, unterzuschieben, um ihnen ihre verkehrten Ansichten als „echt“ zu verkaufen. Sie verbreiten „trügerische Lehren“ und „verdrehen“ die Schriften zu ihren Gunsten (2. Pet. 2:1, 3, 13; 3:16). Abtrünnige haben nicht das geringste Interesse daran, dass es uns gut geht. Ihnen zu folgen würde uns nur vom Weg zum ewigen Leben abbringen. [65]

Wenn es sich nicht um derart hanebüchene Lügen und Unterstellungen handeln würde, könnte man diese Äußerungen ja noch als schönes Kompliment zur Kenntnis nehmen, dass den „Abtrünnigen“ so viel Eloquenz und geschickte Rhetorik bescheinigt wird. Was aber ist denn an den Argumenten der „Abtrünnigen“ für die „Wahrheit“ so gefährlich, dass der Wachtturm es nötig hat, sie als „falsche Lehrer“ zu bezeichnen und dabei auch noch ihre Vorgehensweise, nicht aber ihre Argumente zu analysieren? Wenn die „Wahrheit“ der Zeugen Jehovas, von der sie behaupten, nur sie allein verfügten über diese, nicht in der Lage ist, es mit gleicher Eloquenz und gleicher geschickter Rhetorik mit den Argumenten der „Abtrünnigen“ aufzunehmen, dann ist es verständlich, wenn die Gemeindemitglieder solche „Abtrünnigen“ meiden und jeden sozialen Kontakt mit ihnen abbrechen müssen. Dann bleibt auch nichts weiter übrig, als den Anhängern Empfehlungen darüber zu geben, wie man sich vor solchen Abtrünnigen „schützen“ kann. Im gleichen Wachtturm wird mit Verweis auf Röm 16, 17 und 2Joh 9-11 zunächst das Kontaktverbot begründet. Wie weit die Kontaktsperre gehen sollte, wird dann ausführlich erklärt:

Was ist denn genau damit gemeint, falsche Lehrer zu „meiden“? Wir würden sie weder in unser Haus aufnehmen noch grüßen. Genauso wenig würden wir ihre Schriften lesen, uns Fernsehsendungen anschauen, in denen sie auftreten, ihre Internetseiten lesen oder Kommentare dazu in ihre Blogs schreiben. […] Egal was falsche Lehrer von sich geben — wir folgen ihnen nicht! Es gibt nicht den geringsten Grund, solche ausgetrockneten Brunnen aufzusuchen, wo man nichts als betrogen und enttäuscht wird. [66]

Wenn die Kraft des Wortes, die für die Wahrheit charakteristisch sein sollte, versiegt, dann bleiben als einzige und letzte Waffe nur noch abfällige Bemerkungen über „Abtrünnige“. Es ist der letzte „Joker“, den eine totalitäre Organisation verspielen kann. Die „abtrünnigen“ Zeugen Jehovas als „ausgetrocknete Brunnen“ zu bezeichnen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier der Wahrheitsanspruch der Zeugen Jehovas an Kraft verloren hat. Solche schnöden Äußerungen können dann nur noch willenlose „Werkzeuge“, die in „phantastischen Filmen“ als „Zombies“ bezeichnet werden, beeindrucken. Sachargumente kann sich die Wachtturm-Gesellschaft da nicht mehr leisten, denn dies käme einer Selbstdemontage gleich. Es sind außerordentlich menschenverachtende Worte, die jegliche mögliche Erwägung, dass diese „Abtrünnigen“ auch aufrichtige Motive und biblisch gut fundierte Argumente für ihre Kritik und Bedenken haben könnten, unterdrücken sollen, damit zumindest die „Idee“ der Möglichkeit ehrlichen und aufrichtigen Dialogs zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern erst gar nicht aufkommt. Da es sich im zitierten Wachtturm ausschließlich um Autoritäts- statt Sachargumente handelt, die nichts anderes als nur ein Angriff auf die unbequemen „Abtrünnigen“ sind, führt dies bei den Mitgliedern zu Kadavergehorsam [67], weil sie den Anordnungen, Abtrünnige zu meiden, wie ein Hund gehorchen müssen. Warum sind Zeugen Jehovas davon überzeugt, dass sie diesen Anordnungen Folge leisten müssen? Könnten sie stattdessen nicht auch protestieren? Nun, wer unter den Zeugen Jehovas möchte schon den „treuen und verständigen Sklaven“ (Mt 24, 45) [68], der angeblich von Jesus Christus eingesetzt wurde, um seine „Hausgenossen“ mit geistlicher Speise (in Form von Wachtturm-Schriften) zu versorgen, widersprechen! Den „treuen und verständigen Sklaven“ zu verwerfen ist so, als wenn man den Herrn Jesus Christus selbst verwirft, wird in ihren Schriften gelehrt. Dies ist das Geheimnis treuer, unreflektierter blinder Folgsamkeit. Man braucht sich nur die gleiche Autorität anmaßen, wie Jesus Christus sie hat. Es wird immer Menschen geben, die sich dann dieser Autorität unterwerfen. Dies betrifft meistens bildungsferne Schichten, labile Menschen sowie solche, die in dieser Gemeinschaft aufwachsen und zunächst daher keine andere Alternative haben, als dieser Autorität so zu gehorchen, wie es die Eltern ‒ da für Kinder und Jugendliche Vorbilder ‒ vorleben.

Solche wahrheitsunterdrückenden Maßnahmen sind auch für totalitäre Systeme charakteristisch. Wer die Wahrheit fürchtet, hat keine andere Wahl, als auf solche totalitären Maßnahmen zurückzugreifen. Dies ist aber ganz bestimmt nicht ‚die Wahrheit, die frei macht‘ (Joh 8, 32). Ein solches System funktioniert jedoch nur, wenn Zeugen Jehovas ihre Autonomie veräußern und ihr selbstständiges Denken abtreten, so dass der Weg frei wird für eine Gängelei, bei der sie angewiesen werden, dass sie wie bei Fertiggerichten nur die „geistliche“ Speise zu verdauen haben, die ihnen vorgesetzt wird. Wie sehr das selbstständige Denken den Anhängern der Wachtturm-Organisation nicht nur abgenommen, sondern auch untersagt wird, kann nicht besser dargestellt werden, als im internen Monatsblatt Unser Königreichsdienst vom September 2007, der regelmäßig einen so genannten „Fragekasten“ enthält. Dort wird ausdrücklich untersagt, unabhängig vom „treuen und verständigen Sklaven“ Bibelarbeit zu leisten. Darin wird die Frage behandelt: „Billigt es ‚der treue und verständige Sklave‘, wenn sich Zeugen Jehovas eigenständig zusammentun, um biblische Themen zu untersuchen und zu debattieren? (Mat. 24:45, 47)“. Schon im ersten Satz wird diese Frage dann mit einem kategorischen „Nein“ beantwortet und folgendermaßen begründet:

Dennoch haben sich in verschiedenen Teilen der Welt einige, die mit unserer Organisation verbunden sind, zusammengetan, um eigenständig biblische Themen zu untersuchen. Einige beschäftigen sich gemeinsam mit anderen eingehend mit dem biblischen Hebräisch und Griechisch, um die Genauigkeit der 'Neuen-Welt-Übersetzung' zu untersuchen. Andere erforschen wissenschaftliche Themen, die mit der Bibel zu tun haben. [69]

