Hallo! Ich habe lange überlegt, ob ich meine Geschichte mal aufschreibe und vor allem ob ich sie veröffentlichen soll.
Klar, meine Geschichte ist nichts im Gegensatz zu anderen, die ich hier schon gelesen habe. Aber ich hoffe, ihr verzeiht mir, ich bin mal egoistisch. Ich habe bemerkt, es hilft mir, es nieder zu schreiben und damit, dass ich es hier veröffentliche, möchte ich auch gewissermaßen mit einem Teil meiner Vergangenheit abschließen.
Früher dachte ich immer ich hatte eine ganz normale Kindheit erst jetzt mit einigem Abstand bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Klar für mich war es ganz normal kein Weihnachten zu feiern, regelmäßig meinen Geburtstag sogar zu vergessen, bis zur Schule keine richtigen Freunde außerhalb der Versammlung zu haben. Da aber in unserer Versammlung kaum Kinder in meinem Alter waren, spielte ich auf Spielplätzen schon mit anderen Kindern. Natürlich gab es schon mal einen Klaps auf den Hintern oder auf die Finger, wenn ich in der Versammlung nicht still saß oder wieder mal meinen vorlauten Mund nicht halten konnte, das empfand ich als Kind aber gar nicht als so schlimm, weil ich hatte es ja verdient, wenn ich nicht auf meine Eltern gehört hatte und Jehova wollte das so. Alles in allem war meine frühe Kindheit also sehr harmonisch, ich war ein aufgewecktes fröhliches Kind, zum Leidwesen meiner Eltern auch sehr lebhaft und vertrauensselig (mich konnte jeder mitnehmen, auch auf offener Straße ging ich schon mal mit fremden Menschen mit).
Dann kam die Schule. Rein lerntechnisch für mich nicht schlimm, ich ging sehr gerne zur Schule. Aber jetzt merkte ich das erste Mal, dass ich anders war. Zu Weihnachten durfte ich nicht basteln was die anderen bastelten, ich durfte nicht die schönen bunten Türen des Adventskalenders öffnen, aber was noch viel schlimmer war ich musste das auch noch meiner Lehrerin erklären, Dinge die ich selber nie verstanden habe musste ich ihr herunter beten immer und immer wieder und dann auch noch sagen, dass ich das so haben will. Ja so lernt man auch lügen. Nebenbei bemerkt: ein anderes Kind aus meiner Klasse, die Eltern ebenfalls Zeugen Jehovas, durfte alles mitmachen. Erkläre das mal anderen Menschen, warum das eine Kind mitmachen darf und das andere nicht.
Viel schlimmer aber war für mich, dass ich nicht so viel Kontakt mit meinen Mitschülern haben durfte, und wenn welche zu mir kamen, bekamen sie auch das Geschichtenbuch vorgelegt, weil ich musste doch die Menschen retten die mir am Herzen lagen. Ich frage mich heute, ob es wirklich gesund für ein Kind ist schon in jungen Jahren ständig mit Tod, Leid und Angst konfrontiert zu sein. Ständig habe ich mir überlegt, wie ich denn die lieben Menschen in meiner Umgebung retten könnte, die ja nicht einmal wissen, dass sie bald sterben müssten.
Aber auch mein Daheim konnte ich jetzt mit anderen Familien vergleichen. Ich hörte von keinem andern Kind, dass es mal eine Abgefangen hat oder den Hintern auch mal mit dem Kochlöffel versohlt bekommen hätte. Ok ich war nicht das bravste Kind und so manches Verbot habe ich einfach nicht verstehen können, warum ich sie nicht tun sollte. Wurde ich mal nicht erwischt, bekam ich die aller schlimmsten Schuldgefühle. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich meine erste Geburtstagstorte in der Schule aß und mir nachher vor lauter Schuldgefühle richtig schlecht wurde bis ich diese „böse“ Torte wieder los war.
Schon damals zog ich mich oft zurück in meine Traumwelt in der alles anders war. Wir waren keine Zeugen Jehovas und ich war wie alle anderen Kinder.
