Eine junge Frau wirft sich vor den Zug, nachdem sie den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt hatte. Fast auf den Tag genau ein Jahr her ist diese Tragödie, die sich in Karlsruhe ereignete.

Oder war der selbstgewählte Tod die Reaktion auf eine zerbrochene Liebe? Die wahre Antwort kennt niemand. Soviel ist jedoch gewiss: Die Wunden sind längst nicht verheilt. Sekte und Gegner weisen sich gegenseitig die Schuld am Tod der jungen Frau zu.

Karlsruhe, 17. März 2000:

Der Frühling erobert Karlsruhe. Sabine S. (alle Namen im Text von der Redaktion geändert) ist gerade 28 Jahre alt geworden und hat ihr Studium beendet. Trotzdem will sie nicht mehr weiterleben und wählt einen grausigen Freitod: Sie springt vor einen Zug.

Die beiden Parteien schildern die Vorgeschichte des Dramas in verschiedenen Versionen: "Wir haben Sabine im Sinne der Zeugen Jehovas erzogen," berichtet ihr Vater, Heinz S., der selbst Mitglied der Zeugen Jehovas ist. Als Jugendliche habe sich seine Tochter freiwillig entschieden, Mitglied zu werden, betont er. "Mit 26 hatte sie eine Beziehung zu einem Nichtmitglied - das ist bei uns unüblich." Es folgte der Austritt. "Seit ihrer Jugend war unsere Tochter psychisch nicht stabil. Wir dachten, das verflüchtigt sich, sie hat schließlich erfolgreich studiert."

Liebe zerbrochen

Zwei Jahre später zerbrach Sabines große Liebe, sie wählte den Freitod. "In ihrem Abschiedsbrief hat sie nicht uns die Schuld gegeben, sondern der gescheiterten Beziehung," sagt Heinz S. Nachdem die 28-jährige der nicht-staatlichen Glaubensgemeinschaft den Rücken gekehrt hatte, schloss sich Sabine der Karlsruher Selbsthilfegruppe AUS/STIEG an, die Sektenaussteigern hilft, sich in ihrem neuen Leben zurecht zu finden. "Eine der Nebenwirkungen war, dass sich unsere Tochter von ihrem Elternhausimmer mehr entfernt hat. Vielleicht hat ihr das geschadet. Vielleicht hätte sonst alles anders ausgehen können," urteilt Sabines Vater.

Hohe Selbstmordrate

Katrin H. ist Gründungsmitglied der Karlsruher Gruppe von AUS/STIEG. Für sie ist Sabines Tod ein Resultat ihrer Trennung von den Zeugen Jehovas: "Wenn Sektenmitglieder aussteigen, sind sie meist nicht in der Lage, sich in der Normalität zurecht zu finden, die Selbstmordrate ist hier erschreckend hoch." Da Sabine in die Sekte hiengeboren worden ist, hätte sie in vieler Hinsicht keine Ahnung vom wirklichen leben gehabt. In manchen Dingen sei sie ihren Altersgenossen um Jahre hinterher gewesen.

Grundsätzlich wirft Katrin H. Sekten vor, dass sie Aussteiger mit ihrem alleinigen Anspruch auf Erlösung und Psychostress setzen: "Die Hilfesuchenden haben Angst vor der satanischen Außenwelt, die ihnen immer gepredigt wurde - und vor dem Ende der Welt, bei dem nur die Mitglieder gerettet werden. Sie fragen immer wieder. Und wenn doch was dran ist, was wenn wir doch vernichtet werden?" Nach Schätzungen der Pädagogin benötigt ein Aussteiger rund die Hälfte der Zeit, die er in einer Sekte Mitglied war, um sich anschließend von ihr innerlich zu befreien.

Alles nur Übertreibung?

Für Sabines Vater sind solche Aussagen glatte Übertreibungen. Trotzdem gibt er zu, dass ein Ausstieg nicht ganz unproblematisch ist: "Das ist wo, wie wenn ein Ehepaar auseinander geht." Anders sieht das Dr. Jan Badewin, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen und Direktor der Evangelischen Akademie Baden: "Wer aussteigt, verliert schließlich seine geistige Heimat." Eine andere hätten die Mitglieder nicht, da sie vom Alltag der Gesellschaft isoliert würden. Als Beispiel nennt Badewin die Zeugen Jehovas, bei denen Weihnachten und Geburtstage als heidnisch verurteilt werden.

Wieviele Sektenmitglieder es in der Fächerstadt gibt, kann der Akademiedirektor nicht genau beziffern. Deutschlandweit lägen die Schätzungen bei ein bis anderthalb Prozent der Bevölkerung. "Gewalttätige Sekten in Karlsruhe sind uns nicht bekannt, dafür jedoch solche, die versuchen, ihre Mitglieder psychisch unter Druck zu setzen."

In der Fächerstadt kennt Dr. Badewin Sekten mit christlichen Wurzeln wie die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas. Weiterhin vertreten sind Scientologen, Mahikari, Eckankar, das Universelle Leben sowie esoterische Gruppierungen mit sektiererischen Zügen wie Bruno Gröning Freundeskreis.