Es sind aber gerade diese verbotenen Nachforschungen, die bei vielen Zeugen Jehovas zum Schluss geführt haben, dass die Lehren der Organisation nicht stichhaltig sind und häufig der Heiligen Schrift widersprechen und in der Konsequenz den Bann auf sich ziehen, wenn sie die Ergebnisse ihrer Nachforschungen und die hieraus entstehenden Bedenken preisgeben. Würde es die Organisation dulden bzw. begrüßen, dass ihre Anhänger derartige Bibelarbeit praktizieren, würde sie sich selbst demontieren. Im Stile eines totalitären Systems muss daher jegliches selbstständiges Denken mit der Autorität der Macht unterdrückt werden:

Daher billigt der „treue und verständige Sklave“ keinerlei Literatur, keine Websites und keine Treffen, die nicht unter seiner Leitung hergestellt oder organisiert werden (Mat. 24:45-47) […] [Unsere Veröffentlichungen] enthalten für das Bibelstudium und zum Nachdenken mehr als genug Stoff […]. [70]

Dies ist in Wahrheit ein indirektes Zugeständnis dafür, dass die Lehren der Wachtturm-Organisation keiner biblischen Prüfung standhalten. Jedenfalls enthalten die Veröffentlichungen dieser Organisation „mehr als genug Stoff“, um ihre Anhänger auf Kurs zu halten. Es gibt nichts, was die Wachtturm-Gesellschaft mehr fürchtet, als selbstständige Nachforschungen, die über den sorgfältig ausgewählten Stoff der Wachtturm-Schriften hinausgehen. Dass dann solche Gemeindemitglieder „nicht von unserer Art“ sind (1Joh 2, 19), liegt auf der Hand, wie wir gleich sehen werden.

XIII. „…sie sind nicht von unserer Art gewesen…“

Wie wir bereits hörten, gilt ein Zeuge Jehovas auch dann als „abtrünnig“, wenn er sich einer anderen Religion anschließt. Wie haben sich die Mitglieder der Zeugen Jehovas in diesem Fall gegenüber einem solchen zu verhalten?

Als mein Bruder und ich uns am 23. April 2011 in der Katholischen Kirche taufen ließen und mit unserem Einverständnis zum Ende des Monats ein Artikel darüber in der Lokalseite der Tageszeitung erschien, klingelten etwa eine Woche später zwei Zeugen Jehovas, die zum Ältestenrat gehören, an unserer Türe. Sie wollten wohl von uns persönlich noch einmal wissen, ob wir nun katholisch getauft sind, auch wenn dies schon schwarz auf weiß so in der Zeitung zu lesen war. Als ich dies bestätigte, verabschiedeten sie sich freundlich und verließen uns. Der Überraschungsbesuch hatte nur den einen Zweck, wie im Wachtturm erklärt wird:

Es könnte sein, daß die Ältesten oder Hirten der Versammlung erfahren, daß sich ein getaufter Christ, der nicht mehr mit Jehovas Volk zusammenkommt, offensichtlich einer anderen Religionsorganisation angeschlossen hat. […] Dann würde in der Versammlung lediglich bekanntgegeben, daß er die Gemeinschaft verlassen hat und daher kein Zeuge Jehovas mehr ist. Er hat sich von einer ‚bestehenden Bindung‘ losgesagt. Es ist nicht notwendig, daß ein formaler Gemeinschaftsentzug vorgenommen wird. Warum nicht? Weil der Betreffende bereits selbst die Gemeinschaft der Versammlung verlassen hat. [71]

Es spielt keine Rolle, ob einem Zeugen Jehovas die Gemeinschaft entzogen wird oder er durch Übertritt zu einer anderen christlichen Religion von selbst der Gemeinschaft den Rücken gekehrt hat. Er ist in beiden Fällen abtrünnig und gilt als „ausgeschlossen“. Ich unterscheide hier daher zwischen passivem und aktivem Gemeinschaftsentzug. Das Verhalten der Gemeindemitglieder ihm gegenüber bleibt dasselbe. Es bleibt nicht „lediglich“ bei der Bekanntmachung, „daß er die Gemeinschaft verlassen hat und daher kein Zeuge Jehovas mehr ist“, sondern im gleichen Wachtturm-Artikel wird weiter erklärt, was von den Gemeindemitgliedern, die der Organisation gegenüber „loyal“ bleiben, erwartet wird:

Die loyalen Brüder suchen von sich aus keine Gemeinschaft mit ihm, da ‘er von ihnen weggegangen ist, denn er war nicht von ihrer Art’ (1. Johannes 2:19). [72]

Befassen wir uns etwas näher mit der im Zitat angegebenen Stelle 1Joh 2, 19. Dort heißt es: „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie sind nicht von unserer Art gewesen…“. Was in Verbindung mit Ausgeschlossenen jedoch niemals mit zitiert wird, ist der vorangegangene V. 18, wo wir lesen (Unterstreichung von mir):

Kindlein, es ist die letzte Stunde, und so, wie ihr gehört habt, daß [der] Antichrist kommt, so sind jetzt auch viele zu Antichristen geworden; aus dieser Tatsache erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist.

Aus dem Kontext geht hervor, dass es gerade nicht um jene austrittswilligen Gemeindemitglieder geht, deren Motive wir eben beschrieben haben. Hier geht es eindeutig nur um Antichristen. Etwa drei Jahre, nachdem ich mich von den Zeugen Jehovas zurückgezogen hatte, klopften im Juni 2001 zwei Älteste an meiner Türe. Es würden schwere Anschuldigungen gegen mich vorliegen, und sie baten daher um ein „Gespräch“ im Königreichssaal der Zeugen Jehovas. Ich hätte zwar ablehnen können, aber da sie sich weigerten, mir mitzuteilen, um welche Anschuldigungen es sich handelte und vor allen Dingen, wer sie vorbrachte, stimmte ich dem Gespräch zu. Es stellte sich heraus, dass ein Gemeindemitglied hat auffliegen lassen, dass ich in Schriften und im Internet Aufklärungsarbeit über die Zeugen Jehovas mache. Der Name des Spitzels wurde nicht genannt. Er hatte die Dokumente ausgedruckt und sie den Ältesten zugespielt, was dann der Anlass ihres Besuches bei mir war. Ich wurde ca. zwei Stunden lang verhört. Bei dem Verhör handelt es sich um ein Verfahren, das die Zeugen Jehovas „Komiteeverhandlung“ nennen, also eine Art Kirchengericht. Dieses setzt sich in der Regel aus drei Ältesten zusammen. Es handelt sich bekanntermaßen weder um Theologen noch verfügen sie über eine juristische Ausbildung. Ich vermute sogar, dass es einer dieser Ältesten war, der meine Beiträge entdeckt hatte. Während der Verhandlung las man mir stereotyp 1Joh 2, 19 vor. Es ist die Standardstelle, die jedem „Angeklagten“ in einer Komiteeverhandlung vorgelesen wird, wenn er nicht „bereut“. Ich habe daraufhin „zur Abwechslung“ mit dem vorangehenden Vers 18 geantwortet, und gesagt, „ihr wollt mich doch etwa nicht als Antichristen bezeichnen!“ Darauf kam von einem Ältesten sofort das Zugeständnis, dass „wir es dir auch nicht absprechen wollen, ein Christ zu sein“. 1Joh 2, 19 hatte sich damit erledigt. Stattdessen gab man mir eine Woche Zeit, alles in meinen Schriften zu widerrufen, da sonst der Gemeinschaftsentzug erfolgen würde. „Statt binnen 60 Tagen zu widerrufen, antwortete Luther mit einer Gegenschrift […]“ [73]. Statt binnen einer Woche das „revoco“ auszusprechen, antwortete ich ebenfalls mit einer Gegenschrift in einem Umfang von etwa 17 Seiten, worin ich auf Verfahrensfehler und falsch angewandte Bibelarbeit hinwies. [74] Seitdem hatte ich nie wieder etwas von den Ältesten gehört. Von daher erklärt sich vermutlich auch, dass mir bis zum Übertritt in die Katholische Kirche nie die Gemeinschaft entzogen wurde.

