Ich wurde im November 1976 in Koblenz geboren als das erste von 3 Kindern. Meine Mutter hatte sich erst kurz vor meiner Geburt als Zeugin Jehovas taufen lassen. Mein Vater war und ist es auch heute noch alles andere als gläubig.
Mein Mutter begann mich von Anfang an in der "Wahrheit" zu erziehen. An die Anfänge in meiner ersten Versammlung kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß aber, dass mein armer Popo öfter mal dran glauben musste. Im ganzem war ich ein unkompliziertes Kind, es sei , ich saß in der Versammlung.
1981 kam mein Bruder Sebastian zur Welt.
Zu dieser Zeit spürte ich schon das meine Eltern auseinander gehen würden, auch wenn ich noch nicht wusste, wie man das nennt. Wir zogen alle gemeinsam um, etwa 100 km von unserem bisherigem zu Hause, da sich mein Dad beruflich verbessern wollte.
Auch hier ging meine Mutter mit Sebastian und mir weiter zur Versammlung.
An einem Sonntagmorgen nahm Papa mich zur Seite und versuchte mir zu erklären dass er ausziehen würde. Nur kam er nicht weit mit seinen Erklärungsversuchen da ich ihm eine geknallt habe. Ich war damals 6 Jahre alt.
Irgendwann war es so weit und er zog aus. Von da an ging's bergab. Meine Mutter war ohne ihn lebensunfähig. Nichts tat sie mehr, nichts interessierte sie mehr. Die Wohnung verdreckte, wir Kinder wurden vernachlässigt. Brüder aus der Versammlung griffen ihr unter die Arme, halfen im Haushalt nahmen ihr zeitweise die Kinder ab.
Ich wurde zu dieser Zeit eingeschult und die Schule machte mir keine Probleme.
Plötzlich kam immer öfter ein fremder Mann zu uns nach Hause und genauso plötzlich wurde meiner Mutter die Gemeinschaft entzogen. Ich konnte damals nicht verstehen, warum keiner mehr zu uns kam und meiner Mama half.
Eh ich mich versah zogen wir wieder um, in die Nähe meiner Oma.
Der Mann zog in ein Haus gegenüber ein. Er trank viel Alkohol und beschäftigte mich und Andreas damit, die leeren Bierflaschen gegen volle auszutauschen. Immer wieder sah ich meine Mutter " oben ohne " durch das Haus laufen und ich dachte mir das kann nicht richtig sein. Und ich wusste wir müssen mit Folgen rechnen. Zu der Zeit war ich 9 Jahre alt.
Nebenbei besuchten wir auch dort die Versammlung. Niemand sprach mit meiner Mutter und wir saßen im kleinem Saal, durch eine Glasscheibe von 100 den anderen Verkündigern abgetrennt. Ich fühlte mich schrecklich, aussätzig.
Es kam wie es kommen musste, meine Mutter wurde schwanger.
Kurze Zeit vor der Geburt von David wurde sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, aber nur weil das Ekelpaket endlich raugeschmissen hatte.
Man sollte meinen das es nun bergauf ging. Weit gefehlt!
Mein Vater holte Sebastian und mich öfter zu sich was meiner Mutter gar nicht passte. Sie machte vor allem mir ein schlechtes Gewissen wenn ich zu ihm fuhr.
Als ich 12 Jahre alt war unternahm meine Mutter einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten. Ich hatte sie damals gefunden und musste alles weiter managen. Ich war die Stütze meiner Mutter. Ich nahm sie in den Arm, nicht sie mich. Ich trocknete ihr die Tränen und sagte "wir werden es schaffen", nicht sie zu mir. Ich übernahm einen großen Teil des Haushaltes. Den kleinen David erzog ich; auch heute sagt er immer wieder "Mama" zu mir.
Innerlich wurde ich stark, bereit jedes Unwetter durchzustehen, nach außen war ich jedoch ein schüchternes, ruhiges Mädchen ohne Ansprüche.
Wir Kinder waren so selten wie nur möglich zu Hause. Draußen im Wald bei Freunden oder sonst wo, nur nicht bei unserer Mutter. Draußen ging es uns gut.
In der Zwischenzeit hatte ich innerhalb der Versammlung ein Paar Freundschaften schließen können. Aber so wurde ich auch immer mehr neidisch auf meine Freundinnen. Neidisch auf die Familie die sie umgab, neidisch auf ihr theokratisches Wissen. Sie wussten so viel und taten in meinen Augen auch so viel für Jehova. Und ich, was tat ich?
