Normalerweise freuen sich die Zeugen Jehovas, wenn die Presse über einen ihrer Kongresse berichtet. Doch immer mehr Journalisten geben nicht einfach den offiziellen Pressetext der Wachtturm-Gesellschaft wieder, sondern stellen eigene Recherchen über diese ansonsten eher verschlossene Gruppierung an.

So auch Hugo Stamm vom Züricher Tages-Anzeiger, der bei dieser Gelegenheit auf das seltsame Doppelspiel der Wachtturm-Gesellschaft stieß. Mit der Folge, dass so mancher Kongressbesucher aus der Zeitung erfuhr, dass seine Glaubensgemeinschaft heimlich mit der UNO verbunden war.

Eifrig wird das neue Königreich verkündet

Unter dem Titel «Eifrige Königreichsverkünder» zelebrieren die Zeugen Jehovas einen Kongress. Kritische Töne werden aber nicht verkündet.

Rund achttausend Gläubige der Endzeitgemeinschaft Zeugen Jehovas versammeln sich vom Freitag bis Sonntag zum Jahreskongress im Letzigrundstadion. Das Tagungsmotto «Eifrige Königreichsverkünder» umschreibt treffend, dass der Grossanlass die missionarische Manifestation nach innen und aussen bezweckt. Da sich die umstrittene Wachtturm-Gesellschaft (WTG) als die einzig wahre, von Gott auserwählte christliche Glaubensgemeinschaft versteht, gibt es für die Kongressleiter keinen Grund, sich mit kritischen Fragen auseinander zu setzen. Allerdings liessen sich genügend Widersprüche finden.

Die Uno, das «wilde Tier»

Da wäre die kuriose Geschichte mit der Uno. Für die WTG ist Politik «Teufelswerk»,sie verglich die Uno bisher mit dem «scharlachroten wilden Tier» aus der Offenbarung (Neues Testament), also mit dem Satan. Kürzlich ist jedoch bekannt geworden, dass die WTG zehn Jahre lang Nicht-Regierungsorganisation (NGO) der Uno war. Die Zeugen müssen sich von der WTG-Leitung verschaukelt vorkommen, wenn sie denn überhaupt davon erfahren haben. Faktisch hatte die WTG einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Über solche Vorgänge wird am Kongress erfahrungsgemäss nicht gesprochen. Denn früher wurde den Gläubigen erklärt, die Uno sei ein multinationaler Götze, der «als Ersatz für Gottes Königreich geschaffen» worden sei. Ein Traktat bezeichnete die Uno gar als Weltverschwörung gegen Gott.

Unchristliche Ausrede

Die Erklärung der WTG-Leitung zu dieser peinlichen Enthüllung: Sie sei 1991 NGO-Mitglied geworden, um Zugang zu den Forschungsergebnissen und der Bibliothek der Uno zu bekommen. Nur: Auch aussen Stehende erhalten Einblick in die Arbeit der Uno. Als die Mitgliedschaft aufflog, gab die WTG sofort den Austritt. Ehemalige Zeugen vermuten, dass die WTG aus Imagegründen NGO-Mitglied bei der Uno war.

Ex-Zeugen kritisieren auch die radikale Abkehr der Gläubigen von der Welt. «Warum sollten wir unnötigen geselligen Kontakt mit Menschen pflegen, die fortgesetzt weltlichen Zielen nachstreben und keine Anbeter Jehovas werden möchten?», heisst es in einer WTG-Schrift. Es wird sogar empfohlen, die Gemeinschaft mit solchen Personen zu meiden. Auch die christlichen Kirchen werden mit «Babylon der Grossen» oder der «Mutter der Huren» gleichgesetzt. Die Zeugen zelebrieren ihre Gottesdienste denn auch nicht in Kirchen, sondern Königreichsälen. Weihnachten, Geburtstage und Ostern werden nicht gefeiert, Kinder dürfen in der Regel nicht an Schulfesten oder Theateraufführungen teilnehmen. Politik und weltliche Ämter gehören zum Rekrutierungsfeld des Satans. Vergnügungsveranstaltungen sind verpönt, in der Freizeit sollen Zeugen die Bibel studieren oder Predigerdienst leisten, also an den Türen oder auf den Strassen missionieren.

Die Furcht vor der Uno und den grossen Kirchen resultiert aus einer Verschwörungsangst. Schliesslich warne die Bibel vor falschen Propheten, die vor der Wiederkunft von Jesus besonders aktiv seien, erklärt die WTG. Da die Zeugen glauben, die Endzeit sei bereits angebrochen, sehen sie überall Verführer am Werk. Zu ihnen gehören auch abtrünnige Glaubensbrüder. «Es wäre gefährlich, sich aus Neugier verleiten zu lassen, ihre Schriften zu lesen und ihren Lästerreden zuzuhören», heisst es in einem Traktat. Abtrünnigkeit ziehe den geistigen Tod nach sich und führe in die Vernichtung.

Falsche Prophezeiungen

Die WTG wurde vor über 130 Jahren mit dem Zweck gegründet, die Endzeit zu verkünden. Bereits 1914 bereiteten sich die Zeugen ein erstes Mal vergeblich auf das Ende der Welt vor. Die Apokalypse wurde mehrmals falsch prophezeit. Doch noch heute verkündet die WTG, wir würden «in den letzten Tagen» leben. Die Endzeitangst ist der ständige Begleiter der Zeugen. Manche schränken die Berufsausbildung ein oder gründen keine Familie, weil die Zukunftsplanung in Erwartung des baldigen Endes der Welt obsolet sei.

Die eigenwillige Bibelauslegung der WTG führt zu einer weiteren Kuriosität. Den Zeugen ist es selbst bei Lebensgefahr verboten, eine Bluttransfusion zu akzeptieren. Manche sind gestorben, weil sie Fremdblut verweigerten. Kürzlich verklagte ein Zeuge in South Carolina gar einen Arzt, weil er ihm das Leben mit einer Transfusion gerettet hatte. Die WTG stützt sich dabei vor allem auf die Apostelgeschichte, in der vor dem Blutgenuss gewarnt wird. Bei der biblischen Empfehlung handelt es sich vor allem um eine Hygienemassnahme, die Bluttransfusion war vor 2000 Jahren nicht bekannt.

Quelle: Tages-Anzeiger, Zürich, 19.7.2002