Warum aber dürfen die Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht zeigen, dass sie die Entscheidung desjenigen respektieren, indem sie weiter mit ihm in Kontakt bleiben? Schon eingangs wird im Erwachet! der Grund genannt:

Wenn es vorkommt [dass der Zeuge Jehovas zu einer anderen Religion übertritt], dann reagiert die Versammlung passenderweise so, daß die geistige Reinheit der loyalen Christen geschützt wird. [75]

Abgesehen davon, dass es ein Aberwitz ist, den Übertritt zu einer anderen christlichen Religion als Gefährdung der geistigen Reinheit der Zeugen Jehovas, eben „der loyalen Christen“, zu betrachten, führt die strenge Gemeindezucht unter anderem sogar so weit, dass manche in Extreme gehen und den Bogen überspannen. Meine Eltern, die selbst konfessionslos sind und sich schon seit vielen Jahren von der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zurückgezogen haben, trafen am nächsten Tag, also nach dem Überraschungsbesuch der Ältesten bei mir und meinem Bruder, ein älteres Ehepaar, das seit Jahrzehnten den Zeugen Jehovas angehört. Wurden meine Eltern bisher immer von ihnen freundlich begrüßt, stießen sie nun überraschend auf Grußverweigerung. Dies bedeutet, dass sie meine Eltern regelrecht in Sippenhaft genommen haben. Sie bleiben eine Erklärung für die unfaire Sippenhaftung schuldig.

Im Grunde sprechen Zeugen Jehovas damit einem „Abtrünnigen“ das Christsein auch nach einem Wechsel zu einer christlichen Religion ab. Die Ablehnung der Ökumene ist somit ein weiterer Grund dafür. Für sie bleibt der Betroffene ein Abtrünniger. Und darin liegen der Missbrauch des Gemeinschaftsentzugs sowie der relevanten Bibelstellen wie 1Ko 9, 1-3; 2Thess 3, 6-13 und 2Joh 11.

XIV. Das Grußverbot

Nun ist es mit einem Gemeinschaftsentzug bei den Zeugen Jehovas allein nicht getan. Wie bereits erwähnt, reicht ihre Kirchenzucht über das Gemeindeleben hinaus und regelt auch den normalen mitmenschlichen Verkehr außerhalb der Kirche. Neben das Kontaktverbot tritt auch das Verbot eines einfachen formellen Grußes wie z. B. ein höfliches „guten Tag“ hinzu. Scheinbar legitimiert wird dies als Nächstes mit 2Joh 9-11, wo das Grußverbot verhängt wird:

Jeder, der vorausdrängt und nicht in der Lehre des Christus bleibt, hat Gott nicht. Wer in dieser Lehre bleibt, der hat sowohl den Vater als auch den Sohn. 10 Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn niemals in euer Haus auf, noch entbietet ihm einen Gruß. 11 Denn wer ihm einen Gruß entbietet, hat an seinen bösen Werken teil. [76]

Zunächst einmal geht es hier um die „Lehre des Christus“ und nicht um das Regelwerk einer religiösen Bewegung, das 2000 Jahre später entwickelt wurde und um den Preis des Grußverbots übertreten werden könnte. Wir begegnen hier somit einem weiteren Missbrauch einer Schriftstelle. Für die deutsche Wiedergabe „einen Gruß entbieten“ verwendet Johannes den griechischen Ausdruck chaírō légein. Chaíro bedeutet „sei gegrüßt“ und begegnet uns z. B. auch in Mt 26, 49, wo Judas, der Verräter diese Grußformel gegenüber Jesus verwendet. Es handelt sich dabei um einen formellen Gruß, wie er sich beispielsweise auch im Briefeingang von Apg 15, 23 („seid gegrüßt“, Zürcher Bibel) findet. Was meinte Johannes also, als er das Grußverbot aussprach? Im ThWNT wird erklärt:

Den Irrlehrern ist der Gruß, also die kirchliche Gemeinschaft, zu verweigern, vgl. Mt 10, 12f. Vgl den jüd[ischen] Grundsatz, mit Irrlehrern nicht zu reden, bei Just Dial 38, 1. [77]

Es geht nicht um Menschen, die sich lediglich nicht mit einigen Lehren der Gemeinschaft identifizieren können oder die sogar gegen ihr Gewissen sprechen und deshalb eine neue christliche Gemeinde suchen. Der Wechsel zu einer anderen christlichen Religion stellt im streng biblischen Sinne keine Abtrünnigkeit dar, weil man sich hierdurch nicht von der „Lehre Christi“ (2Joh 8) entfernt. Wie man im Übrigen sieht, kommt man schon deshalb um Ökumene gar nicht herum. Um was für Menschen, denen der Gruß verweigert werden soll, es sich wirklich handelt, wird im Herders Theologischen Kommentar zum Neuen Testament geschildert:

Er (der „Alte“ [78]) fürchtet, daß umherwandernde Irrlehrer zu ihnen kommen und arglose Aufnahme finden könnten. Bei eí tis érchetai („wenn jemand kommt“) handelt es sich also nicht um schlichte Reisende, sondern, wie die Fortsetzung zeigt, um Verfechter der „Lüge“ (vgl. 2 Kor 11, 4). [79]

Nicht nur der Verfasser von 2Joh warnt vor diesen Irrlehrern. Wie im angeführten Kommentar erklärt wird, berichtet auch Ignatius von Antiochien von solchen „umherziehenden falschen Brüdern und belegt sie mit den schimpflichsten Namen“ [80]. Auch er warnt die Christen also mit scharfen Mahnungen. Der Kommentar erklärt weiter:

…überall hält die alte Kirche an dem strengen Gebot der Scheidung von den Irrlehren fest. Die Verweigerung der häuslichen Aufnahme erlangt vielfaches Gewicht, wenn man die überaus hohe Schätzung der Gastfreundschaft in der Frühzeit des Christentums bedenkt. Aber die Widersacher des Glaubens sind gefährlichere Feinde als persönliche Gegner.

In die Kategorie der Widersacher, der Feinde des Christus, der Irrlehrer, sind austrittswillige Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht einzuordnen. Sie lassen sich auch nicht neben die Christusleugner oder Antichristen stellen (1Joh 1:22). An dieser Stelle möchte ich noch einmal 1Joh 2, 19 aufgreifen, wo es heißt: „sie sind nicht von unserer Art gewesen“. Wie wir schon an früherer Stelle gehört haben, geht es hierbei nicht um Christen, die sich einer anderen Religion anschließen, sondern um den Antichrist. Hier hätte der Wachtturm [81], den wir vorhin zitiert haben, besser daran getan, den Kontext zu beachten und ab Vers 18 zu zitieren. Dies wäre allerdings das Gleiche, als würde man jemandem raten, sich selbst zu demontieren. Daher wird in sämtlichen Wachtturm-Schriften nie der Vers 18 mit zitiert, wie wir erfahren haben, es sei denn, in einem Zusammenhang, bei dem es unmittelbar nur um den Antichristen selber geht. Diesen Verzicht haben wir ja früher schon scharf kritisiert. Anders ist Pauschalierung auch nicht möglich! Austrittswillige Mitglieder gehören auch nicht zu den „falschen Propheten“ (1Joh 4, 1). Aber was ist mit den „bösen Werken“, an denen Gemeindemitglieder teilhätten, wenn sie den Irrlehrern einen Gruß entböten? Der Kontext zeigt, dass es hier nicht um sittliche Vergehen wie z. B. Unzucht geht, sondern um das Verbreiten von Lügen, die bewusst gegen Christus gerichtet sind. Diese „bösen Werke“ sind es, an denen man beim Entbieten eines Grußes teil hätte. Der oben zitierte Kommentar kommt zu folgendem Schluss:

