Einige mormonischen Gruppierungen sehen Joseph Smith als gefallenen Propheten an, u.a. weil er sich selbst zum Präsidenten der Kirche gemacht habe. Dieser Artikel soll einen kleinen Einblick geben, wie es zu dieser Einschätzung kommen kann.
Als am 6. April 1830 die ‚Kirche Christi‘ gegründet wurde, umfasste der Gedanke einer Wiederherstellung aller Ämter der Urkirche nicht das Amt eines ‚Präsidenten der Kirche‘, man konnte auch nicht ahnen, dass es einmal eine ‚Erste Präsidentschaft‘ geben würde.
Am Tag der Kirchengründung wurden Joseph Smith und Oliver Cowdery in einer Offenbarung als ‚Apostel‘ und ‚Älteste‘ bezeichnet (LuB[HLT] 20:2,3), zwei Ämter, die unstrittig urchristlich sind. Die heutige Unterscheidung zwischen dem ‚ersten‘ und dem ‚zweiten Ältesten‘ der Kirche fand jedoch erst 1835 Eingang in Lehre und Bündnisse (LuB[1835] II:1) und ist im Buch der Gebote (BdG[1833] XXIV:3,4) noch nicht vorhanden.
Laut History of the Church soll die Anweisung für diese Bezeichnung am 15. Mai 1829 von Johannes dem Täufer aus Anlass der Wiederbringung des Aaronischen Priestertums ausgesprochen worden sein (HC 1:40,41). Darauf wird in der Erklärung zum Abschnitt 13 der Lehre und Bündnisse auch ausdrücklich hingewiesen. Allerdings fehlte dieser Abschnitt (LuB[HLT] 13) nicht nur im Buch der Gebote, sondern auch in der Erstausgabe der Lehre und Bündnisse im Jahr 1835.
Unter dem Gründungsdatum wird noch ein „Präsident des Hohen Priestertums (oder präsidierende Älteste)“ erwähnt (LuB[HLT] 20:64–67), allerdings wurde auch diese Stelle erst 1835 eingeschoben (vgl. BdG[1833] XXIV:44; LuB[1835] II:15–17). Alle diese Probleme stehen also in sehr engem Zusammenhang der Problematik um die Wiederherstellung des Priestertums.
Zu einem Zeitpunkt nach der tatsächlichen Einführung ‚des Hohen Priestertums‘ schreibt Joseph Smith über den 26. April 1832:
Am 26. berief ich einen allgemeinen Rat der Kirche ein und wurde als Präsident des Hohen Priestertums anerkannt, gemäß einer vorangegangenen Ordination auf einer Konferenz von Hohen Priestern, Ältesten und Mitgliedern in Amherst, Ohio, am 25. Januar 1832. (HC 1:267)
Über die Jahre 1832 und 1833 hat sich dann der Begriff ‚Präsident‘ durchgesetzt. Joseph Smith wurde nach dem Titel ‚Präsident des Hohen Priestertums‘ auch mit dem Titel ‚Präsident des Rates‘ bedacht, weil er diese Funktionen ja auch inne hatte. Ende 1833 war der Begriff bereits recht gut etabliert.
Doch es dauerte noch bis zum 17. Februar 1834, um die Idee einer ‚Ersten Präsidentschaft‘ zu formulieren und durch Zustimmung des Rates zu zementieren. Dies geschah in Kirtland, Ohio, in der Versammlung des Rates, in der der Hohe Rat gegründet wurde. Joseph Smith wurde zum ‚Präsident des Hohen Rates‘ gewählt. Tatsächlich ist das Protokoll dieser Versammlung (LuB[1835] V; LuB[HLT] 102) die erste historisch verbürgte Niederschrift eines offiziellen Dokuments, das den Begriff ‚Erste Präsidentschaft‘ enthält.
Was nun die Erwähnungen einer ‚Präsidentschaft‘ oder ‚Ersten Präsidentschaft‘ in Offenbarungen in Lehre und Bündnisse angeht, die vor diese Zeit datiert sind, so ist im Einzelnen Folgendes fest zu stellen:
März 1831: Die Worte „wie es ihm von der Präsidentschaft und dem Bischof der Kirche bestimmt wird“ (LuB[HLT] 48:6) entsprechen nicht dem Original-Wortlaut der Offenbarung. Zum Vergleich stellen wir das Original und die geänderte Version ein:
BdG[1833] LI:6
6. And then ye shall begin to be gathered with your families, every man according to his family, according to his circumstances, and as is appointed to him by the bishop and the elders of the church, according to the laws and commandments, which ye have received, and which ye shall hereafter receive; even so: Amen.
LuB[1835] LXIV:2
2. ... and then ye shall begin to be gathered with your families, every man according to his family, according to his circumstances, and is appointed to him by the presidency and the bishop of the church, according to the laws and commandments, which ye have received, and which ye shall hereafter receive; even so. Amen.
Man beachte neben der Ersetzung von ‚Älteste‘ mit ‚Präsidentschaft‘ auch die Änderung der Reihenfolge.
