Dies ist ein Bericht über einen Ausflug zum Tempel, der vor kurzem stattgefunden hat: Zwei Frauen und drei Männer haben in einem der großen Tempel der Heiligen der Letzten Tage an einer Endowmentsession teilgenommen.
Das wäre nichts Ungewöhnliches, wenn, ja wenn diese Leute treue Mormonen wären. (Nur ein Mormone in gutem Stand bei den örtlichen Autoritäten darf an der Endowmentzeremonie teilnehmen.) Von dieser Gruppe war allerdings keiner ein glaubenstreuer Mormone. Einer der Männer ist zwar auf dem Papier noch Mitglied der Kirche (der Mormonen), aber die anderen vier haben die Kirche offiziell verlassen, und alle fünf gelten bei den Mormonen als „Abtrünnige“.
Wie und warum haben sie nun diesen Ausflug unternommen? Es versteht sich wohl von selbst, dass die Identität dieser Personen sowie einige Details ihres Abenteuers vertraulich bleiben müssen. Ich kann dem Leser allerdings versichern, dass die Geschichte wahr ist und dass – bis auf die fiktiven Namen der Teilnehmer – alles authentisch ist.
Ich will diesen abtrünnigen Tempelbesuchern fiktive Namen geben, damit ich die Geschichte leichter erzählen kann: Jack, Joe, Bob, Jane und Alice.
Jack war für die Mormonen auf Mission; er hat sehr viel Humor, er ist furchtlos und furchterregend – ein Draufgänger. Er hat sich die Sache ausgedacht und geprüft, ob sie überhaupt machbar war.
Joe, auch auf Mission gewesen, ist auf dem Papier noch Mitglied, aber längst nicht mehr gläubig.
Bob hat dem Mormonismus vor vielen Jahren den Rücken gekehrt; ihn interessierte es einfach, die heutige Zeremonie zu erleben, da sie sich seit dem letzten Mal, als er sie als gläubiger Mormone erlebte, doch sehr verändert hat: die blutigen Strafen und Eide gibt es nicht mehr, es tritt kein protestantischer Geistlicher mehr als Untergebener des Satans mehr auf und das Ganze wird zum größten Teil per Film und Tonbandaufnahme vorgeführt – es ist also alles ziemlich anders als die Zeremonie, die er kannte.
Jane, aktive Exmormonin, hatte das Endowment in ihrer Mormonenzeit nicht mitgemacht. Sie wollte es einmal erleben, da ihre Eltern noch gläubige Mormonen sind und regelmäßig in den Tempel gehen.
Alice ging, als sie noch Mormonin war, regelmäßig in den Tempel, fühlte sich dort aber nie so ganz wohl, da sie nie den Geist verspürte, wie man ihn dort eigentlich spüren sollte. Jedenfalls sagen die Mormonen das. Sie hatte immer das Gefühl, sie käme nicht ganz mit.
Jack, Bob und Jane sind zur Zeit mit Nichtmormonen verheiratet; Joe und Alice sind geschieden und alleinstehend.
Wie kam es, dass diese Gruppe früherer Mormonen so etwas tat? Das ist durchaus eine legitime Frage, die auch in der Gruppe selbst erörtert wurde. Zunächst gab es sicher Gründe, so etwas nicht zu tun. Der Tempel und seine Rituale sind den Mormonen sehr heilig (außerdem sind sie geheim), und die Mormonen ergreifen alle möglichen Maßnahmen, um den Tempel dem Blick der Öffentlichkeit fernzuhalten. In gewissem Sinn hatte die Gruppe also vor – zumindest aus Sicht der Mormonen – in heilige Bereiche vorzudringen und sie zu entweihen. Ein weiterer Grund, es nicht zu tun, war die Möglichkeit, erwischt zu werden. Ein Mormonentempel wird schließlich von der mormonischen Privatpolizei in Zivil (den Sicherheitskräften) bewacht.
Manche der persönlichen Gründe der Beteiligten wurden bereits genannt. Als Gruppe wollten sie sich natürlich in gewisser Hinsicht auch einfach einen Schabernack erlauben und den Mormonen „eins auswischen“. Aber es steckte noch mehr dahinter. Die Mormonen glauben daran, dass Gott ihren Tempel beschützt, dass „Böses“ (wie zum Beispiel abtrünnige Exmormonen) dort nicht eindringen kann, dass diejenigen, die im Tempel amtieren, eine ungewöhnliche „Macht der Erkenntnis“ haben und, dank der Eingebungen des Heiligen Geistes, jeden Anwesenden erkennen, der nicht wirklich würdig ist. In der mormonischen Folklore gibt es reichlich solche Geschichten, in denen häufig erzählt wird, wie eine Gruppe von Heiligen im Tempel versammelt war und mit der Zeremonie beginnen wollte und der Amtierende feierlich verkündete, es sei jemand anwesend, der unwürdig sei, daran teilzunehmen, so dass die Zeremonie erst weitergehen könne, wenn der Betreffende gegangen sei. Natürlich schlich dann immer irgendjemand beschämt und leise von dannen, nachdem er so kraft göttlicher Inspiration entlarvt worden war. Gott kann man schließlich nicht reinlegen, oder?