Für ihn [Johannes] steht es fest, daß ihre „Werke“ böse sind. Zu diesem Urteil hat er ein Recht, da wir aus 1 Joh wissen, daß die Irrlehre die christologische und die moralische „Lüge“ vereinigte. So ist die Grußverweigerung nur konsequent und die praktische Anwendung jener grundsätzlichen, aus dem Glaubensbewußtsein erwachsenden Scheidung von den Irrgeistern, die am schärfsten in 1 Joh 4, 4-6 ausgesprochen ist. Diese konkrete Einzelanweisung darf man aber nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang lösen und unbesehen für ganz anders gelagerte Verhältnisse übernehmen. Von einer Exkommunikation verlautet in diesem Vers nichts (gegen Ambroggi). [82]

Die Grußverweigerung, auch die förmliche, betraf somit nur Antichristen und Irrlehrer, die Lügen über Christus verbreiteten. Es handelte sich dabei nicht um solche, die vorher exkommuniziert wurden und dann die Grußverweigerung ernteten. In 1Joh 2, 19 heißt es lediglich: „Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen“ (Zürcher Bibel) und nicht „sie wurden exkommuniziert“. Es betraf auch nicht Gemeindemitglieder, die eine andere Auffassung über bestimmte Lehren vertraten. Wir haben früher schon davon gehört, dass Paulus mit Gemeindemitgliedern diskutierte, die die Auferstehungshoffnung anzweifelten. Er griff aber auch hier nicht zur Gemeindezucht oder belegte die Gemeindemitglieder mit einem Bann. Der Kontakt konnte auch hier aufrechterhalten werden, z. B. um den Irrlehrer oder Abtrünnigen zu widerlegen. Paulus widerlegte ihre Ansichten mit Logik auf der Grundlage der Auferstehung Jesu Christi (Vgl. 1Ko 15, 12ff.). Er ermunterte sie mit den Worten:

Darum, meine geliebten Brüder und Schwestern [83], seid standhaft, lasst euch nicht erschüttern, tut jederzeit das Werk des Herrn in reichem Maße! Ihr wisst ja: Im Herrn ist eure Arbeit nicht umsonst. – Zürcher Bibel

Gott selbst hat die Herausforderung Satans, des größten Abtrünnigen, angenommen, um ihn zu widerlegen (vgl. Hiob 1, 9ff.). Jesus Christus hat mit Verweis auf das Alte Testament [84] mit Satan diskutiert, als er von ihm versucht wurde (Mt 4, 1ff.). Es gab also sehr viel Raum für die Freiheit, unterschiedliche Auffassungen zu äußern, selbst wenn manche Meinungen an den Kern der frohen Botschaft rüttelten.

Eine ausdrückliche Aufforderung zur Grußverweigerung fehlt auch in unseren behandelten Stellen 1Ko 9, 1-3 und 2Thess 3, 6-13. Vor diesem Hintergrund tritt auch hier der Missbrauch der Gemeindezucht bei Zeugen Jehovas erneut zutage. Das Gruß- und Kontaktverbot wird pauschal auf alle „Sünder“ angewandt, das bei „reuelosem“ Verhalten die Folge des Gemeinschaftsentzugs ist.

Ein weiteres Grußverbot findet sich in Lk 10, 4 allerdings aus anderen Gründen als in 2Joh 9-11. Hier allerdings betrifft das Grußverbot nicht das förmliche chaírō. Wir wollen uns diese Situation einmal näher anschauen. Den Rahmen bildet die Aussendung der siebzig Jünger, um das Reich Gottes zu predigen (Lk 10, 1-11):

4 Tragt weder einen Geldbeutel noch eine Speisetasche, noch Sandalen, und umarmt niemand zur Begrüßung auf dem Weg (Unterstreichung von mir).

„Umarmen“ ist hier die Wiedergabe des griechischen Wortes aspázomai. Es gibt also zwei verschiedene Wörter im Altgriechischen, um einen bestimmten Gruß zum Ausdruck zu bringen. Bei aspázomai handelt es sich um eine stärkere Grußformel als chaírō, denn die Grundbedeutung von aspázomai ist „umarmen“ und im weiteren Sinne „zärtlich gegen jem sein, jem gern haben, gern auf etw eingehen, jem seine Achtung erweisen, einer Sache sich mit Liebe hingeben, willkommen heißen“. Es bedeutet des Weiteren „in unsere Gemeinschaft einbeziehen“. [85] Die Jünger konnten somit zwar auf ihrem Weg die Leute mit einem formellen chaírō grüßen, aber Jesus legte Wert darauf, dass sie die Leute, die sie trafen, nicht mit einem aspázomai grüßen. Maria wird zwar von dem Engel in Lk 1, 28 mit einem chaíre begrüßt, aber sie fragt sich anschließend, was dies für ein Gruß (aspasmòs) sei. Manche Ausleger vermuten, dass hier chaíre kein Gruß ist, sondern eine Aufforderung, sich zu freuen: „Freue dich!“ In Lk 1, 40.44 „trat (Maria) in das Haus Sachạrjas ein und begrüßte (ēspásato, eine Form von aspázomai) Elisabeth“. Dieser Gruß bewirkt, dass das Johanneskind der Elisabeth im Schoße hüpft und Elisabeth mit heiligem Geist erfüllt wird.

Dass chaíre eine abgeschwächte und farblose Grußformel gegenüber dem aspázomai ist, zeigt sich auch darin, dass aspázomai im Galaterbrief völlig fehlt. Dies lässt sich mit dem angespannten Verhältnis zwischen Paulus und der Galatergemeinde erklären (siehe z. B. Gal 1, 6). In Lk 10, 4 hat Jesus ‒ wie wir eben gesehen haben ‒ es den Jüngern untersagt, aus Zeitgründen unterwegs niemanden zu grüßen (aspásēsthe). Im ThWNT wird erklärt, um welche Art des Grußes es sich handelt und warum sie das aspázomai vermeiden sollten:

[Das heißt]: haltet euch unterwegs auf der Straße nicht mit den zeitraubenden Grußzeremonien auf, fangt nicht auf der Straße Gespräche an, beeilt euch, an den Ort zu kommen, wo ihr bleiben und arbeiten sollt (Analogie 2 Kö 4, 29). Zugleich ist den Jüngern damit untersagt, auch auf der Wanderung durch einen Gruß Beziehungen anzuknüpfen. [86]

In einer Anmerkung heißt es dazu noch zu dieser Erklärung:

Daher JWellhausen, das Ev Lucae (1904) 40: Macht euch nicht vorzeitig bekannt. Das Verbot des 'chaírein légein' [einen Gruß entbieten] 2 J 10 hat andere Gründe.

Hieran wird erkennbar, dass es nicht um den einfachen Gruß chaírein ging. Es war den Jüngern nicht verboten, die Höflichkeit zu wahren und jemanden lediglich formell zu grüßen. Es ging hier nur um das aspázomai, den „umarmenden“ Gruß, welches dazu führen konnte, sich zu lange aufzuhalten und dadurch den Sendungsauftrag Jesu zu stark hinauszuzögern. Man kann es in etwa damit vergleichen, dass wir z. B. auf herzliche Grußzeremonien wie eine Umarmung verzichten, wenn wir es sehr eilig haben und deshalb nur mit einem einfachen „guten Tag“ grüßen.

