Sie hatte keine Wahl: Von klein auf musste Sabine Lauterbach* als Zeugin Jehovas missionieren. Erst spät fand sie den Ausstieg aus der Sekte. Heute blickt sie zurück auf eine geraubte Kindheit.

Als Sabine Lauterbach im Oktober 1971 geboren wird, leben ihre Eltern bereits seit zwei Jahren „in der Wahrheit" – die neue Erdenbürgerin wächst in der Erdengemeinschaft der Zeugen Jehovas auf. Dieses System bestimmt ihre ganze Kindheit und Jugend, ihr Leben verläuft anders als das ihrer Altersgenossen. Schon als Säugling ist Sabine dreimal wöchentlich bei den Zusammenkünften der Zeugen mit dabei: Sie schläft im Kinderwagen, während ihre Eltern die Texte aus den Wachtturmheften lesen und interpretieren. Spielplatz, Kindergarten, diese Orte bleiben dem Mädchen und seinen beiden älteren Brüdern vorenthalten. Ein guter Zeuge Jehovas schützt seine Kinder vor den schlechten Einflüssen der Welt. Und Sabines Eltern sind vorbildliche Zeugen, ihr Vater ist sogar „Ältester": Er leitet Versammlungen, organisiert Predigtdienste, entscheidet in einem Rechtskomitee, ob ein Sünder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Isoliert, ständig kontrolliert und streng behütet wächst das Mädchen heran. Alltag, Freizeit, Urlaub – alles spielt sich im Kreis der Zeugen Jehovas ab. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass es noch andere Menschen gibt", erinnert sich Sabine.

Erst mit Schulbeginn trifft sie auf die „böse Welt". Doch Sabine ist gut gewappnet: Als Zeugin Jehovas ist sie besser als alle anderen. Dieses elitäre Bewusstsein ist ihr von klein auf eingetrichtert worden. Sie kann stolz sein dieser Religionsgemeinschaft anzugehören, sagen ihre Eltern und Sabine glaubt ihnen. Dass sie verspottet und ausgegrenzt wird, tut zwar sehr weh, zeigt aber, dass sie es richtig macht. Und das hilft der Siebenjährigen, die Hänseleien und Anfeindungen der Mitschüler auszuhalten, tagsüber. Nachts liegt das Mädchen oft verzweifelt und heulend im Bett. Als die Situation in der Klasse für sie unerträglich wird, wechselt sie die Schule. Vorsichtig und schüchtern bleibt Sabine aber auch in der neuen Klasse im Abseits: Außerschulischen Kontakt mit ihren Klassenkameradinnen dulden ihre Eltern nicht. Sabine zieht sich zu ihren Schularbeiten zurück, ist ehrgeizig und fleißig – auch in ihrer Religionsgemeinschaft.

Was bleibt ihr auch anderes übrig? Isoliert und ohne Freunde braucht die Jugendliche dringend die Zustimmung und Anerkennung ihrer Eltern und der Zeugen Jehovas. Die kriegt sie, wenn sie eifrig „Dienst von Haus zu Haus" macht und ihren Missionsauftrag gut erfüllt. Von Kind an gedrillt sagt Sabine vor den Haustüren ihre Sprüche auf und freut sich, wenn sie Erfolge aufweisen kann. Jeden Monat macht sie etliche Stunden Predigtdienst, verkauft mehrere Bibeln. Sie leistet viel für die Religion und die Lauterbachs sind sehr stolz auf ihre Tochter.