Einer der wichtigsten Gründe war der, dass geprüft (eigentlich bewiesen) werden sollte (schließlich wusste man Bescheid) ob der „Geist der Erkenntnis“ einen ertappt. Offensichtlich war Gott an dem Tag gerade anderswo und nicht in seinem Tempel.
Der Tempel, den sie für dieses Abenteuer auswählten, war einer der neueren Tempel; er steht in einer amerikanischen Großstadt. Er hatte viele der Einrichtungen, die den meisten kleineren Tempeln fehlen: Cafeteria, Mietkleidung, Informationszentrum und Laden. Außerdem fangen den ganzen Tag lang bis in den Abend hinein häufig neue Endowmentsessionen an.
Um Zulass zu einem Mormonentempel zu erhalten, muss man einen „Tempelschein“ vorweisen, eine Art Ausweis, der ein Jahr lang gültig ist und vom örtlichen Mormonenbischof (Pastor) ausgestellt und vom Pfahlpräsidenten (dem Vorgesetzten des Bischofs) gegengezeichnet wird. Nur sehr würdige Mormonen erhalten einen solchen Tempelschein. Dazu müssen sie eine Unterredung über sich ergehen lassen, in der ihre Glaubensstärke und ihr Gehorsam gegenüber den Geboten und Praktiken der Kirche überprüft wird. Schätzungen zufolge haben nicht einmal zehn Prozent der Mitglieder der Kirche einen gültigen Tempelschein. Die Beschaffung eines Tempelscheins für jeden in der Gruppe war also die erste größere Hürde, die es zu überwinden galt.
Jack gelang es, dieses Problem zu lösen. Wie er das genau gemacht hat, muss vertraulich bleiben, aber es gab keinen Diebstahl und keinen Betrug oder andere illegale Methoden. Es gelang ihm, für jeden in der Gruppe einen gültigen, authentischen Blanko-Tempelschein zu besorgen.
Am Abend bevor die Gruppe in den Tempel ging, traf sie sich in dem Motel, wo diejenigen, die von außerhalb angereist waren, übernachteten. Jetzt füllten sie die Tempelscheine aus. Manche verwendeten ihren richtigen Namen, andere einen fiktiven. Die Unterschrift des „Bischofs“ und des „Pfahlpräsidenten“ leisteten sie füreinander. Dabei verwendeten sie teilweise den korrekten Namen von tatsächlich existierenden Bischöfen und Pfahlpräsidenten (aus einer kirchlichen Telefonliste abgeschrieben) und teilweise fiktive Namen. Mehrere der Männer baten die Frauen in der Gruppe, als „Bischof“ bzw. „Pfahlpräsident“ zu unterschreiben. Da Mormonenfrauen niemals ein solches Amt innehaben, war dies ein weiterer Test für die „Gabe der Erkenntnis“.
Am nächsten Morgen fuhr die Gruppe gemeinsam zum Tempel. Sie gingen allein bzw. paarweise hinein, um nicht aufzufallen. Keiner hatte am Eingang Schwierigkeiten. Die Tempelscheine wurden von dem freundlichen älteren Tempelarbeiter, der einen jeden mit einem leisen Gruß und einem Lächeln willkommen hieß, überprüft. Jeder wurde von einem der vielen Tempelarbeiter ordnungsgemäß zu den Umkleideräumen – für Männer und Frauen getrennt – geführt. Die männlichen Tempelarbeiter trugen einen weißen Anzug, die Frauen ein langärmliges, hochgeschlossenes weißes Kleid. Überall standen sie mit einem Lächeln im Gesicht, um den Besuchern des Tempels, die zur Endowmentsession kamen, zu helfen.
Da fast keiner in der Gruppe die passende Tempelkleidung besaß, hielten sie zunächst an dem Schalter an, wo sie die nötigen Sachen ausleihen konnten. Die Komplettausstattung kostete $ 2,50.