Ich ließ mich in die theokratische Predigtdienstschule eintragen. Außerdem fand ich eine Schwester aus dem Bethel, die mit mir das Paradiesbuch studierte. Eine Pionierschwester schulte mich im Predigtdienst. Meine Aufgaben waren immer sehr gut. Man fing an mich zu bemerken , ich gehörte zu den vorbildlichen Jugendlichen. Nur meine Mitarbeit im Wachtturmstudium ließ zu wünschen übrig. Ich hatte Freude an den Kongressen, am Singen der Lieder.
Die Schwester die mit mir studierte zog die Zügel an als wir das Anbetungsbuch anfingen zu studieren. Ich sollte jede Bibelstelle rausschreiben. Naja, ich fand mich damit ab und tat es.
In der Zwischenzeit wurde ich auch ungetaufter Verkündiger. Doch selten schaffte ich mehr al 7 Stunden im Monat.
Wenn ich so zurückblicke, stelle ich fest das ich ganz schön viel zu bewältigen hatte.Für meine Pubertät hatte ich keine Zeit. Statt dessen habe ich mir bis zu meinem 15. Lebensjahr ein gutes Fettpolster zugelegt. Der Stress zu Hause, meine Anstrengungen in der Versammlung reichte nicht. Meine Klassenkameraden machte mir das Leben schwer. Ich war der Außenseiter - Kinder können grausam sein.
Ich war sehr gerne bei meinem Vater in den Ferien. Er hatte eine sehr liebe Frau gefunden, die mir noch heute Mutter und Freundin ist. Die beiden planten ihre Hochzeit zu der ich unbedingt wollte. Meine Mutter holte den Dienstaufseher nach Hause der mich von der Schlechtigkeit der Welt überzeugte. Weltliche Hochzeiten würden mit "Trunkenheit und Unmoral" enden und an so was wolle ich mich ja wohl nicht beteiligen.
Zur Enttäuschung meines Dads und Christiane kam ich nicht zu ihrer Hochzeit, was ich noch heute bedauere.
Mein Studium war inzwischen beendet und ich wurde immer öfter gefragt ob ich mich nicht taufen lassen wollte. Irgendwann war ich mir sicher mein Leben ganz in Jehovas Hände geben zu wollen und äußerte meinen Wunsch mich taufen zu lassen. Mit mir wurden dann die 120 Fragen besprochen und alles schien gut zu laufen.
Tja und dann der Schock: ich wurde nicht zur Taufe zugelassen!!
Ich war nicht genug Stunden im Dienst von Haus zu Haus unterwegs, ich gab in der Versammlung keine Kommentare, ich las die Zeitschriften nur unregelmäßg und mein persönliches Studium lies auch zu wünschen übrig. Ich war 16 Jahre alt.
In dem nächsten Jahr strengte ich mich sehr an und nahm auch weiter 20 kg an Gewicht zu. Gleichzeitig entschied ich mich auch, wieder in die Nähe meines Vaters zu ziehen, um dort meine Ausbildung zu machen. Ich bekam eine Stelle als Krankenschwester und einen Platz im Wohnheim. Entgegen jedem Rat wollte ich diesen Beruf lernen.
Ich stellte erneut den Antrag zur Taufe und wurde auch zugelassen. Glücklich war ich, endlich hatte ich mein Ziel erreicht.
Es war mir wichtig meinen Paps bei meiner Taufe dabei zu haben und er verwehrte mir diesen Wunsch nicht. Wie schwer muss es für ihn gewesen sein, mit anzusehen wie sich seine Tochter dieser Sekte hingab. Zeugen Jehovas waren für ihn eine Sekte die ihre Anhänger von der Wirklichkeit fernhalten, die mit Gehirnwäsche arbeiten.
Ich konnte seine Gedanken damals nicht verstehen. Ich war frei, frei in meinem Denken meinem Handeln frei in allem, dachte ich.
Mein Auszug zu Hause war schrecklich. Mein Gewissen plagte mich. Wer kümmert sich um Mama, um meine Brüder?
In meiner Ausbildung lief alles sehr gut, aber es sollte noch 'mal sehr schwer werden.