Und dann kamen die zwei Jahre die mich nachhaltig geprägt haben. Ich kam nicht gleich ins Gymnasium, sondern in die so genannte Mittelschule. Und dort lernte ich, was es für ein Kind heißen kann, Zeuge Jehovas zu sein. Meine Mitschüler zeigten mir sehr deutlich, dass ich anders war. Ich wurde verprügelt, aufs Ärgste gehänselt und ich verteidigte auch noch meinen Glauben. Zu Hause erklärte man mir ja auch noch, ich müsste stolz darauf sein, dass ich nun Jehova beweisen könnte wie sehr ich ihn liebe. Meine männlichen Mitschüler kamen immer wieder auf neue Ideen mich zu quälen, bis ja bis zu diesem unheilvollen Tag, an dem ich lernte, dass es immer schlimmer kommen konnte. Ich lernte wie grausam ein Bursche zu einem Mädchen sein kann und wie weh sie einem tun könnten und auch noch Spaß dabei haben. Ich erzählte lange zeit niemanden davon, warum sollte ich auch, die Lehrer und der Direktor glaubten mir ja schon die Schläge nicht, trotz der sichtbaren blauen Flecken, warum sollten sie mir dann das andere glauben.
Da ich mich immer mehr zurückzog, ging meine Mutter schließlich - gegen den Rat in der Versammlung - mit mir zum Schulpsychologen. Wegen akuter Selbstmordgefahr durfte ich dann endlich die Schule wechseln. Nur vergessen konnte ich das Erlebte nicht, ich versuchte mich mehr an den Glauben zu klammern, weil ich dachte ich wurde bestraft, weil ich nicht brav genug in der Versammlung mit geholfen hatte.
Mit 13 ließ ich mich Taufen, weil ich in der Verwandtschaft mitbekam wie viel Aufmerksamkeit man da bekam. Und siehe da es funktionierte, noch nie fühlte ich mich von meiner Familie so beachtet und vor allem geachtet. So war ich nicht mehr nur durch meine Verwandtschaft ein Vorbild sondern auch durch meine Taten ich war die Brave die alles machte was man ihr sagte und immer brav in den Dienst ging und zu jeder Zusammenkunft.
Nur wie es in mir aussah, bemerkte anscheinend keiner. Ich fühlte mich immer mehr deplaziert. Ich bekam Depressionen und Selbstmordgedanken. Keiner bemerkte es, denn nach Außen hin funktionierte ich und dachte, wenn ich brav bin und mehr bete geht das alles wieder weg und es geht mir wieder gut. Welch Wunder es hat sich nichts geändert im Gegenteil. Irgendwann fing ich an mich selbst zu verletzen. Der Schmerz in mir fand einen Weg heraus zu kommen. So schnitt ich immer tiefer und länger und fühlte mich besser. Ein Lehrer von mir bemerkte meinen Kampf mit mir selbst und half mir wirklich. Er hörte mir zu und begann durch viele Fragen und Gedankenanstöße mich zum nachdenken zu bewegen. Und siehe da: vieles an das ich bisher einfach geglaubt hatte, weil ich nie etwas anderes gehört hatte, war gar nicht so logisch. Diese vielen und langen Gespräche legten den Grundstein für mein weiteres Leben. Da sich die Wege leider trennten, wird dieser Lehrer nie erfahren, wie viel er mir wirklich geholfen hat und das er mir vielleicht so gar das Leben gerettet hat.
Nach der Matura konnte ich mich tatsächlich durchsetzten und durfte zu studieren anfangen. Ich begann immer weniger ernsthaft hinter der Religion zu stehen, die Zweifel in mir nagten und ich ging nur noch alibihalber in den Predigtdienst. Und in den Versammlungen saß ich stundenlang und flüchtete mich in meine Phantasie.