Der Schlussfolgerung von Raymond Franz in seinem Buch Auf der Suche nach christlicher Freiheit [87], es handele sich bei chaíre und aspázomai um Synonyme, kann ich zwar zustimmen, aber nicht seiner Folgerung, es handele sich mit Verweis auf Lk 1, 28-29 deshalb auch um gleich starke Grußformeln. Der chaíre-Gruß gegenüber Maria ist im Zusammenhang mit kecharitōménē (Hochbegnadete) zu sehen, womit der Gruß vertieft wird (ThWNT, Bd. I, S. 497). Da es sich in dieser Verbindung also um mehr als nur einen üblichen Gruß handelt, fragt Maria mit dem Begriff aspasmós zu Recht, was dies für ein (wohl ungewöhnlicher?) Gruß sei. Raymond Franz kommentierte in seinem Buch den Wachtturm vom 15. Juli 1985 (S. 31), worin zwischen beiden Wörtern zu Recht stark unterschieden wird. Darin wird erklärt, Johannes habe „wahrscheinlich mit Absicht in 2. Johannes 10, 11 cháiro statt aspázomai (Vers 13) verwendet“, um deutlich zu machen, dass „Christen damit […] eine solche Person nicht einmal mit cháiro, einem üblichen ‚Guten Tag‘, grüßen sollten*“. Raymond Franz sieht jedoch in beiden Wörtern keinen Unterschied. Er stützt seine These damit, „daß Elisabeth den Gruß [nur] ‚hörte‘ und nicht etwa herzlich umarmt oder geküßt wurde“. Hier unterliegt er jedoch meiner Meinung nach einem Irrtum. Paulus hat auch aus der Ferne seinen „umarmenden“ Gruß ausrichten lassen (z. B. Gal 16, 3ff.). Er sendet nicht pauschal einen formellen Gruß an alle, sondern er würdigt den Einsatz seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die er auch alle namentlich nennt, darunter Phöbe, Priscilla, Priska und Aquilla, Epänetus, Maria, Andronikus, Junias, Ampliatus, Urbanus und andere. Seine Grußbestellungen enthalten auch Charakterisierungen wie z. B. „meinen geliebten Stachys“ und die Bezeichnung „Heilige“, „Brüder“ oder „Schwester“ usw. (Rö 16, Phil 4, 21; Kol 4, 15; 1 Th 5, 26), was zeigt, dass Paulus keinen formellen Gruß ausrichten lässt, sondern einen herzlichen, umarmenden Gruß, womit er zeigen will, dass er nicht nur die Adressaten als Menschen schätzt, sondern auch, dass er sich mit der Gemeinschaft der Heiligen und Brüder an allen Orten verbunden weiß. Der Gruß „mit heiligem Kuß“ (Röm 16, 15) ist ganz bestimmt kein formeller Gruß. Man muss nicht erst jemanden buchstäblich umarmen, um zu zeigen, wie herzlich der Gruß ist. Dies ist beispielsweise auch in einem Brief möglich. Oft heißt es in der Grußformel am Schluss eines Briefes: „Ich umarme Dich“. Im Altgriechischen hätte man hierfür aspázomai gebraucht. Und sowohl bei den umfangreichen Grußbestellungen in Rö 16 als auch in Phil 4, 21; Kol 4, 15 und 1 Th 5, 26 verwendet Paulus ausschließlich den Ausdruck aspázomai statt des förmlichen chaíre-Grußes. Der Verräter Judas, den wir vorhin erwähnt haben, wollte Jesus ganz bestimmt nicht herzlich begrüßen (Mt 26, 49). Der Kuss des Judas Iskariot ließe zwar auf einen herzlichen, umarmenden Gruß schließen, aber wenn man den Kontext beachtet, dann zeigt sich, dass es ein verräterischer Kuss war, denn es war ein mit der jüdischen Behörde vereinbartes Erkennungszeichen, damit sie erkennen konnte, wen sie festnehmen konnte (vgl. V. 48). „Danach bezeichnet man heute eine heuchlerische freundliche Geste als »Judaskuss« [88]. Ganz bestimmt handelte es sich ebenfalls nicht um einen umarmenden Gruß, als die Soldaten, nachdem sie Jesus eine Dornenkrone aufgesetzt haben, ihn zynisch mit einem chaíre grüßen: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ [89]. Die NWÜ übersetzt daher ebenfalls korrekt: „Guten Tag, du König der Juden!“.

Somit wird deutlich, dass ein einfacher, formeller Gruß nicht bedeutet, dass man jemanden in der Gemeinschaft willkommen heißt. Ganz gleich ob Atheisten, Menschen anderer Religionen, religionsfeindliche Menschen oder Ausgeschlossene: Es entspricht der allgemeinen Sitte und dem Anstand, wenn man solchen den Gruß nicht vorenthält. Vor allen Dingen im Sinne der christlichen Feindesliebe (auch wenn man „Abtrünnige“ als Feinde betrachten würde) ist dies angebracht. Natürlich sollte aber auch ein formeller Gruß ungeheuchelt sein. Nur darf das Grußverbot in 2Joh 9-11 nicht gegen die Feindesliebe (Mt 5, 44-48) oder gegen die Aufforderung zur Versöhnlichkeit (Mt 5, 23-25) ausgespielt werden. Die „Feinde“ sind nicht unbedingt Gegner Christi. Die Gegner des Glaubens aber sind schlimmere Feinde.

Das Grußverbot der Zeugen Jehovas kann daher nicht mit dem Abtrünnigkeits-Argument rechtfertigt werden, denn im NT finden wir Belege dafür, wie sich die Apostel mit „Dissidenten“ auseinandersetzten statt ihnen auszuweichen (1Ko 1, 10-17; 3, 4-10) und ohne mit dem Bann zu drohen.

Die Praxis des Gemeinschaftsentzuges entspringt auch einem überzogenen Puritanismus. So bleibe, wie es in dem bereits angeführten Büchlein Bewahrt euch in Gottes Liebe mit dem Bild vom „Sauerteig, [das] die ganze Masse durchsäuert“, weiter heißt, durch den Gemeinschaftsentzug eines Mitbruders „der Ruf der Versammlung geschützt sowie der Glaube und die moralische Reinheit von uns selbst und allen anderen in der Versammlung (1. Korinther 5:6, 7)“ [90]. Den „Übeltäter“ kann man jedoch nur dann mit dem Bild vom Sauerteig vergleichen, wenn man erstens den Text nicht verstanden hat und zweitens den Kontext, also zusammen mit dem Vers 8, ignoriert. Paulus spricht davon, dass der alte Sauerteig, d. h. die falsche Gesinnung, die Schlechtigkeit und Bosheit, geändert werden muss, bevor das Abendmahl gefeiert werden kann. „Ungesäuertes Brot müssen nun die Christen selber sein, vom Sauerteig der Sünde befreit“. [91] Der Text enthält keine Aufforderung, solche Personen aus der Gemeinschaft zu entfernen. Zeugen Jehovas sind zudem der Auffassung, dass „durch den Verlust lieb gewordener Kontakte zu Freunden und zur Familie [jemand] womöglich ‚zur Besinnung‘ [kommt]“. Er „sieht den Ernst seines Fehlers ein und kehrt zu Jehova zurück (Lukas 15:17)“ [92]. Wie an früherer Stelle bereits erwähnt, ist das Ausüben sozialen Drucks fragwürdig und lässt außerdem am rechten Motiv des „Übeltäters“ zweifeln, wenn erst der soziale Tod ihn zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zurücktreibt. Die „Lehre des Christus“ ist aber nicht Liebesentzug, sondern die Frohbotschaft ist eine Einladung zur Gemeinschaft.