Ich gehörte zu der Versammlung, in der meine Mutter ausgeschlossen wurde. Ich hatte noch keinen Führerschein und war auf die Brüder angewiesen um zur Versammlung zu kommen. Man kümmerte sich darum - bis zu dem Tag, an dem ich Auto und Führerschein besaß. Von da an musste man sich endlich keine Gedanken mehr um mich machen. Ich wurde völlig uninteressant. Niemand war bereit mit mir in den Dienst zu gehen, angeblich waren sie schon für die nächsten 3 Monate ausgebucht. Wie soll ich denn Jehova dienen wenn man mich nicht lässt. Ich ließ mich nicht abhalten. Ich bekam ein Gebiet und ging eben alleine von Haus zu Haus. Überwindung hat es mich gekostet, aber ich wusste Jehova lässt mich durch seine Engel beschützen. Diese Versammlung war ein Verein für sich. Später einmal schrieb ich auch wegen diesen Kleinstaates an die Dienstabteilung in Selters. Ich musste doch etwas unternehmen! Die handelten nicht nach den Gesetzen Jehovas, die hatten ihre eigenen. Selters meinte nur, ich solle nicht vergessen: "Älteste sind hart arbeitende Männer im Werke des Herrn und sind doppelter Ehre würdig" Außerdem solle ich mir überlegen, ob ich den nötigen Respekt habe.
Später erfuhr ich das in dieser Versammlung Brüder sitzen die sehr spendabel sind!
Durch diesen Brief brach etwas in mir, aber ich versuchte, es zu kitten. Ich quälte mich mit dem Gedanken nicht genug für Jehova zu tun und befürchtete auch die Reaktionen der Ältesten. Ich war ja nun mehr oder weniger ein schwarzes Schaf. Also fälschte ich Monat für Monat meinen Monatsbericht.
Aber einmal, ja einmal habe ich es geschafft Hilfspionier zu sein. Ich hatte 15 Tage Zeit die Stunden zusammen zu bekommen. Eigentlich nur 12 Tage denn zu der Zeit war noch der Bezirkskongress. Ich glaubte noch nie ein so befriedigendes Gefühl erlebt zu haben. Ich schwebte auf Wolke sieben.
In den drei Jahren meiner Ausbildung wurde meine Mutter wegen Ehebruch mit einem noch verheiratetem Bruder ausgeschlossen. Sebastian zog wegen der unmöglichen Behandlung durch den Mann meiner Mutter zu unserem Vater. Ich war bereit das Sorgerecht für David zu erkämpfen aber das wäre damals nicht vernünftig gewesen, denn David wurde von ihm nicht besser behandelt.
In der Zeit stand ich voll und ganz hinter meiner Mutter, trotz ihres Gemeinschaftsentzugs.Ich versuchte zu retten was zu retten war, nicht zuletzt im Interesse meines kleinen Bruders.
Während meiner Ausbildung habe ich von einem ganz lieben Ehepaar aus der Versammlung eine frei stehende Wohnung beziehen dürfen, denn im Wohnheim herrschte Sodom und Gomorra!
Dieser Schwester habe ich viel zu verdanken, sie brachte mir sehr viel Liebe entgegen und stand mir immer zur Seite.
Später wurde meine Mutter und ihr Mann wieder in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufgenommen.
Meine Ausbildung war vorbei, ich war so selbständig und wurde jeden Tag ein wenig mehr Selbstbewusster. Ich lernte eine neue Versammlung kennen und ging nur noch dahin, weil ich so herzlich aufgenommen wurde. Mir wurde später nahe gelegt, den Wohnort zu wechseln wenn ich weiter in die neue Versammlung gehen wollte. Ich bin bis dahin dreimal in der Woche 120 km eine Tour gefahren. Nur um mich wohlzufühlen.
Also bereitete ich alles vor, schrieb Bewerbungen und suchte mir eine Wohnung.
1999 stand mein beruflicher Wechsel an und ich musste von sehr lieb gewonnen Kollegen Abschied nehmen. Ich gab eine Party(!) und alle die wichtig waren, kamen auch. An diesem Abend, mit 22, durfte ich zum ersten mal erfahren wie schön es sein kann richtig geliebt zu werden. Dieses Erlebnis brannte sich mir tief ein. Später hatte ich mit diesem Kollegen noch viele Gespräche auch über meine Religion. Ihm habe ich es zu verdanken das ich anfing nachzudenken.
Ich zog um, ging immer weniger in die Versammlung dachte aber noch immer, ich müsse mehr tun für Jehova. So fing ich an spanisch zu lernen, um möglicherweise im ausländischem Gebiet tätig zu sein. Ich überlegt und überlegte, ob ich meinen neuen Kollegen überhaupt erzählen soll das ich eine Zeugin Jehovas bin. Ich sagte nichts und mogelte mich so durch. Weihnachten stand vor der Tür und ich ging mit zum Essen von der Station und habe an diesem Abend das erstemal den Mut gehabt vor Publikum zu singen. Ich hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen!
