Das Berliner Oberverwaltungsgericht soll eine typisierende Gesamtbetrachtung anfertigen
von Heike Schmol

Der Streit um die Anerkennung der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas als Körperschaft öffentlichen Rechts geht weiter.

Am Donnerstag hat das Bundesverwaltungsgericht in Berlin das Verfahren an das dortige Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Das Oberverwaltungsgericht soll prüfen, ob die Zeugen Jehovas durch das Verbot von Bluttransfusionen, vor allem gegenüber Eltern minderjähriger Kinder, die Rechte Dritter verletzen. Untersucht werden soll auch, ob die Religionsgemeinschaft darauf hinarbeitet, ausgetretene Mitglieder bei ihren Familienangehörigen in einer Weise auszugrenzen, die nach Artikel 6 des Grundgesetzes den geschützten Bestand von Familie und Ehe gefährdet.

Allein in Deutschland sind etwa 165.000 Verkündiger für die Zeugen Jehovas tätig. Das sind 2,5mal so viele, wie die evangelisch-methodistische Kirche Mitglieder zählt. Die sogenannte Wachtturmgesellschaft, die Dachorganisation der Zeugen Jehovas, gehört zu den größten christlichen Sekten überhaupt; nach eigenen Angaben sind mehr als 5,9 Millionen Verkündiger in 234 Ländern aktiv. Für die Heilsarmee arbeiten nur halb so viele. Die beiden von der Wachtturmgesellschaft vertriebenen Zeitschriften "Der Wachtturm" (22 Millionen Auflage in 132 Sprachen) und "Erwachet" (19 Millionen in 83 Sprachen) gehören zu den auflagenstärksten religiösen Zeitungen überhaupt. Allerdings verlassen auch Tausende Zeugen Jehovas jährlich die Organisation, die ihre Mitglieder fest im Griff hat. Die geschätzte Zahl ehemaliger Zeugen Jehovas liegt in Deutschland bei 15.000 bis 20.000.

Wie die "Abtrünnigen" von der Sekte behandelt werden, muß das Berliner Oberverwaltungsgericht nun untersuchen. Aussteiger haben übereinstimmend berichtet, daß sie nach ihrem Abschied vom Endzeitglauben der Zeugen nicht nur aus deren Gemeinschaft, sondern auch aus der eigenen Familie ausgegrenzt wurden.

In den Veröffentlichungen der Zeugen gibt es dafür durchaus Anhaltspunkte: "Abtrünnigkeit ist in Wahrheit Rebellion gegen Jehova. (...) Wahre Christen teilen Jehovas Empfindungen gegenüber Abtrünnigen; sie möchten gar nicht wissen, was für Vorstellungen diese vertreten. Im Gegenteil, sie „empfinden Ekel“ gegenüber denjenigen, die sich zu Gottes Feinden gemacht haben, aber sie überlassen es Jehova, Rache zu üben." (Wachtturm, 1993.)

Der Gründer der Sekte, Charles Taze Russell (1852 bis 1916), wollte eigentlich überkonfessionell wirken und keine eigene Sekte gründen. Durch seine Schriften und Predigten beabsichtigte er, möglichst viele Menschen mit der bevorstehenden Endzeit vertraut zu machen, die zum vorhergesagten Zeitpunkt freilich nicht eingetreten ist. Sein Nachfolger, der Jurist Joseph Franklin Rutherford, beseitigte die demokratischen Strukturen der Traktatgesellschaft und machte sie zu einer theokratischen Organisation, die Nation Gottes zu sein beansprucht, während die übrigen Nationen unter der Herrschaft des Satans stehen.

