Dem Staat fällt kein Zacken aus der Krone, wenn seine Bürger "nur" das Recht ihrer Mitbürger achten. Das ist - im Kern - das, was den Karlsruher Richtern zu den Zeugen Jehovas einfiel.

Gibt es an der jüngsten Entscheidung aus Karlsruhe - es ging dabei um die Zeugen Jehovas - irgendetwas, was auch jene interessieren könnte, die mit Religion und Kirche wirklich nichts am Hut haben? Also auch jene, denen das Bündnis von Thron und Altar (nebenbei: seit über 81 Jahren aufgekündigt!) ein Dorn im Auge ist? Ganz gewiss gibt es das! Man muss sich dann aber den "Thron" näher anschauen, nicht den "Altar", Denn Karlsruhe hat in Wahrheit über das Selbstverständnis des Staates gesprochen.

Lassen wir also die Konstruktionsgeheimnisse einer "Körperschaft öffentlichen Rechts" und das organisatorische Innenleben der "Zeugen Jehovas" hier ganz beiseite, das nämlich wird später noch einmal näher angeschaut. Denn genau diese Prüfung (Wie steht es mit der Achtung der Grundrechte in dieser Sekte?) hatte das Bundesverwaltungsgericht, die fachgerichtliche Vorinstanz, ziemlich faul beiseitegeschoben und stattdessen gewissermaßen den beleidigten Staat gespielt: Eine Art rechtlicher Anerkennung der Sekte komme nicht infrage, da sie ihre Mitglieder ja aufrufe, an demokratischen Wahlen nicht teilzunehmen, es fehle also an der nötigen "Staatsloyalität",

Und an diesem Punkt liegt das Verdienst der Karlsruher Richter: Sie unterscheiden sorgfältig zwischen "Rechtstreue" und einer darüber hinaus gehenden "Staatsloyalität". Zwar, wenn man schlau sein wollte, wäre zu fragen: Wie stellen sie sich eine Rechtskultur ohne Staat vor? Wie kann man Rechte vom Staat einklagen, wenn man nicht zugleich den Staat als Träger (und Einforderer) seiner Rechte anerkennt?

Nach solchen Fragen regt sich bei mir stets der ur-liberale Instinkt: Schon recht, sage ich da. Aber zunächst einmal verstehe ich unter "Staatsloyalität" das Gegenteil, nämlich, dass der Staat seinen Bürgern gegenüber loyal ist - und nicht etwa umgekehrt. Und natürlich haben Bürger (und Religionsgemeinschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts) rechtstreu zu sein aber doch deshalb, weil sie dies zuerst den Mitbürgern schulden und erst in zweiter Instanz, als deren oberstem Diener, dem Staat. Denn der Staat ist um der Menschen willen da - nicht aber leben die Menschen um des Staates willen. Und auch dieses: Der Staat ist um des Rechtes willen da und nicht das Recht um des Staates willen.

Klingt vielleicht ein wenig naiv, oder? Aber es ist genau dieses Gefälle, das die jüngste Entscheidung aus Karlsruhe prägt. Der Staat muss damit leben, dass seine Bürger (und deren Vereine) etwas von ihm wollen - ohne sich vor ihm zutiefst zu verbeugen. Der Staat darf aber sehr wohl - und streng - fragen : Wie haltet ihr es mit dem Recht der anderen? Das ist aber eine andere Frage als diese: Wie haltet ihr es mit mir?

Es ist genau dieser Unterschied zwischen der ersten Person Singular ("Ich!" - und folglich: "Mit mir?") und der dritten Person Plural ( "Ihnen!" - und deshalb: "Mit den anderen?") - es ist genau die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung, die den liberalen Staat ausmacht.

Und zum Schluss noch eine Wette, na, fast zum Schluss: Wollen wir wetten, dass der Anerkennungsantrag der Zeugen Jehovas am Ende scheitern wird, wenn das Bundesverwaltungsgericht neu verhandelt? Weil nun nämlich endlich die Hauptfrage zum Knackpunkt werden wird: Wie geht Ihr mit den Euch anvertrauten Menschen um?

Und wirklich ganz zum Schluss noch eine Bemerkung, eine ganz persönliche: Das ist nebenbei die Frage, an der sich letztlich unterscheidet, ob wir es mit Religion und Gottesdienst - oder mit Ideologie und Götzendienst zu tun haben.

Quelle: Die Zeit, 6.8.2001, Autor: Robert Leicht