So nach und nach ließ ich alles schleifen. Ich dachte immer mehr darüber nach ob ich dieses ganze Drumherum, um meinen Gott noch mitmachen will. Ist es denn wirklich nötig? In den Dienst ging ich nicht mehr, ich studierte auch nicht mehr. Aber meinen Bericht habe ich jeden Monat abgegeben.
Dann der Wendepunkt!
Am 19.12.99 lernte ich meinen Freund kennen und lieben. Es war Wahnsinn.
Von heute auf morgen waren wir ein Paar.
Was nun?
Es kam der Zeitpunkt an dem ich meiner Mutter von Daniel erzählte. Ich war so glücklich und ich habe mir gewünscht das sie sich mit mir freut. Aber: "Kind, ruinier nicht dein Leben, mach nicht den selben Fehler wie ich, erhalte dich rein vor der Ehe", usw. usw.
Wenn wir miteinander sprachen dann weinte sie. Wenn wir uns sahen hatte sie verheulte Augen.
Daniel hatte für uns zur Jahrtausendwende ein Hotel in München gebucht.
Das erzählte ich Mama auch - das hätte ich besser gelassen. Ihre einzigste Sorge war das ich Sex vor der Ehe haben könnte. Etwas anderes interessierte sie nicht mehr. Daniel und ich zogen nach 4 Wochen zusammen.
Mein Dad sprach mit mir weil ihn interessierte wie ich die Zeugen und Daniel unter einen Hut bringen würde. Er bot mir seine Hilfe an. So kam ich an die Adresse von einem Sektenbeauftragten . Kurze Zeit später trafen wir uns und er zeigte mir Dinge von der WT-Gesellschaft, so das ich bald zu tiefst erschüttert war. In den 3 Stunden brach mein ganzes Glaubensgebäude zusammen. Er berichtete z.B. vom Jahr 607 v.u.Z. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dieses Datum anzuzweifeln. Er zeigte mir eine Bibelstelle die ganz klar erkennen lässt das dieses Datum falsch ist. Und was doch damit bei den Zeugen alles zusammenhängt!!
Das gibt es doch nicht. Wie ist so was möglich? Dies waren meine Gedanken. Ich war nur noch ein Häuflein Elend. Ich wurde schließlich krank geschrieben, weil ich nicht die nötige Konzentration in meinem Job aufbringen konnte. Es ist mir sogar ein grober Fehler unterlaufen, durch den der Patient hätte sterben können.
Ich wollte aber nicht zulassen, daran einzugehen. Ich wollte alles wissen, alles überprüfen was ich erfahren habe. Ich verschlang jede Literatur die ich bekam und sehr schnell wurde mir klar das ich nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun haben wollte.
Innerlich war ich völlig distanziert aber ich wagte noch nicht den Schritt es öffentlich zu machen.
Nur meiner Mutter schrieb ich einen Brief in dem ich ihr meine Auffassung darlegte.
Von da an war ich die böse Tochter, eine Satansanbeterin, eine böse Schwester die den kleinen David beeinflusst. Jeder Kontakt wurde zu mir abgebrochen. David durfte unter Strafandrohung keinen Kontakt zu mir aufnehmen. Auch für ihn wurde es schlimm, denn er wurde öfters geschlagen und bestraft wenn er sich nicht theokratisch verhielt.
Ich schaltete das Jugendamt ein, weil der Kleine da raus wollte. In der Zeit dachte ich nicht an mein Weiterkommen, erst 'mal der Kleine. So konnte ich erwirken das David bereits mit 13 Jahren Religionsfreiheit ausüben durfte. Heute versuchen wir für David in meiner Nähe eine Pflegefamilie zu finden.
Es gibt in meinem Umfeld ein paar sehr wichtige Menschen die mir wahnsinnig viel geholfen haben, all dies durchzustehen und die richtigen Schritte zu machen. Anfang Mai 2000 habe ich eine Brief an die Ältesten meiner Versammlung geschrieben und bekannt gegeben das ich mich zurückziehe. Ich muss sagen, seit ich diesen Brief los geworden bin, bin ich ein anderer Mensch. Wieso anders?
Ich habe kaum noch Angst einem der Brüder zu begegnen, ich kann alleine in meiner Stadt einkaufen gehen, ich fühle mich frei.
An dieser Stelle möchte ich all denen danken die so zu mir standen. Sehr viel mussten sie mit mir aushalten.
Wie mein religiöses Leben weiter verlaufen wird weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher das ein liebevoller Schöpfer auf mich achtet und mir helfen wird weiter meinen Weg so gut ich kann zu gehen.