Aus dieser Weltsicht haben sich zwangsläufig Konflikte mit dem Staat ergeben. Die ersten tauchten 1917 auf, als junge Bibelforscher den Wehrdienst verweigerten, dann im Dritten Reich, als Zeugen Jehovas den Fahnengruß verwehrten. Jetzt wollen, die Zeugen wie 30 andere Religionsgemeinschaften in den Genuß einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft gelangen, die ihnen etwa dieBefreiung von Steuern, Kosten und Gebühren brächte. Die mit dem Körperschaftsstatus, verbundenen Vergünstigungen sind mit erhöhten Einflußmöglichkeiten und besonderen Machtmitteln in Staat und Gesellschaft verbunden, die auch die erhöhte Gefahr eines Mißbrauchs bergen. Deshalb muß der Staat dafür Sorge tragen, daß durch das Handeln öffentlich-rechtlicher Körperschaften die Rechte Dritter nicht verletzt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte den Zeugen Jehovas diesen Status in einem Urteil vom 26.Juni1997 verwehrt und unter Aufhebung zweier vorinstanzlicher Urteile eine Entscheidung der Berliner Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten aus dem Jahr 1993 bestätigt, die ihnen die Rechte der öffentlichen Körperschaft nicht gewähren wollte. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts steht die Verpflichtung der Mitglieder der Zeugen Jehovas, sich nicht an staatlichen Wahlen zu beteiligen, in einem verfassungsrechtlich, nicht hinnehmbaren Widerspruch zu dem für die staatliche Ordnung im Bund und in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip, das zum Krenbestand der Verfassung gehört.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. Dezember 2000 die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben. Es hat damit einen langen Streit darüber beendet, ob zur Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts formale Kriterien genügen oder ob eine besondere Staatsloyalität hinzukommen muß. Da das Grundgesetz die Verleihung der Körperschaftsrechte an keiner Stelle von der Staatsloyalität der antragstellenden Religionsgemeinschaft abhängig macht, wollte das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung offenbar auch möglichem Mißbrauch des Körperschaftsstatus vorbeugen. Der Körperschaftsstatus darf kein politisches Wohlverhalten erzwingen, zumal die Zeugen Jehovas mit ihrem Wahlverbot kaum politische Ziele verfolgen dürften, auch das Demokratieprinzip nicht schwächen wollten, sondern einen apolitischen Lebensentwurf, der "sich nicht gegen die freiheitliche Verfassungsordnung, sondern auf ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens" richtet.

Die Zeugen Jehovas lesen aus den biblischen Evangelien die Aufforderung, sich aus der Politik herauszuhalten, und wollen statt dessen "die gute Botschaft von Gottes Königreich als einzige Hoffnung der Menschheit" verkündigen. Ausschlaggebend bei der Verleihung des Körperschaftsstatus sind nicht Lehre und Glauben einer Religionsgemeinschaft, die zu beurteilen dem weltanschaulich neutralen Staat ohnehin verwehrt ist, sondern allein ihr tatsächliches Verhalten. "Das hindert freilich nicht daran, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist", heißt es in der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts.

Was soll das Berliner Oberverwaltungsgericht jetzt tun? Durch den Rückverweis des Bundesverwaltungsgerichts ist ihm eine "typisierende Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände aufgegeben, die für die Entscheidung über den Körperschaftsstatus von Bedeutung sind". Es muß sich also umfassend mit dem tatsächlichen Verhalten der Zeugen Jehovas befassen und Tatsachen zusammentragen, wie sie ihre Kinder erziehen und mit den Rechten Dritter, umgehen. Die Abgrenzungsbemühungen der Glaubensgemeinschaft gegenüber nicht Dazugehörigen ist unübersehbar.

Die Mitglieder sollen sich "vor vermehrtem Umgang mit Weltmenschen hüten" und im Umgang mit "Ungläubigen und gewöhnlichen Menschen vorsichtig" sein. Lehrer, die Zeugen Jehovas Schüler unterrichten, berichten auffallend oft von Konflikten bei Geburtstags- und Weihnachtsfeiern (beide Anlässe werden von den Zeugen Jehovas ignoriert), Theatervorführungen und Tanzveranstaltungen, an denen diese Kinder nicht teilnehmen dürfen, weil die Sekte einen "starken negativen Einfluß auf ihre geistige Gesinnung." befürchtet. Wie angesichts solcher Abschottungstendenzen eine umfassende Beurteilung durch ein Oberverwaltungsgericht möglich sein soll, bleibt abzuwarten.

Für eine wirkliche Durchschaubarkeit ihrer Mitgliederorganisation, ihrer Finanzen und internen Umgangsformen werden die Zeugen Jehovas wohl kaum sorgen.

Quelle: Frankfurter Allgemeine, 19.05.01