Ja, es gibt schon zu viele von diesen Geschichten, welche die dramatischen Umstände schildern, was die Kindheit bei Zeugen Jehovas betrifft - zu viele deshalb, weil diese unschuldigen Kinder es eigentlich nie verdient haben, so erzogen zu werden.

Doch gibt es gerade ebenso zu wenige dieser Schicksalsberichte, denn nur wenn man anderen zeigt, dass es auch geht, aus dieser religiösen fundamentalistischen Gruppe auszusteigen - ja das es sogar berechtigte Gründe dafür gibt, eben kein Mitglied dieser „Religionsgemeinschaft“ mehr zu sein - nur dadurch kann man den anderen Mut machen sich für das richtige zu entscheiden.

Je mehr Stimmen rufen, umso mehr Gehör verschafft man sich. Es gilt die Öffentlichkeit darüber zu informieren, was sich hinter der Fassade der Zeugen Jehovas abspielt. Ich denke an die Tausende, die sich noch nicht getraut haben etwas zu hinterfragen oder überhaupt auf ihr Herz zu hören, die aber ähnliche Dinge erleben mussten wie ich - fasst Mut und erzählt eure Geschichte so wie ich hier es tue.

Geboren wurde ich 1974 in NRW in einer Zeugen Jehovas Familie. Ich bin das Dritte von sechs Kindern, welche alle biblischen Namen erhielten. Das einzige, worauf ich im nachhinein in religiöser Hinsicht auf meine Eltern stolz bin, ist, dass sie sich nicht von dem 1975 Trubel haben mitreißen lassen (und sich entschlossen noch ein Kind auf die Welt zu bringen, mich...), sondern sich wohl sagten, dass „nur Gott Tag und Stunde kennt“ - doch würde man sie fragen, ob sie glauben, dass Harmagedon nahe bevor steht, dann würden sie das wahrscheinlich bejahen.

Hinzu kam, dass mein Vater zu 90% cholerisch war, als er uns wegen Dingen zurechtwies. Ja, wir wurden verbal und körperlich misshandelt - mein Vater verstand darunter wohl „Erziehung“. In Wahrheit kenne ich keinen anderen Menschen mit noch weniger Einfühlungsvermögen wie ihn - ja, er war Ältester in unserer Versammlung. Er hielt Vorträge und leitete ein paar Jahre lang das Wachtturmstudium und „genoß“ noch andere Vorrechte denen er nachging, wie die Mithilfe bei Saalbauten. Wir gehörten zu den Kindern, denen man in den Zusammenkünften regelmäßig den Hintern versohlte - auch gab er wohl gerne Ohrfeigen. Er misshandelte uns oft, weil er stets hinter allem dämonische Geistermächte sah - so durften wir eine Zeit lang keine Disney Comics lesen, weil ja der Dagobert Duck (die reichste Ente der Welt) uns eine materialistische Lebensweise vermitteln könnte. Angst vor Dämonen begleitete unser Leben, dass man oft vor panischen Ängsten nachts nicht schlafen konnte. Schulische Leistungen litten darunter - in den Augen der Lehrer waren wir einfach viel zu liebe Kinder - von Selbstbewusstsein kaum eine Spur. Hänseleien in der Schule, das Übliche unter damaligen Zeugen-Jehovas-Kindern eben, doch man war ja dafür immerhin „kein Teil der Welt“ - solche „Verfolgungen“ galten als Bestätigung des Glaubens.

Natürlich hatten wir alle zusammen vorstudiert. Doch alles wurde erzwungen: Kinderstudium, Wachtturmstudium - das Versammlungsbuchstudium fand sogar jahrelang bei uns zu Hause statt - er sah als Vater darin nur die Pflicht, die er vermeintlich als von Gott kommend ansah, sich als „Richter über die eigenen Kinder“ zu stellen. Ja, die Wachttumartikel aus der damaligen Zeit machten aus einst liebevollen Eltern schlagwütige Zeitgenossen, die es genossen ihren „Dampf“ nun endlich „ablassen zu dürfen“, an uns Kindern. Die Mutter war zu gutgläubig, um das alles auch nur am Rande mitzubekommen.

