In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gibt es, wie in jeder anderen Organisation auch, ungeschriebene Gesetze und Denkweisen. Nur schwer kommt ein Outsider an solche Informationen heran, doch manchmal stößt man ganz unverhofft darauf.
Ein solcher Fall ereignete sich in der Februarausgabe 1998 der Kirchenzeitschrift 'Der Stern'. Auf Seite 24 findet man das Bild einer jungen Frau, die nachdenklich dreinblickt, und darunter den Artikel 'Was wäre wenn?':
Mein ganzes Leben lang hatte ich gelernt, daß die Kirche wahr ist. Doch als ich mir dann vornahm, selbst ein Zeugnis zu erlangen, glaubte ich, die Angelegenheit von einem anderen Standpunkt aus angehen zu müssen, als meine Lehrer und Freunde es taten. Deshalb fragte ich: Was wäre, wenn das Evangelium nicht wahr ist? Was wäre, wenn sich meine wohlmeinenden Freunde und meine Eltern hatten verleiten lassen? Was wäre, wenn das Buch Mormon ein Roman ist? Was wäre, wenn es heute keinen lebenden Propheten gäbe und die Familie nicht für immer bestehen könnte?
Als ich über solche Fragen nachdachte, wurde mir der Sinn verfinstert. Mir war, als gäbe es Türen in meinem Innern, die sich nun schlossen. Einen ganzen Tag lang war ich niedergeschlagen und in einer Gedankenstarre gefangen, hegte ungute Gedanken und war unfreundlich zu meinen Mitmenschen.
Am folgenden Morgen wurde mir bewußt, daß ich so nicht weiterkam. Da fiel mir eine Seminarlektion über das Beten ein. Ich wußte, daß es in 'Lehre und Bündnisse' 9:7-9 Richtlinien dazu gibt, wie man eine Antwort erhält. Als ich diese Verse las, wurde mir klar, daß ich die falschen Fragen gestellt hatte. Und während ich meine Fragen mit dem Verstand und dem Herzen durcharbeitete, glaubte ich von ganzem Herzen daran, daß das, was ich gelernt hatte, wahr ist. Deshalb betete ich wieder, doch dieses Mal fragte ich, ob das, woran ich glaubte, richtig war. War ich wirklich ein Kind Gottes? Gab es ein celestiales Reich? War das Priestertum die Macht Gottes?
Die Finsternis wich dem Licht. Der Geist bestätigte mir, daß mein Glaube nicht vergebens war. Mir war, als flögen die Türen in meinem Innern wieder weit auf, und ich konnte alles deutlicher sehen.
Ich entwickelte den Wunsch, zu dienen und Zeugnis zu geben. Der Herr hatte mein aufrichtiges Beten erhört. Jetzt weiß ich selbst, daß das, woran ich die ganze Zeit geglaubt hatte, wirklich wahr ist.
Um das hierin enthaltene Denkschema zu verdeutlichen, soll eine ähnlich geartete Geschichte vorgestellt werden:
Schon immer verstand ich mich mit meinen Eltern wunderbar. Wir unternahmen viel gemeinsam und hatten dabei jede Menge Freude. Als es kürzlich im Biologieunterricht um die Vererbungslehre ging, wanderten meine Gedanken einige Tage zurück, als wir für die Notleidenden Blutspenden waren. Im Erholungsraum blätterte ich unsere Spenderausweise durch und sah, daß unsere Blutgruppen völlig verschieden waren. Deshalb fragte ich mich jetzt: Was wäre, wenn meine Eltern gar nicht meine richtigen Eltern wären. Was wäre, wenn ich nur adoptiert worden wäre? Was wäre, wenn sie mir die ganze Zeit etwas vorgemacht hätten?
Als ich über solche Fragen nachdachte, wurde mir der Sinn verfinstert. Mir war, als gäbe es Türen in meinem Innern, die sich nun schlossen. Einen ganzen Tag lang war ich niedergeschlagen und in einer Gedankenstarre gefangen, hegte ungute Gedanken und war unfreundlich zu meinen Mitmenschen.
... Als ich diese Verse las, wurde mir klar, daß ich die falschen Fragen gestellt hatte. Und während ich meine Fragen mit dem Verstand und dem Herzen durcharbeitete, glaubte ich von ganzem Herzen daran, daß das, was ich gelernt hatte, wahr ist ... Jetzt weiß ich selbst, daß das, woran ich die ganze Zeit geglaubt hatte, wirklich wahr ist.
Bei der Analyse der zweiten Geschichte fallen entscheidende Mängel in der Logik auf. Erstens wäre es sicherlich unnatürlich, wenn sich die betreffende Person bei Bewußtwerden dieser Entdeckung wohlfühlen würde. Zweitens setzt der Gemütszustand der betreffenden Person die Vererbungslehre nicht außer Kraft, ganz gleich, wie fest sie daran glaubt.
Was in der zweiten Geschichte als völlig unlogisch abgetan werden kann, wird in der Kirchenzeitschrift und in der Kirche als absolut schlüssige und normale Methode angepriesen. Die Fälle sind identisch. Beide Male geht es darum, die Wahrheit über einen bestimmten Umstand herauszufinden.
Hier wird sogenanntes Scheuklappendenken gefördert. Alles, was mich von meinem vorgegebenen Weg abbringen könnte, soll mich nicht zu interessieren haben. Dabei wird klar in Richtung jüngere Mitglieder gezielt, die geistig noch agil und formbar sind. Sie sollen lernen, welche Fragen sie stellen dürfen und welche nicht. Die Gewichtung liegt dabei darauf, es doch gar nicht erst so weit kommen zu lassen, wie in dieser Geschichte. Jeder denkende Mensch, der geistig nicht verformt ist, kann diese Geschichte und ihre Denkweise nur als krank bezeichnen. Sie offiziell abzudrucken, mag man als kühn oder ehrlich einordnen.
Die HLT-Kirche pflanzt ihren Mitgliedern folgende Gedankengänge ein:
- Gute Gefühle über die Kirche bestätigen ihre Wahrheit.
- Bleiben gute Gefühle aus, so hat man etwas falsch gemacht, z.B. die falschen Fragen gestellt.
- Kommt man beim Ausstudieren mit den Verstand zu einem anderen Ergebnis als beim Ausstudieren mit dem Herzen, ist das letztere Ergebnis vorzuziehen. Gefühle sind sicherere Indikatoren als wissenschaftliche Erkenntnisse.
- Ungute Gefühle, Niedergeschlagenheit und Gedankenstarre sind ein deutliches Zeichen für Unwahrheit.
- Schlechte Gefühle über die Kirche stammen vom Teufel, z.B. durch Übertretung, und erfordern daher Umkehr.
- Wenn die Kirchenführer gesprochen haben, ist das Denken abgeschlossen.
An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß dies keine Fiktion ist, sondern Realität. Als Mitglied und häufig auch als ehemaliges Mitglied vermeidet man die Ausformulierung dieser einfachen Zusammenhänge am liebsten, weil sie zu beschämend sind (aber zum Glück nur im ausformulierten Zustand).