XV. Resümee

Überblickt man die ganze Abhandlung zur Thematik über den Gemeinschaftsentzug (Kirchenbann, Exkommunikation), dann sollte sich herauskristallisiert haben, dass sich die meisten Ausgeschlossenen gar nicht in die Reihe jener Gebannten stellen lassen, über die Aussagen im NT gemacht werden. Der Bann richtet sich vielmehr an folgende Gemeindemitglieder:

  • Blutschänder (1Ko 5, 5)
  • Gotteslästerer (1Tim 1, 20)
  • Antichristen (1Joh 1, 18)
  • Gottesleugner (1Joh 1, 22)
  • falsche Propheten (1Joh 4, 1)
  • Solche, die nicht „in der Lehre des Christus“ bleiben (2Joh 9)

Da also die Ausgeschlossenen hierunter nicht eingeordnet werden können, hat die Wachtturm-Gesellschaft, wie wir gesehen haben, unlautere Motive der Abtrünnigen konstruiert, damit sie wenigstens in eine der oben genannten Kategorien passen, wie z. B. dies, dass, wer die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft verwirft, auch den Christus verwirft. Oder um beispielsweise einen „Abtrünnigen“ als jemanden darzustellen, der nicht „von unserer Art“ ist (Joh 1, 19), wird bei allen Aussagen über sie in den Wachtturm-Schriften der vorherige Vers 18 ausgeblendet, um zu verschleiern, dass es im Kontext in Wahrheit um den Antichristen geht.

Wir haben des Weiteren erfahren, dass es nicht möglich ist, 2Thess 3, 14-15 gegen 1Ko 5, 9.11.13 auszuspielen, da uns hier zwei unterschiedlich gelagerte Fälle vorliegen. Das Umgangsverbot in 2Thess 3, 14-15 hat sich zudem als impraktikabel erwiesen, da dies nicht zur freundlich gesinnten Ermahnung gegenüber dem Gemeindemitglied, der weiter „Bruder“ genannt wird, passt, zu der Paulus gleichzeitig auffordert.

Es hat sich allmählich die Einsicht durchgesetzt, dass sich das Kontaktverbot und das Verbot der Einnahme gemeinsamer Mahlzeiten nur auf das Gemeindeleben selbst bezieht, nicht jedoch auf das private Umfeld. Die Schlussfolgerung war deshalb möglich, weil wir herausgefunden haben, dass die Urchristen nicht nur Gottesdienste, sondern im Anschluss an sie auch ihre so genannten „Liebesmähler“ (Agapefeier) veranstaltet haben. Dies ist auch heute noch üblich. Soziale Kontakte außerhalb der Gemeinde standen bei Paulus nie zur Disposition.

Angesprochen haben wir ferner, dass der Gemeinschaftsentzug mit der Begründung, die Organisation Jehovas rein zu erhalten, auf einem falschen Kirchenverständnis beruht. Mit Hilfe des Gleichnisses Jesu vom Unkraut unter den Weizen konnten wir ein solches „Ideal“ von Kirche widerlegen.

Die „Übergabe an den Satan“ als Maßnahme gegenüber einem gebannten Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas hat sich als zu pauschal erwiesen, da die Aussage hierzu nur auf die Blutschänder und Gotteslästerer zutrifft (1Ko 5, 5; 1Tim 1, 20).

Wir konnten überdies feststellen, dass das Verbot des formellen Grußes nur Gegner des Christus betraf, die gezielt gegen Jesus gewirkt haben. Dass das Grußverbot auch gebannte Gemeindemitglieder betrifft, findet im NT keine Stütze und hat sich deshalb als unbiblisch herausgestellt.

Sehr aufschlussreich war auch die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen dem formellen Gruß chaírō („guten Tag“ oder „sei gegrüßt“) und dem herzlichen, „umarmenden“ Gruß aspázomai, mit dem man auch jemanden willkommen heißen kann. Wir konnten sehen, dass es sich zwar um Synonyme handelt, dass aber die Färbung einen wesentlichen Unterschied aufweist. So ist beispielsweise der Verzicht des Paulus auf den aspázomai-Gruß gegenüber der Galatergemeinde die Folge seines angespannten Verhältnisses ihr gegenüber, wogegen er ihn in seinen umfangreichen Grußbestellungen in Rö 16M Phil 4, 21; Kol 4, 15 und 1 Th 5, 26 ausnahmslos gebraucht.

XVI. Schluss

Mit dieser Arbeit endet nun meine Abhandlung über die Praxis des Gemeinschaftsentzugs bei Zeugen Jehovas. Vieles hätte sicherlich noch gesagt werden können. Möglicherweise werde ich in einer zweiten Auflage noch manches ergänzen, was bei mir jetzt noch nicht im Blick war.

Ich hoffe, dass der vorliegende Beitrag vielen Betroffenen, denen sich nun ihre lieben Angehörigen und Freunde aufgrund ihres Gemeinschaftsentzugs sperren, eine Hilfe sein wird. Es ist zu hoffen, dass diese Abhandlung neue Impulse für einen neuen Dialog geben kann.

XVIII. Literaturverzeichnis

  • Gerhard Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1938, Bd. III.
  • Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. II, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011.
  • Rudolf Schnackenburg, Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament: Die Johannesbriefe, fünfte Auflage, Bd. XIII, Herder Verlag 1975.
  • Theodor Klauser, Reallexikon für Antike und Christentum: Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, Band VII, Anton Hiersemann, Stuttgart, 1969.
  • Ulrich Luz, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament: Das Evangelium nach Matthäus, Bd. I/3, Benziger/Neukirchener Verlag, 1. Auflage 1997.
  • Wolfgang Trilling, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament: Der zweite Brief an die Thessalonicher, Bd. XIV, Benziger/Neukirchener Verlag, 1. Auflage 1980.
  • Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG4), Mohr-Siebeck Verlag 1999, 4. Auflage, Bd. 2.
  • DUDEN ‒ Das Fremdwörterbuch, 7. Auflage, Mannheim 2001.
  • DUDEN – Das große Buch der Zitate und Redewendungen, Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim 2002.
  • Brockhaus-Enzyklopädie, 1999.
  • Gaudium et spes („Freude und Hoffnung“), Dokument des II. Vatikanischen Konzils.

Anmerkungen:

