"Stellt euch vor, Sizilien… Nein, stellt euch vor, Turin 1972."
Jetzt kommt keine Geschichte von Sofia von den Golden Girls, sondern lediglich meine ganz persönliche Geschichte.
An einem Frühherbsttag des benannten Jahres klingelten zwei Frauen von den Zeugen Jehovas (ZJ) an unsere Tür um die „gute Botschaft“ zu verkünden. Meine Mutter hatte in dem Augenblick absolut keine Zeit und sie war voll im Stress mit mir, meinem kleinen Bruder, der noch ein Baby war und dem Haushalt. Die zwei Damen ließen sich aber nicht abwimmeln und boten ihre Hilfe an mit der Option, dass sie sich danach zusammensetzen würden, um die Bibel näher zu betrachten. Das imponierte meine Mutter sehr und willigte ein, auch wenn es ihr etwas unangenehm war.
Ab diesen Moment kamen sie regelmäßig, mit meiner Mutter wurde ein Heimbibelstudium durchgeführt. 1974 sind wir nach Deutschland ausgewandert und meine Mutter setzte dort ihr Studium fort und ließ sich im selben Jahr als ZJ taufen.
Mein Vater hielt nicht viel von dieser Gemeinschaft, hatte aber nichts einzuwenden gehabt, da er „die Früchte der Wahrheit“ sehen konnte: Meine hysterische, aggressive, laute und psychisch labile Mutter zähmte sich ein wenig und diese positive Veränderung beindruckte und gefiel ihm. Selbstverständlich hatte sie auch freie Hand uns (insgesamt dann fünf Kinder!), streng im Glauben der ZJ zu erziehen.
Ziemlich bald, schon während der Grundschule merkte ich, dass ich anders war als die anderen. Irgendwie fühlte ich mich von meinem gleichen Geschlecht sexuell angezogen. Außerdem faszinierte mich auch die doch so „böse und satanische Welt“: Musik, Film, Fotografie, Mode, Trends etc. Feierlichkeiten wie Weihnachten, Geburtstage und Fasching machten mich ebenfalls neugierig und traurig zugleich, weil ich das alles nicht feiern durfte.
Meine Konflikte begannen somit schon sehr früh. Trotzdem, alles machte irgendwie Sinn, was ich so in den Versammlungen, Kongressen und Studium lernte und strengte mich an, nach den Regeln der Wachtturmgesellschaft zu leben. Außerdem wollte ich mir, durch absolute Gehorsamkeit und Glaube die Liebe meiner Mutter „erkaufen“, denn keine zwei bis drei Jahren nach ihrer Taufe hatte sie ihre alten Verhaltensmuster wieder an den Tag gelegt. Heute bezeichne ich sie als eine Rabenmutter, weil… ach, lassen wir das Thema, das ist eine andere Geschichte.
Mit 16 ließ ich mich taufen. Nach außen gab ich mich als motivierter und zielstrebiger Bruder, bis ich später „die Vorrechte eines Pioniers und Dienstamtgehilfen erlangen durfte“.
Zugegeben, es fühlte sich gut an, plötzlich so begehrt und gefragt zu sein: Alle wollten was von mir, man lud mich überall ein, war ständig auf der Bühne und durfte vor hunderten, sogar tausenden von Menschen reden und „Theater spielen“. Aber ich hatte dabei nicht nur normales Lampenfieber, sondern mein sensibles und ehrliches Wesen hatte immer mehr ein fürchterliches, schlechtes Gewissen. Eine Art von „Ohnmachtsgefühle“, denn ich wusste genau, mein Leben war von mir nicht so gewählt und gewollt, sondern nur eine Fassade, ein Alibi… Keiner sollte doch dahinterkommen, dass ich eigentlich Gay bin und gar nicht gefangen sein wollte in einer solchen Organisation.
Anstatt glücklich und unbeschwert mein Leben zu leben wurde ich immer depressiver und trauriger. Ich war nicht mehr ICH. Ich fühlte mich fehl am Platz. Das „ewige Leben im Paradies“, im eigenem Häuschen mit den exotischen Tieren, vollkommene Gesundheit, dauerhaftes Glück,…eine Welt und Vorstellung, mit der ich mich weder anfreunden noch glauben konnte.