Ja, ich hatte Angst vor meinen Vater - er verstand es, mich mit seinem Blick zum Schweigen zu bringen, wenn ich weinen musste - ich durfte noch nicht einmal weinen... Ich erinnere mich noch gut, als mein Vater mit uns Kindern zusammen studierte und eigentlich mehr strenge Urteilsreden abhielt, als gezielt unser Herz in der Liebe Jehovas zu erziehen - vielleicht frustrierte es ihn, dass die Liebe Jehovas nicht ein Teil von ihm war, wie hätte er sie da vermitteln können. Er hatte wohl Depressionen, aber wen wundert es, da er ja den vorgegebenen Maßstäben selber nicht nachkommen konnte.

Bei der Berufswahl hatten wir (bis auf die Jüngste) darauf geachtet, einen zu finden den man auch „in der neuen Ordnung“ nachgehen könne.

Tatsächlich bekamen wir oft Ohrfeigen, wobei er auch noch prahlte, so schnell zu sein, dass man noch nicht einmal seine Hand kommen sehen würde, welche er auf Hüfthöhe hielt, um diese mit voller Wucht in meinem Gesicht zu landen. Auch zeigte er mir seinen neuen Gürtel, wie schnell und geschmeidig er doch aus seinen Schnallen gleiten würde - so machte er uns mit seinem neuen Strafwerkzeug vertraut. Einmal, wie so oft, als er wiedermal seine Wut verbal und aktiv an mir ausließ, sagte er „Du liebst Jehova doch gar nicht“ und als ich dem etwas entgegnete, sagte er bloß „du lügst doch“. Oft dachte ich nach seinen Ausbrüchen an Selbstmord, setze manches mal das Messer an den Puls - ich war der Meinung „Nichts“ wert zu sein. Einmal sagte er dann auch noch zu mir, „schlag doch zurück - Feigling“ - er forderte mich direkt auf, gegen Jehovas Gebot „die Eltern zu ehren“ zu sündigen, was ich nie hätte tun können - am nächsten Morgen in der Versammlung konnten alle den Fleck an meinen Kinn sehen. Mein Vater überspielte dies allerdings mit übertriebener Freundlichkeit, gefragt hatte mich keiner woher der Fleck kam. Er schlug dann aber oft mit der flachen Hand auf den Bauch oder auf den Rücken, oft bis ich winselnd in der Ecke saß, wo er immer noch nicht aufhörte mich zu beschimpfen.

Wie kann ein solcher Mann Ältester sein, habe ich mich dann oft gefragt - dies fragte ich ihn während einer seiner Attacken. Er erwähnte „das wird immerhin vom heiligen Geist geleitet, den solltest du besser nicht anzweifeln“ - das ich noch jahrelang ein Zeuge Jehovas war ist unerklärbar, aber ich liebte Gott - wobei ich leider nicht behaupten kann, dass ich mich damals von Jehova geliebt gefühlt habe, obwohl im nachhinein glaube ich, dass er mir in einigen Situationen irgendwie geholfen hatte - wie so oft auch danach in meinen Leben.

Über manche Situationen bin ich im nachhinein im Bilde, über das warum und wieso - aber das Kind, dass ich hätte sein können, wird es niemals geben - mir wurde (mir ist klar das ich da kein Einzelfall bin) eine glückliche Kindheit verwehrt - ich weiß nicht wie sich das anfühlt, das Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit - meine Gefühle sind zu lange verschlossen ich tue dies sicherlich irgendwo innerlich, aber ich habe Angst mich mal einfach fallen zu lassen. Aber wen wundert es, nach dieser Geschichte? Ich weiß nicht wie man laut lacht oder wie man zeigt das man andere gern hat...