Nur die Kraft zu gehen hatte ich nicht. Und dann besaß ein Ältester die Frechheit und wollte mir einreden, mein Studium zu verbieten da es mir in geistiger Hinsicht nicht gut tat. Da sagte ich endlich mal meine Meinung: „Alles würde ich machen aber mein Studium würde ich nie aufgegeben schon gar nicht für Jehova.“ Tja das war's mit dem Vorbild sein.
Nur wie sollte ich rauskommen, meine ganze Familie war eingeschlossen und ich wohnte noch daheim. Die Kraft von selber zu gehen hatte ich einfach nicht. So stellte ich meine Eltern auf eine allerletzte Probe. Ich ließ mich von ihnen erwischen, dass ich einen Freund hatte und wartete ab was passiert. Und was soll ich sagen, sie verpetzen mich doch tatsächlich. Beim Rechtskomitee ging ich dann noch mal durch die Hölle (ja was für eine Liebe herrscht doch unter den Zeugen Jehovas). Ich wurde über alle Details ausgefragt, was ich denn mit ihm gemacht hätte, wie und wie oft und ob es denn Spaß gemacht hätte. Nachdem ich wieder betont hatte, sicher nicht mein Studium zu beenden, wurde ich ausgeschlossen. Und obwohl ich aktiv darauf hingearbeitet hatte, ausgeschlossen zu werden, zogen mir die Konsequenzen den Boden unter den Füssen weg. Meine „Freunde“ ignorierten mich und auch die Familie, die nicht mit mir in einem Haushalt lebte, schränkte den Kontakt sehr ein.
Ich hielt es kaum noch Daheim aus. Ich mußte weiter mit in die Versammlung gehen, aber davor bis zu einer Stunde bei jedem Wetter spazieren gehen, da ich erst kurz vor Beginn hinein durfte, aber meine Familie zeitig dort sein wollte. Den Bezirkskongress verkraftete ich dann nicht mehr, am Samstag ging ich zum Donauinselfest und betrank mich das erste und einzige Mal in meinem Leben. Den Sonntag konnte ich mit genügend Restalkohol im Blut relativ gut überstehen. Dann ließ ich mich in keine Versammlung mehr zwingen. Wofür auch? Zurück wollte ich ja nicht mehr.
Da ich es Daheim unerträglich fand, zog ich nach nur drei Monaten mit meinem jetzigen Mann zusammen. Meinen Eltern teilte ich das eine Woche vor meinen Umzug mit und das war noch zu früh.
Jetzt haben wir kaum noch Kontakt. Meine Familie legt keinen Wert darauf. Nicht einmal zu meiner Hochzeit sind sie gekommen. Weshalb wir dann beschlossen haben auch in der Kirche zu heiraten, was wir meiner Familie zuliebe sonst nicht getan hätten.
Seitdem kommt vielleicht 1-2 mal im Monat ein Anruf meist wenn man etwas von mir braucht oder mir Vorhaltungen machen will.
Der einzige der sich wirklich meldet weil ich ihm abgehe ist mein kleiner Bruder.
Meine psychischen Probleme waren besser, sobald ich weg war von den Zeugen Jehovas, aber Wunderheilungen gibt es keine. Und auch heute gibt es gute und schlechte Tage, aber keine so extremen mehr. Mit dem Ritzen kann man nicht von Heute auf Morgen aufhören, aber ich schaffe es bisher, es nicht mehr zu machen.
Trotzdem empfinde ich meine Geschichte im Gegensatz zu vielen anderen, die ich hier gelesen habe, als sehr harmlos und habe mir lange überlegt, ob ich sie überhaupt schreiben soll. Aber ich wollte mir das alles einmal von der Seele schreiben und das ich es euch lesen lasse hilft mir beim Abschließen und das will ich endlich. Meine Vergangenheit hat mich geprägt, aber wer weiß wie mein Leben ohne die Zeugen Jehovas ausgesehen hätte. Das kann keiner sagen und vielleicht wäre es noch schlimmer gekommen, und ein „was wäre wenn“ gibt es nun einmal nicht.