Die Zeugen Jehovas sehen in der großen Finsternis einen Vorboten des Weltuntergangs. Sie selbst sehen sich auserwählt für das ewige Leben. ­ Eine Aussteigerin berichtet.

Von Jakob Menge

Es ist ihnen anzusehen, wie sie sich darauf freuen ­ auf den Moment, wenn die Welt endlich untergeht. Fast diabolisch wird ihr Lächeln, als sich der Redner dem angeblich bevorstehenden Ereignis zuwendet, das sie Harmagedon (Armageddon) nennen. Dietmar Lerch, einer der leitenden Prediger beim Bezirkskongreß der Zeugen Jehovas in einer Berliner Sporthalle, sagt mit bebender Stimme: „Welch wunderbare Prophezeiung", daß die „bösen Menschen vernichtet" werden. Und wieder strahlen seine rund 9000 Zuhörer still, denn in einem sind sie sich sicher: Sie werden auserwählt für das ewige Leben.

Am Rande hockt Tatjana K. und denkt darüber nach, was so attraktiv war an ihrem früheren Leben als Zeugin Jehovas. „Man fühlt sich als besserer Mensch. Es ist alles Schwarz-Weiß, hier ,wir', die Guten, und dort der Rest, die Bösen." Schon als Baby war sie „Zeugin", die Eltern gehören zur Gemeinschaft. Damals lernte die kleine Tatjana, daß alle anderen „lebendige Tote sind, vom Satan besessen und verdammt unterzugehen".

Jetzt, in den Ferien, halten Jehovas Zeugen überall in Deutschland ihre jährlichen Kongresse ab. Sauber und fein, die Männer mit Anzug und Krawatte, die Frauen in langen Röcken. Wer zufällig in so ein Treffen hineingerät, könnte meinen, in der Aktionärsversammlung eines mittelständischen Unternehmens gelandet zu sein. Unaufhörlich kritzeln sie Zahlen in ihre Notizblöcke. Nicht Kursgewinne, sondern Bibelstellen. Die sagen ihnen, daß ihre Aktien bombig stehen. Denn ihr Anteilsschein gilt dem Überleben, und ihre Dividende ist das Paradies.

Prediger Lerch träumt für seine Zuhörer vom ewigen Leben. Keiner wird mehr krank, sagt der alte Mann. Krebs, Schlaganfall und Tod ­ alles besiegt. Das jedenfalls hat Jehova versprochen. Im Harmagedon wird der ignorante Rest der Welt sehen, daß es sich ausgezahlt hat: all das Herumstehen mit der Postille „Wachtturm", das Abklappern von Wohnungen, all die Schmach und all das keusche Leben ­ ohne Tabak und vorehelichen Sex. Der Verzicht wird göttlich entlohnt.

Daß sie dabei von der Organisation ausgenutzt werden, wie ein deutscher Sektenreport aus dem Jahr 1995 feststellt, wollen die Zeugen nicht wahrhaben. Die milliardenschwere Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn beute ihre „Schäfchen" als schlechtbezahlte Werktätige „schonungslos aus", so die Theologen Ulrich Rausch und Eva Maria Kaiser. Spenden, ehrenamtliche Missionierung sowie Buch- und Zeitschriftenvertrieb finanzieren das New Yorker Imperium. Die Organisation ­ darum dreht sich alles, sagt Thomas Gandow, Berliner Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche. „Die Inhalte sind egal, sie werden wie die Weltuntergangsdaten pragmatisch angepaßt. Es gibt hier nur einen Kult, den Kult der Organisation."

Tatjana kennt ihr Druckmittel: die Angst. „Angst vor Dämonen in der Dunkelheit, Angst vor einem Blitz vom Himmel, wenn ich etwas falsch machte, und Angst vor allen Menschen, einschließlich Eltern, denn keinem konnte ich erzählen, was ich wirklich dachte. All das haben sie mir beigebracht", sagt sie. So harmlos die Sekte nach außen erscheinen mag, so knallhart autoritär regiert die Organisation ihre Herde. Tatjana K. ist nur ein Beispiel von so vielen seelischen Opfern der Sekte. In Deutschland sind 1998 rund 4000 Menschen ausgestiegen oder ausgeschlossen worden. Losgekommen von den Zeugen sind sie noch lange nicht.

Tatjana ist zum ersten Mal wieder zu ihnen gegangen. „Es ist so eine Art Mutprobe, ob ich meine Angst vor der Erinnerung überwinden kann", sagt die 28jährige Blondine. Heute trägt sie Stretchhosen und ein enges rotes Top. Ihren vollen Namen verrät sie nicht, auch nicht, wo sie aufgewachsen ist ­ nur so viel: „In einem osteuropäischen Land." Die Angst vor dem Weltuntergang ist ihr in Alpträumen erhalten geblieben.

Zwei Weltkriege, überquellende Atomarsenale, steigende Kriminalität ­ all die Schlagwörter haben die „Zeugen" parat, versehen mit der passenden Bibelstelle, um zu beweisen, daß die Apokalypse lange begonnen hat. Auf das genaue Datum des Endes wollen sie sich jedoch nicht festlegen ­ nicht mehr. Nein, zur Sonnenfinsternis am 11. August oder zum neuen Millennium wird es wohl nichts mehr werden, erklärt ein 30jähriger Teppichleger. Auch die sogenannte Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas in den USA nennt kein Datum. Schon des öfteren haben sie sich blamiert. Erst errechnete die 1870 gegründete Sekte den Beginn der Herrschaft Jehovas für das Jahr 1914. Neue Daten wurden erarbeitet, 1925, dann 1975. Als da wieder nichts passierte, verließen allein in Deutschland rund 20 000 enttäuschte Menschen die Sekte. Nun heißt die Formel allgemein: „Die neue Erde" kommt „binnen kurzem".

Der 51jährige Peter Rahn, Vizedirektor des Berliner Zoos, seufzt, wenn er daran denkt, daß er das verpassen könnte: „Immerhin könnte ich dann noch auferstehen." Tatjana K. hingegen braucht solch ein Paradies nicht mehr: „Nur menschliche Automaten wollen ständig glücklich sein", sagt die energische Slawin. „Für richtiges Glück muß man auch mal richtig traurig sein."

Tatjana studiert jetzt in Berlin Germanistik. Vor sieben Jahren hatte die Gemeinschaft sie ausgeschlossen, dasie ein deutsches Mitglied geheiratet hatte, der sich ihretwegen scheiden ließ. Erst protestierten beide, dann zerbrach die Ehe, auch daran, daß er weiter zurückwollte in die Organisation. Tatjana merkte erst in Gesprächen bei einem Psychiater, daß sie doch alles sagen kann. ­ „ohne daß ich dafür von Jehova bestraft werde".

Quelle: Die Welt, 22.7.1999