1 Im Folgenden durch „NT“ abgekürzt.
2 Sofern nicht anderes vermerkt, sind die Bibelstellen der kirchlich nicht anerkannten Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, entnommen (hrsg. von Zeugen Jehovas). Kapitel und Vers werden in dieser Abhandlung entsprechend der kirchlichen und wissenschaftlichen Schreibweise in theologischen Werken durch ein Komma getrennt, z. B. statt 1Ko 5:11 (amerikanische Schreibweise wie auch in den Wachtturm-Schriften) verwenden wir die Schreibweise 1Ko 5, 11. Mehrere Versangaben innerhalb eines Kapitels werden durch einen Punkt getrennt, z. B. statt 2Thess 3:14, 15 verwenden wir die Schreibweise 2Thess 3, 14.15. In Zitaten aus Wachtturm-Schriften wird das Bibelstellenformat übernommen.
3 Vorsilbe.
4 Band VII, S. 1.
5 Raymond Franz war Mitglied der leitenden Körperschaft in der Weltzentrale in Brooklyn (New York), befand sich also an der Spitze der Wachtturm-Organisation und war an der Abfassung zahlreicher Wachtturm-Artikel und Bücher der Wachtturm-Organisation beteiligt. Nach seinem Gemeinschaftsentzug als Folge davon, dass er mit seinem ausgeschlossenen Arbeitgeber zu Mittag gegessen hatte, verfasste er die Bücher Der Gewissenskonflikt sowie Auf der Suche nach christlicher Freiheit, welche in vielen Sprachen übersetzt wurden und immer noch zahllosen Ausstiegswilligen eine große Hilfe war und ist.
6 Zeugen Jehovas bezeichnen ihre Kirchengemeinde meistens als „Versammlung“. Offiziell ist das der „Königreichssaal der Zeugen Jehovas“. Meistens wird aber auch im Plural von „Zusammenkünften“ gesprochen. Das Wort „Kirche“ wird vermieden, um sich von der Katholischen Kirche und den Protestanten „abzuheben“. Im Hinblick auf das Anerkennungsverfahren zur Erlangung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gebrauchen Zeugen Jehovas jedoch das Wort „Kirche“, was wieder einmal die Janusköpfigkeit dieser Organisation offenbart, sobald es um staatliche Privilegien geht. Mehr hierzu siehe Seite 8, Anm. 18-20.
7 Schon eine „eheähnliche“ Partnerschaft betrachten Zeugen Jehovas als „Hurerei„. Aber auch andere Freikirchen mit einer rigiden Sexualmoral sehen darin eine Form von „Unzucht„. Ich teile die Auffassung der Zeugen Jehovas in diesem Punkt nicht. Schon im Jahr 2006 habe ich meinen Standpunkt hierzu auf der Internetseite porneía - käuflicher Sex dargelegt.
8 Zwar ist der neue Lebensgefährte evangelisch, aber Zeugen Jehovas betrachten grundsätzlich alle als „Weltmenschen“, die nicht der Organisation der Zeugen Jehovas angehören.
9 Wachtturm, 15. Juli 2008, S. 26-27.
10 Mitglieder im kirchenrechtlichen Sinne gibt es bei Zeugen Jehovas nicht, da keine Aufnahme ins Geburtenregister des Standesamtes erfolgt.
11 /, Fußnote von mir.
12 Siehe hierzu Näheres im Weser Kurier unter: Jehovas Zeugen wollen mehr Rechte
13 Bernd Galeski war vor etwa 16 Jahren Mitarbeiter des Zweigbüros der Zeugen Jehovas in Selters. Weltweit gibt es derzeit 113 Zweigstellen, in denen die Schriften aus der Weltzentrale in Brooklyn (New York) übersetzt und in verschiedenen Sprachen gedruckt werden. Es wird intern als „Bethel“ bezeichnet, was „Haus Gottes“ bedeutet. Die darin lebenden freiwilligen Mitarbeiter bezeichnen sich als „Bethelfamilie“. „Die Bezeichnung „Bethel“ wird heute für die gesamten, mittlerweile stark erweiterten Komplexe in Brooklyn sowie an zwei anderen Standorten im Bundesstaat New York (Wallkill und Patterson) verwendet — also nicht nur für den Wohnbereich, sondern auch für die Druckerei- und Bürogebäude. Weltweit gibt es jetzt sogar Bethelheime in 113 Ländern. Dort sind insgesamt über 19 000 Freiwillige damit beschäftigt, biblisches Studienmaterial bereitzustellen“ (Wachtturm, 1. Mai 2009, S. 24).
14 Bitte dem Link in Anmerkung 16 folgen.
15 Wachtturm, 15. Januar 2007, S. 20.
16 S. 17, Abs. 16.
17 Brockhaus-Enzyklopädie.
18 Inzwischen sind 11 weitere Bundesländer dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts blind und ungeprüft gefolgt und haben den Zeugen Jehovas den Körperschaftsstatus verliehen (siehe „Jehovas Zeugen online“ unter http://www.jehovaszeugen.de/akt/zwv/default.htm). Einige Bundesländer wie beispielsweise Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz lehnen die Anerkennung ab. Aktuelles hierzu siehe den Weser Kurier unter: Keine Anerkennung als Körperschaft. Ferner sei auf einen Artikel vom 16. Februar 2011 unter: Jehovas Zeugen wollen mehr Rechte aufmerksam gemacht.
19 Brockhaus-Enzyklopädie, Unterstreichung von mir.
20 Meine Briefe sind unter Ex-Zeuge wundert sich über Selbstdarstellung der WTG, Frank Bruder an RA Süderhof sowie Frank Bruder an das BVerfG abgelegt.
21 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. VII, S. 10.
22 „Steuereinnehmer“, so die Wiedergabe in der kirchlich nicht anerkannten Bibel der Zeugen Jehovas, der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, im Folgenden durch NWÜ abgekürzt.
23 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. VII, S. 10.
24 Brockhaus-Enzyklopädie.
25 Ulrich Luz, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament - Das Matthäusevangelium, Bd. 1/3, S. 44. Im Folgenden durch EKK abgekürzt.
26 S. 207-209. Der Titel stützt sich vermutlich auf den neutestamentlichen Text in Judas 21.
27 Der Einfachheit halber wird in dieser Abhandlung immer nur die maskuline Person verwendet. Selbstverständlich sind dabei auch weibliche Personen gemeint.
28 Im folgenden Text wird „Vers“ durch „V.“ und „Verse“ durch VV. abgekürzt.
29 Näheres hierzu siehe S. 13.
30 WOLFGANG TRILLING, Bd. XIV, S. 156.
31 Auch im Wachtturm vom 15. Juli 1985 (S. 31) und 15. April 1988 (S. 26-30) wird mit keinem Mal diese Schriftstelle genannt.
32 Raymond Franz, Auf der Suche nach christlicher Freiheit, Neuauflage 2005, Ausstieg e.V., Karlsruhe, www.ausstieg-info.de/ zusammen mit Bruderdienst Missionsverlag e.V., www.bruderdienst.de, Verlag Bruderdienst Missionsverlag e.V., Hamburg. S. 311ff.
33 Der Wachtturm, 15. Juli 1999, S. 30.
34 Im Dokument des II. Vatikanischen Konzils Gaudium et spes („Freude und Hoffnung“) wird zu 2Thess 3, 6-13 wie folgt Stellung genommen: „Das Konzil fordert die Christen, die Bürger beider Bürgerschaften, auf, danach zu streben, ihre irdischen Pflichten treu zu erfüllen, und zwar vom Geist des Evangeliums geleitet. Von der Wahrheit weichen die ab, die, weil sie wissen, dass wir hier keine bleibende Stadt haben, sondern die künftige suchen [vgl. Hebr 13, 14], meinen, sie könnten deswegen ihre irdischen Pflichten vernachlässigen […]“ (GS 43,1). Mit „Bürger beider Bürgerschaften“ ist „die Bürgerschaft in der irdischen und in der himmlischen Welt“ gemeint (siehe Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, S. 761). Man erinnere sich daran, dass viele Zeugen Jehovas oft ihre irdischen Pflichten vernachlässigt sowie auf eine akademische Laufbahn verzichtet haben und dies auch heute noch tun in dem Glauben, dass zu ihren Lebzeiten das Ende der Welt kommt.