Meine Persönlichkeit, Ambitionen, Talente und Interessen wurden immer mehr unterdrückt. Die Ältesten in der Versammlung entschieden mit, wie meine Schul- und Berufsausbildung auszusehen hatte. Mir wurde verboten Abitur zu machen, zu studieren und im Beruf erfolgreich zu sein und Karriere zu machen. Nur einen handwerklichen Beruf durfte ich lernen, damit dieser nach Harmaghedon von Nutzen sein konnte.
Während dieser intensiven Zeit lernte ich viele Schwestern und Brüder, Älteste und Pioniere kennen. Man besuchte sich gegenseitig und wie der Zufall es so wollte, hatte sich der eine oder andere „Bruder“ in mich verguckt und sogar vergriffen. Da dies mehrmals passierte und ich somit einige erwischt hatte, die ein Doppelleben führten fing ich an, ernstere Zweifel zu haben. Meine Naivität und Gutgläubigkeit verwandelte sich in Skepsis und ich wurde kritisch. Plötzlich ließ ich auch andere Meinungen außerhalb der ZJ zu und recherchierte. Mein Weltbild über die „wahre Religion“ war komplett zerstört.
Die Jahre vergingen trotzdem, ich verleugnete mich immer mehr, auch meine Gefühle, mein Denken bis ich psychisch so am Ende war, dass ich die Gürtelrose bekam und ein Selbstmordversuch begann.
Ende der 90er Jahre stand dann mein Entschluss fest, doch noch auszusteigen! Ohne im Geringsten ein schlechtes Gewissen zu haben „kündigte“ ich mit einem Brief bei der Versammlung, in der ich offiziell noch gehörte.
Danach blühte ich auf, fand sofort neue Freunde und Bekannte, versuchte beruflich zu retten, was noch zu retten war, schulte mich um, und und und. Automatisch begann aber auch der Kampf gegen Herzrasen und Existenzängsten. Bei jedem Misserfolg dachte ich es ist „Jehova“ der mich bestraft, damit ich bereue und zu „ihm zurückkehre“. Damit habe ich gar nicht gerechnet und habe diese Gefühle unterschätzt und unterdrückt, bzw. so gut wie keine Beachtung geschenkt.
Der berufliche Weg bis zu der Position, die ich jetzt habe war so steinig und teilweise aussichtslos, entmutigend. Oft fehlten mir Kraft und Lust, weiter zu leben. Doch wie eine innere Stimme und Sturheit - und dank einiger sehr engen Freunde IN DER WELT - sie sagten mir alle, irgendwie geht es im Leben immer weiter und man sollte nie aufhören, an seine Ziele und Träume zu glauben.
Über mehrere Jahre habe ich keinerlei Kontakt zu meinen Eltern und Geschwistern. Als mehrfacher Onkel kenne ich nicht einmal die Namen meiner Nichten und Neffen. Seit 2003 habe ich eine Pigmentstörung, die sogenannte Weißfleckkrankheit „Vitiligo“. Ein Psychologe, dessen Namen ich nicht mehr weiß behauptet, Vitiligo steht für „fehlende Farbe im Leben“. Keine Ahnung, ob darin etwas Wahres dran ist, aber ich muss zugeben, eine Gewisse „Leere“ und „Sinnlosigkeit“, in Bezug auf Zugehörigkeit in der Familie oder den „eigenen Wurzeln“ spüre ich irgendwie schon.
Deswegen bezeichne ich mich als „Kämpfernatur“, denn ich musste mich von zwei Randgruppen befreien und mich behaupten, ja, ich musste mich von den „Ketten der Wachtturmgesellschaft“ lösen und zu meiner Sexualität stehen und sie akzeptieren.
Lüge und Scheinheiligkeit hasse ich heute noch. Es ist jetzt befreiend, als Mensch so zu leben, wie es man für richtig hält und man schuldet niemanden mehr Rechenschaft. Inzwischen ist es mir „egal“, wie teuer der Preis dafür war. Inzwischen bin ich überzeugt, ich habe die beste und wichtigste Entscheidung meines Lebens getroffen.
Auch wenn man mein Kampf gegen die eigene Vergangenheit längst noch nicht besiegt ist, eins ist Gewiss: Ich bin auf dem richtigen Weg, den Frieden mit ihr zu schließen.