Unlust, Zweifel oder gar Kritik – das lernt Sabine schon früh runterzuschlucken. Nicht nur weil sie ihren Eltern gefallen will. Sie fürchtet auch den Schmerz. Ist sie „ungehorsam", wird sie von ihrer Mutter geohrfeigt und von ihrem Vater „ausgiebig" geschlagen – körperliche Züchtigung ist bei den Zeugen üblich und wird empfohlen. Kein Wunder, dass aus der kleinen Sabine ein schüchternes Mädchen wird. All die „heidnischen" Feste wie Weihnachten, Ostern, Geburtstag darf sie als Zeugin Jehovas nicht feiern. Doch „darüber bin ich sehr froh, weil mir viel Stress erspart bleibt", schreibt sie als 14-jährige in ihr Tagebuch. Heute weiß sie, dass sie „brav und angepasst glaubte", was man ihr einredete. Und sie weiß auch, warum sie als Jugendliche schon depressiv war: „Ständig unter Druck etwas falsch zu machen und bestraft zu werden, ständig meiner Freiheitsräume beraubt habe ich nur geschluckt und mich nicht gewehrt", erzählt Sabine. Und immer öfter überkommt sie diese Ausweglosigkeit: „Am liebsten würde ich sterben." Mit 23 Jahren beginnt Sabine ein Fachhochschulstudium in einer anderen Stadt und zieht daheim aus. Endlich hat sie eigene vier Wände, ist unbeobachtet, „ein wunderbares Gefühl". Zum ersten Mal in ihrem Leben geht sie abends lange aus und „tanzt, was das Zeug hält". Doch auch in ihrer neuen Freiheit geht Sabine zu den Treffen der Zeugen Jehovas, lebt sie ohne Freund, befolgt sie weitgehend die Regeln. Zwei Jahre später, im Herbst 1997, lernt die junge Frau bei einem Tanzkurs an der Uni Johannes* kennen. Es funkt zwischen den beiden. Sabine erzählt ihm zunächst nichts von ihrer Glaubensgemeinschaft. Doch die Zweifel, die sie jahrelang weggedrückt hat, fangen nun an, in ihr zu toben: „Was ist das für eine Religion, die mir verbietet andere Menschen, Nicht-Zeugen, zu lieben?" Und weil sie so verliebt ist und zum ersten Mal lernt, was menschliche Wärme und Nähe ist, spürt sie: „Ich will da raus." Im Januar 1998 schläft die 26-jährige mit ihrem Freund, begeht zum ersten Mal in ihrem Leben ganz bewusst einen „Fehltritt" und bekennt ihn vor den Ältesten. Sabine wird wegen „Hurerei und fehlender Reue" nach einer Woche Bedenkzeit ausgeschlossen. Jetzt ist sie Abtrünnige – „das Schlimmste, was einem Zeugen Jehovas passieren kann". Sie hat diesen Schritt geplant und sich entschieden.

Befreit läuft Sabine an jenem kalten Abend im Februar 1998 nach Hause. „Ein neues Leben beginnt", sagt sie sich immer wieder und kann es kaum fassen. Euphorisch und in aller Eile räumt sie in ihrer Wohnung auf: Zeitschriften, Bücher – die ganze Jehova-Literatur wandert ohne Zögern ins Altpaper. Nichts mehr von all dem will sie auch nur noch einen einzigen Tag länger in ihren Räumen haben.

Hungrig greift Sabine auf, was ihr bislang verwehrt war: Sie liest Bücher von anderen „Abtrünnigen" und fühlt sich bestätigt. Sie sucht Kontakte und hat endlich echte Freundinnen, Menschen, die sich freuen, wenn es ihr gut geht, die sie um ihrer selbst willen mögen und nicht, weil sie ihren Missionsauftrag erfüllt. Sie lernt Spaß am Leben zu haben, zu genießen, ganz allmählich.

Oft aber holt die Angst sie ein. Nachts träumt die junge Frau: Ihre Mutter dringt in ihre Wohnung ein, bedroht sie und sie kann sich nicht wehren. Und tatsächlich ruft ihre Mutter immer wieder bei ihr an, versuchen ihre Eltern Sabine „zurückzuholen". Dann geht es ihr immer schlecht, sie fühlt sich bedrängt, manipuliert und kraftlos. Doch sie will den Kontakt zu ihren Eltern nicht abbrechen. „Die sind einfach verblendet und tun ihr Bestes."

„Ich habe nicht gelernt mich abzugrenzen und zu wehren", hat Sabine erkannt. Deshalb auch erlebt sie Kritik schnell als lebensbedrohlich und vernichtend. Ein Streit mit ihrem Freund vor einigen Monaten setzte ihr so sehr zu, dass sie nicht mehr leben wollte. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn mir meine Freundin in letzter Minute nicht gut zugeredet hätte", sagt Sabine und fängt an zu weinen. Einige Male besucht sie eine Aussteigergruppe, doch die „Dramen", die sie dort hört, machen ihr mehr Angst als Mut. Und sie entscheidet, doch lieber wieder wegzubleiben.

Die Kindheit und Jugend in der Sekte haben bei Sabine tiefe Spuren hinterlassen. Das weiß sie, obwohl sie ihre Vergangenheit am liebsten abschließen, vergessen möchte. „Ich will es schaffen", sagt sie energisch, „aber einfach ist es nicht."

*Namen von der Redaktion geändert

"Frau im Leben", Oktober 1999,
Autorin: Rita Peter