Stellt euch vor wie es wäre, wenn euer Vater verlangen würde vor euren kleinen Brüdern etwas vorzubeten weil es gerade das Thema im „Junge-Leute-Buch“ ist, und ich gerade da zufällig am Kinderzimmer vorbeikam und mein Vater sagte „Boas, komm mal rein. Bete mal mit uns.“ Da ich gerade schon wegen seinem aggressiven Befehlston eingeschüchtert war, sagte ich, ich wüßte nicht was ich jetzt beten sollte. Daraufhin wurde er nur noch zorniger und beschimpfte mich, was für einen schwachen Glauben ich doch hätte... Dabei sollte man doch nur zu Gott beten, wenn das Herz sich danach fühlt. Ich könnte euch noch leider sehr viele solcher Begebenheiten erzählen, wo mein Vater mir einprägte, das Gott nichts wirklich von mir will - ja das ich wertlos bin. Angefangen von gezwungenem Familienstudium bis hin zum erzwungenem Predigtdienst.

Doch ich persönlich liebte Jehova mehr, weswegen ich ihn nicht für meinen schlechten Vater verantwortlich machen wollte. Meine Liebe deckte in Wahrheit die Sünden meines Vaters zu. Doch eines Tage heiratete ich eine Schwester und ich zog von zu Hause aus. Relativ weit weit weg von meiner Geburtsstadt Dinsalken, in den Raum Düsseldorf. Wir besuchten weiterhin die Zusammenkünfte, wobei ich mich bemühte Dienstamtgehilfe zu werden, aber es hat nicht sollen sein. Ich war wohl zu verschlossen, zu ruhig für die Brüder Ältesten. Da meine Schwägerinnen nicht mehr in die Versammlung kamen, erwartete ich von meiner Frau den Kontakt mit ihnen zu reduzieren, was mir im nachhinein sehr sehr leid tut.

Meine ersten Zweifel kamen, als ich erfuhr, dass die Bibelforscher damals im 1.Weltkrieg mitkämpften. Bestätigt durch einen Ältesten aus der Versammlung und authentische Kopien von Zeitschriften aus damaliger Zeit. Unsere „Brüder“ damals dachten wohl in Wahrheit sich an Jesu Krieg zu beteiligen, vermischt mit den Gedanken sich ebenso wie das alte Israel, eigentlich das Kriegsvolk schlechthin, an Gottes Kriegen sich zu beteiligen. Wenn die Wachtturmgesellschaft zugeben würde, sich fälschlicherweise an diesem Krieg beteiligt zu haben, dann hätte ich wahrscheinlich bis heute kein Problem damit gehabt. Doch danach fielen mir die vielen Wachtturmzitate insbesondere auf, die eben behaupteten, dass Zeugen Jehovas sich in allen Kriegen stets neutral verhielten - diese Lüge konnte ich nicht weiter den Menschen zumuten, so dass ich nun begann alles zu hinterfragen, um wirklich die Bibel zu fragen.

Viele Punkte, wie sie schon größtenteils bekannt sind, fielen mir auf, wie in Wahrheit die Bibel an vielen Stellen zweckentfremdet wurde, nur um den eigenen Ideologien gerecht zu werden - was ich ebenso als falsch empfand.

So entfernten meine Frau und ich uns aus der Versammlung der Zeugen Jehovas - das ist nun schon gut 2 Jahre her. Wir haben nun selber Kinder, bei denen wir uns vorgenommen haben ihr Leben so schön wie möglich zu gestalten. Freunde und Verwandte, denen wir unseren Entschluss mitteilten, keine Zusammenkünfte mehr zu besuchen, haben vorsorglich den Kontakt mit uns aufgegeben, obwohl wir nicht ausgeschlossen sind - es gibt wohl Ausnahmen, welche für die Menschen sprechen, denen das egal ist.

Ich hoffe den Leser hier nicht allzusehr geschockt zu haben. Seht es als Dokumentation vergangener Tage eines Schicksals, welches sich hoffentlich nicht bei anderen wiederholt.