Eine Sorge war, dass keiner der Beteiligten das „heilige Garment“ als Unterwäsche trug. Jeder tempelwürdige Mormone trägt diese spezielle Unterwäsche ständig, und jeder im Tempel, der solche Unterwäsche nicht trug (außer ein Mormone, der für sein eigenes Endowment kam), musste doch sofort als Eindringling erkannt werden. Es stellte sich heraus, dass dies kein Problem war. Niemandem fiel auf, dass sie das heilige Garment nicht trugen.
Jeder in der Exmormonengruppe begab sich in den entsprechenden Umkleideraum und zog die weiße Kleidung an (Hose, Hemd, Krawatte, Socken und Schuhe für die Männer; bodenlanges Kleid (langärmlig, hochgeschlossen), Strümpfe und Schuhe für die Frauen) und ging an die Stelle, wo die Namen der Verstorbenen ausgegeben werden, für die die Tempelbesucher stellvertretend das Endowment erhalten. Dann begaben sie sich in die Kapelle. Dabei trugen sie ein kleines Bündel unter dem Arm: Schürze, Schärpe und Schleier (für die Frauen), Kappe (für die Männer). Sie setzten sich und warteten ab, bis die Anwesenden zum Beginn der eigentlichen Endowmentzeremonie aufgerufen wurden.
Eine ältere Tempelarbeiterin setzte sich vorn in der Kapelle an die Orgel und begann, etwas zu spielen, was sicher auf „den Geist“ einstimmen sollte. Das tat es leider nicht. Die arme Schwester hätte man niemals in die Nähe einer Orgel lassen dürfen. Jede zweite Note war falsch und sie hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie man Orgel spielt. Es war also eine Qual.
Die Gruppe wartete also geduldig darauf, in den eigentlichen Tempel geleitet zu werden. Der Amtierende betrat schließlich die Kapelle und fragte leise Joe und Alice (von der Exmo-Gruppe), ob sie für die Session als „Zeugen“ fungieren wollten. Das Paar, das als Zeugen fungiert, muss an mehreren Stellen während des Rituals nach vorn kommen und am Altar des Tempels niederknien – stellvertretend für alle Anwesenden. Es ist eine besondere Ehre, wenn ein Ehepaar darum gebeten wird, dieses „Zeugenpaar“ zu sein. Zumindest handelt es sich meist um ein Ehepaar. (Joe und Alice sind nicht miteinander verheiratet.) Sie erklärten sich aber bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Jane war daraufhin ein bisschen durcheinander, weil sie noch nie an einer Endowmentsession teilgenommen hatte und darauf hoffte, dass Alice bei ihr blieb und sie davon abhielt, etwas falsch zu machen. Das Zeugenpaar sitzt allerdings immer ganz vorn in der ersten Reihe.
Für Jane erwies sich das trotzdem nicht als Problem, da die Tempelarbeiter daran gewöhnt sind, dass die Besucher mit den Ritualen nicht so vertraut sind. Sie helfen immer bereitwillig, wenn jemand gerade nicht weiß, was er tun oder sagen soll.
An der Session nahmen rund dreißig Personen teil, etwa zwei Drittel von ihnen Frauen. Der Amtierende geleitete sie in den Sessionsraum. Die beiden Zeugen saßen vorn in der ersten Reihe, die Männer auf der rechten Seite des Raums, die Frauen auf der linken. Es hätten zweimal so viele Personen in den Raum gepasst.
Die Endowmentsession begann. Der Amtierende stand vorn am Altar, und eine Tonbandaufnahme wurde abgespielt. Er sagte nichts selbst, sondern fungierte praktisch als Roboter. Im passenden Moment begann der Film und damit eins der heiligsten Erlebnisse für jeden Mormonen.
Die Exmos hatten keine Probleme. Jane band ihre Schärpe nicht richtig. Sie hatte die Schleife vorn, statt an der Seite, aber es fiel niemandem auf. Als die Anwesenden aufgefordert wurden, alles, was sie hatten, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu weihen, sagten die Exmos nicht „ja“ wie die anderen, aber das fiel keinem auf. Als der Kreis „für die wahre Ordnung des Betens“ gebildet wurde, trug Jack seine Schuhe nicht, als er zum Altar ging, aber auch das fiel niemandem auf. Als Alice während des Gebetskreises anfing zu kichern (auf die Bitte um Segen für „unseren Propheten, Gordon B. Hinckley“ hin) und Joe damit zu kämpfen hatte, nicht laut loszulachen, bemerkte niemand etwas. Als Jane dann „durch den Schleier“ ging, fielen ihr die heiligen Passwörter nicht so recht ein, und die Tempelarbeiterin musste sie ihr vorsagen, aber auch das fiel nicht auf.