Kritischeres Bewusstsein

"Das Bewustsein zu den problematischen Seiten von Okkultismus und klassischen Sekten wächst," hat Badwin durch seine Arbeit als Sektenbeauftragter beobachtet. Exotische Gruppen wie die Moon-Sekte oder die Kinder Gottes fänden in Karlsruhe weniger Zulauf als noch vor einigen Jahren. Für Fragen gibt es das Kontakt-Telefon zum Sektenbeauftragten: (0721) 9175357 oder der Gruppe AUS/STIEG: (0721) 754550.

Quelle: Boulevard Baden, Autor: clo

Leserbrief

Menschen, die sich mit der unbiblischen und damit scheinheiligen Doktrin der Zeugen Jehovas befasst haben, kennen die engen Grenzen, den kolossalen psychischen Druck und all die Verboten gleichkommenden Einschränkungen, die die Wachtturmgesellschaft heranwachsenden Menschen auferlegt. Aus vielfältiger Erfahrung weiß ich, wie es mit der Psyche dieser jungen Menschen bestellt ist, wenn sie Zweifel an der Wahrhaftigkeit der ihnen indoktriniertenLehre bekommen. Und ich erlebe immer wieder, in welchem Zustand sie in unsere Selbsthilfegruppe kommen, wenn sie die Sekte gerade verlassen haben oder gar wie Sabine S. hinausgedrängt wurden.

Man hat sie zynisch zur „Hure“ und zur „Abtrünnigen“ abgestempelt, nur weil sie verliebt war und eine Beziehung mit einem jungen Studenten pflegte, der eben kein Zeuge Jehovas war. Eine Beziehung mit einem Nichtmitglied ist also nicht nur „unüblich“, wie es Herr S. formuliert, sondern sie zieht eine persönliche Katastrophe nach sich.

Sollte in einem solchen Fall eine abgeschlossene Fachhochschulausbildung für psychische Stabilität sorgen, jetzt, wo alle ihre ehemaligen Glaubensgenossen wegschauten, wenn sie der Geächteten auf der Straße begegneten? Sollten die ständigen Beweihräucherungen der „Organisation“, die sie, wenn immer sie ihre Eltern besuchte, mit anhören musste, weiterhelfen?

Sabine hatte das wahre, intolerante und gehässige Verhalten dieser Organisation erlebt und ihre Konsequenzen gezogen: Die ganze angesammelte Literatur samt der ohnehin gefälschten Wachtturmbibel wanderten unverzüglich in den Mülleimer. Sie konnte und wollte nicht mehr an diesen Jehova glauben.

Aus eigenem Antrieb kam sie in unsere Selbsthilfegruppe und erkannte in mir eine frühere Lehrerin wieder. Allerdings war sie nicht in der Lage, die oft erschütternden Berichte anderer Aussteiger und Betroffener anzuhören; sie hatte, wie sie mir sagte, mit der Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit genug zu tun. Deshalb war sie nur ein seltener Gast in der Gruppe; Telefongespräche mit mir oder Besuche bei mir zuhause waren für sie wichtiger. Auch nahm sie regelmäßige Besuche bei einem Gesprächstherapeuten auf.

Ich verwahre mich hier nachdrücklich dagegen, dass Herr S. unserer Selbsthilfegruppe die Schuld an der Entfremdung Sabines vom Elternhaus zuschieben möchte. Im Gegenteil: Immer wieder habe ich ihn, noch zu Sabines Lebzeiten, dringend um Gespräche gebeten und ihm versichert, dass es mein Bestreben sei, Eltern und Tochter einander wieder näher zu bringen. Auch mit Sabine habe ich oft über dieses Thema gesprochen und stets betont, Eltern und Kinder sollten einander nahe bleiben. Meinen Vorschlag, mit ihr zusammen ihre Eltern zu besuchen, lehnte sie aus panischer Angst vor nächtlichen Albträumen, die sie regelmäßig nach solchen Besuchen hatte, ab. Nicht grundsätzlich, wie sie sagte, aber vorerst.

Auch wenn Herr S. die Meinung vertritt, meine Aussagen zur Sekte der Zeugen Jehovas seien glatte Übertreibungen, stehe ich voll dazu, denn sie sind es eben nicht. Der erschreckend naive Vergleich eines Ausstiegs aus seiner Sekte mit der Trennung von Ehepartnern spricht für sich selbst und bedarf keines Kommentars mehr.

Sabine hat wenige Stunden vor ihrem Freitod mit mir telefoniert. Ihr Freund, der ihre Lösung von den Zeugen Jehovas verursacht und an den sie sich wie an einen Strohhalm geklammert hatte, hatte sich von ihr losgesagt.

Herr S. lehnte mein Angebot eines Gesprächs von Mensch zu Mensch auch nach dem Tod seiner Tochter ab. Wichtiger schien ihm, an den Pflichtteil des Erbes zu kommen, das Sabine aus Dankbarkeit zur Hälfte der Gruppe AUS/STIEG zugedacht hatte. Darum hat er ein Jahr lang gekämpft und hat ihn nun auch bekommen. Was wohl seine Tochter dazu sagen würde, diese liebenswerte, traurige junge Frau, die keinen Kindergarten besuchen und nicht mit andern Kindern spielen durfte, die ein heimlich aus der Bibliothek geliehenes Buch („Die Blechtrommel“) sofort zurücktragen und stattdessen lächelnd mit ihrer Mutter von Haus zu Haus gehen musste, der auch ihre Leidenschaft, das Tanzen, verboten wurde und die letztlich an einem ebenso labilen und schwachen jungen Mann vollends zerbrochen ist?

Katrin H.