35 Raymond Franz, Auf der Suche nach christlicher Freiheit, S. 311ff.
36 EKK, Bd. XIV, S. 155.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 7, S. 14.
40 Im griechischen Text steht hier der Plural agápais.
41 Abendmahl der Kirche.
42 Herausgegeben von Zeugen Jehovas.
43 S. 257. Bei dem Buch geht es um die Geschichte der Zeugen Jehovas, welches von der Führung in Brooklyn veröffentlicht wurde.
44 S. 55-56.
45 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 7, S. 14.
46 Ebd., S. 1.
47 Hiervon abgeleitet ist das deutsche Wort Pornographie.
48 Das Neue Testament, übersetzt und kommentiert von ULRICH WILCKENS.
49 Dies ist ein Indiz dafür, dass die Exkommunikation nur selten und als letztes Mittel praktiziert wurde.
50 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 7, S. 11.
51 Brockhaus-Enzyklopädie.
52 Diesen Ausdruck habe ich lediglich in Ermangelung eines Besseren gewählt. Bei Zeugen Jehovas gibt es nämlich keine Moraltheologie als Teilbereich der Theologie. Überhaupt betreiben sie keine wissenschaftliche Theologie. Eine unwissenschaftliche Herangehensweise an die Bibelarbeit war schon immer ein gefährlicher Nährboden für Sektierertum gewesen, wie die Geschichte vor allen Dingen in den USA über Quereinsteiger, die zu Möchtegern-“Theologen“ werden, zeigt.
53 Der Ausdruck „böse“ ist hier kein Rechtsbegriff wie Recht und Unrecht, sondern bei „gut und böse“ handelt es sich um theologische Auffassungen.
54 Wir haben bereits vernommen: Mit Unzucht ist im NT meistens die Tempelprostitution und Blutschande (Heirat innerhalb enger Verwandtschaftsgraden) gemeint, die unter den Heiden üblich war (Vgl. 1Ko 5, 1; 3Mo 18, 6-18; Apg 15, 20).
55 Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 7, S. 1 u. 6.
56 Eingedeutscht aus dem Griechischen parousía (Ankunft), lat. »adventus«.
57 Mohr-Siebeck Verlag, 4. Auflage, Bd. 2, Spalte 1372-1373. Im Folgenden durch RGG4 abgekürzt (die hochgestellte Vier [4] weist auf die vierte Auflage hin).
58 ULRICH LUZ, Bd. I/2, S. 324, hier gestützt auf die Abhandlung von I. Löv, Die Flora der Juden, und S. 325.
59 RGG4, Spalte 1373.
60 Bd. III, S. 752, A[nmerkung] 84, Unterstreichung von mir. Im Folgenden durch ThWNT abgekürzt.
61 Hierzu muss gesagt werden: Um den Namen Gottes rein zu erhalten, täten die Zeugen Jehovas besser daran, ihn gar nicht auszusprechen. Zunächst einmal ist die Aussprache ohnehin falsch. Des Weiteren missbrauchen sie den Gottesnamen als Firmenlogo, wenn sie behaupten, nur die wahre Religion benutze den Namen „Jehova“, nur „Jehovas Zeugen“ seien wahre Christen, und Gott habe eine Organisation auf Erden, nämlich die „Wachtturm-Organisation“. Der Gottesname wird dadurch gewissermaßen zu einem „Corporate Identity“. Es wurden zudem im Namen Gottes zahlreiche Endzeitdaten schon von den damaligen „Bibelforschern“ (seit 1933 „Jehovas Zeugen“ genannt) vorhergesagt, die niemals eintraten, so dass hier erneut gefragt sei, wer in Wahrheit den Namen Gottes in den Schmutz zieht. Ein derart überheblicher Glaube beschmutzt in der Tat den Namen Gottes, so dass es ein Hohn ist zu behaupten, durch den Gemeinschaftsentzug werde verhindert, dass „Jehovas“ Name beschmutzt werde. „Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, sagt ein bekanntes Sprichwort.
62 DUDEN – Das große Buch der Zitate und Redewendungen.
63 „ad hominem, [lateinisch »auf den Menschen«], d.h. eine Begründung nicht rein sachlich führen, sondern die Beweisgründe auf die Interessen, Vorlieben, Abneigungen etc. der Person abstimmen, die überzeugt werden soll“ (Brockhaus-Enzyklopädie), oder anders: „…jmdm. etwas so widerlegen od. beweisen, dass die Rücksicht auf die Eigenart der Person u. die Bezugnahme auf die ihr geläufigen Vorstellungen, nicht aber die Sache selbst die Methode bestimmen“, Duden, Das Fremdwörterbuch, 7. Aufl., Mannheim 2001.
64 Wachtturm vom 15. Juli 2011, S. 15.
65 Ebd., S. 15-16.
66 Ebd.
67 Dieser im 19. Jahrhundert gebräuchlich gewordene Ausdruck leitet sich von einer Vorschrift aus den jesuitischen Ordensregeln des Ignatius von Loyola (1491 - 1556) ab. In den »Constitutiones« (4, 1) heißt es, die Ordensmitglieder sollen sich von Gott und den Vorgesetzten leiten lassen perinde ac si cadaver essent (»als seien sie ein Leichnam« [der alles mit sich machen lässt]). Dementsprechend wird das Wort »Kadavergehorsam« heute (meist abwertend) im Sinne von »blinder, willenloser Gehorsam unter Aufgabe der eigenen Persönlichkeit « gebraucht. – Brockhaus-Enzyklopädie.
68 Den „treuen und klugen Knecht“ (Luther).
69 S. 3.
70 Ebd.
71 Wachtturm, 15. Oktober 1986, S. 31, „Fragen von Lesern“.
72 Ebd.
73 Brockhaus-Enzyklopädie.
74 Mein Brief kann in der Dokumentation des Netzwerks Sektenausstieg e.V. eingesehen werden unter: Frank Bruder an die Ältesten seiner Versammlung
75 Wachtturm, 15. Oktober 1986, S. 31, „Fragen von Lesern“.
76 Unterstreichung von mir.
77 Bd. IX., S. 357, Anm. 64. Just Dial = Dialogus cum Tryphone Judaeo („Dialog mit dem Juden Tryphon“), Unterstreichung von mir.
78 Siehe 2Joh 1: „Der Ältere Mann“ (NWÜ).
79 RUDOLF SCHNACKENBURG, Die Johannesbriefe, fünfte Aufl., Bd. XIII, S. 317.
80 IgnEph 7, 1; 8, 1; 9, 1,( Epistula ad Ephesius (Brief an Ephesus)); IngSm 4, 1; 5, 1; 7, 2 (Ignatius, Epistula ad Smyrnaeos (Ignatius, Brief an die Smyrner), in: ebd., S. 316.
81 Siehe 15. Oktober 1986, S. 31. Siehe hierzu auch S. 27f. in dieser Abhandlung.
82 RUDOLF SCHNACKENBURG, Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, fünfte Aufl., Bd. XIII, S. 317, Unterstreichung von mir.
83 „Schwestern“ steht nicht im griechischen Urtext. Auch wenn Glaubensschwestern freilich immer mit einbezogen werden, da sie ja auch Teil der Gemeinde sind, so halte ich die feministische Übersetzung der Zürcher Bibel für fragwürdig und auch für nicht notwendig. Ansonsten verwende ich sie von einigen Ausnahmen abgesehen mit Vorliebe wegen ihrer genauen Urtexttreue.
84 Im Folgenden durch „AT“ abgekürzt.
85 ThWNT, Bd. I, S. 495ff.
86 Ebd., S. 32.
87 Neuauflage 2005, S. 308.
88 Brockhaus-Enzyklopädie.
89 Mt 27, 29, Zürcher Bibel, Kursiv von mir.
90 Bewahrt euch in Gottes Liebe, S. 208.
91 JOSEPH RATZINGER, BENEDIKT XVI., Jesus von Nazareth, Bd. II, S. 134.
92 Bewahrt euch in Gottes Liebe, S. 208.