Es fiel auch niemandem auf, dass keiner aus der Gruppe die vorgeschriebene Unterwäsche, das „Garment“, trug – wobei die beiden Frauen überhaupt keine Unterwäsche trugen.
Niemandem fiel auf, dass auf dem Tempelschein, den Jack vorlegte, keine Gültigkeitsdauer angegeben war.
Kein Zeichen, dass der „Geist der Erkenntnis“ die Tempelarbeiter davor warnte, dass „Beauftragte des Satans“ (ihre Terminologie) sich an dem heiligen Ort befanden.
Nach der Endowmentsession, als die Gruppe sich bereits wieder umgezogen hatte, traf man sich auf dem Parkplatz. Jack kam ein bisschen später, weil er noch den Tempelpräsidenten in dessen Büro aufgesucht hatte, um ihm ein paar Fragen zu stellen. (Jack, dies nur nebenbei, sieht wie ein typischer Mormonenbischof aus.) Der Tempelpräsident hieß ihn willkommen und beantwortete die meisten seiner Fragen bereitwillig. Jack erfuhr von ihm, dass die Zahl der Tempelbesucher tatsächlich niedrig ist. Außerdem bestätigte der Tempelpräsident, dass der Tempel bereits seit einiger Zeit gezwungen war, Namen mehrfach zu verwenden, dass also für ein und denselben Verstorbenen das Endowment mehrfach vollzogen wurde, weil einfach nicht genügend Namen von Verstorbenen vorlagen. Und das, obwohl solche Arbeit völlig unnötig ist und eigentlich ein Betrug, da ja der glaubenstreue Mormone meint, er verhelfe da irgendeinem Verstorbenen zu himmlischer Herrlichkeit, auch wenn diese Eintrittskarte bereits von jemand anderem gekauft und bezahlt worden war.
Der Tempelpräsident erklärte außerdem stolz, es gebe ein Programm, mit dem die Besucherzahlen gehoben werden sollen: jeder Mormone, der an einem Tag an drei Endowmentsessionen teilnimmt, erhält in der Cafeteria des Tempels ein kostenloses Mittagessen. Wie erfolgreich dieses Programm war, sagte er allerdings nicht.
Außer den bereits geäußerten Schlussfolgerungen dazu, was dieses Experiment über die Heiligkeit eines Mormonentempels aussagt, und abgesehen von der Empörung, die die Mormonen angesichts dessen empfinden werden, weil diese Personen erfolgreich in die heiligen Gemäuer eingedrungen sind, muss sich doch jeder Mormone verwirrt eine weitere Frage stellen: diese fünf Personen haben jeder für einen Verstorbenen das Ritual vollzogen. Die fünf Verstorbenen sind jetzt in den Kirchenbüchern „mit Endowment“ eingetragen, also des celestialen Reichs würdig. Sollten die Mormonen das Endowment nun als gültig betrachten? Oder ist es ungültig (da von „Unwürdigen“ vollzogen)?
Die Gruppe war der Ansicht, sie hätten sowohl die gemeinsame Absicht als auch ihre persönlichen Absichten erreicht. Alice meinte anschließend, es habe ihr immer zu schaffen gemacht, dass sie, wenn sie als glaubenstreue Mormonin in den Tempel gegangen war, „nicht mitkam“. Dieses Erlebnis hatte ihr sehr deutlich gezeigt, dass die glaubenstreuen Mormonen, die im Endowmentraum im Tempel sitzen, nicht „mitkommen“: sie kapieren nicht, dass der gesamte Hokuspokus sinnlos und ein Schwindel ist.
Jane war besonders froh darüber, dass sie die Zeremonie zum ersten Mal erlebt hatte. Es machte sie sehr traurig, wenn sie daran dachte, dass ihre Eltern so etwas noch glauben konnten. Ganz besonders traurig war sie an dem Punkt, wo Adam und Eva in die „einsame und öde Welt“ ausgestoßen werden und sie daran denken musste, dass die Mormonen (wie ihre Eltern) diese wundervolle Welt so negativ, als Fluch, betrachten.
Bob staunte über die vielen Änderungen in der Zeremonie und meinte, wenn er noch Mormone wäre, hätte er sicher den Eindruck, die Änderungen seien ein Zeichen dafür, dass die heutige Kirche vom Glauben abgefallen sei.
Alle Teilnehmer stimmten darin überein, dass sie froh waren, dass sich ihnen diese Gelegenheit geboten hatte. Manche meinten sogar, es sei ein erhebendes Erlebnis gewesen – allerdings zweifellos nicht im orthodoxen mormonischen Sinn.
Quelle: Adventure At the Temple