November 1831: Wir betrachten die Stelle LuB[HLT] 68:15–26, in der siebenmal der Begriff ‚Präsidentschaft‘ fällt, dreimal sogar in Verbindung mit ‚Erste‘. Ins Buch der Gebote wurde sie nicht mehr aufgenommen und in Lehre und Bündnisse ist sie 1835 in der noch heute vorliegenden Form vorhanden. In der Kirchenzeitschrift The Evening and the Morning Star wurde sie aber im Oktober 1832 veröffentlicht. Wir stellen die beiden Versionen zum Vergleich:
The Evening and the Morning Star, Jg.1, Nr.5, S.35
... wherefore it shall be an high priest who is worthy; and he shall be appointed by a conference of high priests. And again, no bishop or judge, which shall be set apart for this ministry, shall be tried or condemned for any crime, save it be before a conference of high priests; and in as much as he is found guilty before a conference of high priests, by testimony that cannot be impeached, he shall be condemned or forgiven, according to the laws of the church. And again, in as much as parents have children in Zion, that teach them not to understand the doctrine of repentance; faith in Christ the Son of the living God; and of baptism and the gift of the Holy Ghost by the laying on of the hands, when eight years old: the sin be upon the head of the parents, for this shall be a law unto the inhabitants of Zion,...
LuB[1835] XXII:2–4
2. ... wherefore they shall be high priests who are worthy, and they shall be appointed by the first presidency of the Melchizedek priesthood, except they be literal descendants of Aaron, and if they be literal descendants of Aaron, they have a legal right to the bishopric, if they are the first born among the sons of Aaron: for the first born holds the right of presidence over this priesthood, and the keys or authority of the same. No man has a legal right to this office, to hold the keys of this priesthood, except he be literal descendants and the first born of Aaron: but as a high priest of the Melchizedek priesthood, has authority to officiate in all the lesser offices, he may officiate in all the lesser offices, he may officiate in the office of bishop when no literal descendant of Aaron can be found; provided he is called and set apart, and ordained unto this power under the hands of the first presidence of the Melchizedek priesthood. And a literal descendant of Aaron, also, must be designated by this presidency, and found worthy, and anointed, and ordained under the hands of this presidency, otherwise they are not legally authorized to officiate in their priesthood: but by virtue of the decree concerning their right of the priesthood descending from father to son, they may claim their annointing, if at any time they can prove their lineage, or do ascertain it by revelation from the Lord under the hands of the above named presidency.
3. And again, no bishop, or high priest, who shall be set apart for this ministry, shall be tried or condemned for any crime save it be before the first presidency of the church; and inasmuch as he is found guilty before this presidency, by testimony that cannot be impeached, he shall be condemned, and if he repents he shall be forgiven, according to the covenants and commandments of the church.
4. And again, inasmuch as parents have children in Zion, or in any of her stakes which are organized, that teach them not to understand the doctrine of repentance; faith in Christ the Son of the living God; and of baptism and the gift of the Holy Ghost by the laying on of the hands, when eight years old, the sin be upon the head of the parents, for this shall be a law unto the inhabitants of Zion, or any of her stakes which are organized:...
Das Original erwähnt eine ‚Präsidentschaft‘ überhaupt nicht, alle diese Nennungen wurden 1835 eingefügt. Die Verantwortlichkeit wird von der Versammlung der Hohen Priester auf die Erste Präsidentschaft übertragen, was eine erhebliche inhaltliche Änderung darstellt. Auch das Konzept der Pfähle findet in der Änderung ihren Niederschlag, das aber erst 1833 entwickelt und 1834 in Kirtland erstmal umgesetzt wurde. Hinzu kommt noch sehr viel weiterer Text.
Die Nennungen im Jahr 1832 beziehen sich wie bereits beschrieben nicht auf eine Präsidentschaft der Kirche, sondern auf die ‚Präsidentschaft des Hohen Priestertums‘ (LuB[HLT] 81:2) bzw. auf die ‚Präsidentschaft der Schule der Propheten‘ (LuB[HLT] 88:127,128).
Im Jahr 1833 nimmt die Idee langsam Formen an. Im März heißt es einfach ‚Präsidentschaft‘ (LuB[HLT] 90:12), doch schon im Mai hängt Smith ein „in allem, was die Kirche und das Reich betrifft“ (LuB[HLT] 94:3,7) an.
Die ersten Bischöfe wurden 1831 ordiniert, ein Jahr nach Gründung der Kirche. Bis 1833 gab es keine Erste Präsidentschaft, wie sie heute besteht, und Pfähle gab es nicht bis 1834. Die Zwölf Apostel und die Siebziger wurden bis 1835 nicht ausgewählt. (Orson F. Whitney, Saturday Night Thoughts, Teil 7, S.207)
Diese Tatsachen haben wir jetzt teilweise nachgewiesen. Doch diese sagen gar nichts weiter aus.
Der Augenmerk sollte vielmehr auf den vielen nachträglichen Veränderungen liegen, die an ‚Gottes offenbartem Willen‘ vorgenommen worden sind, um so theologische Begründungen für die organisatorische Weiterentwicklung vorweisen zu können. Und diese Veränderungen sind es, die den Vorwurf mancher mormonischer Gruppierungen über den Fall des Propheten nicht ganz von der Hand weisen lassen.