Nach einigem Lesen und den Erfahrungen, die hier auf der Seite gesammelt wurden, möchte ich Euch auch gerne meine Geschichte erzählen. Aus Neugier, ob Ihr Euch auch erkennt, und aus der Frage heraus, ob Ihr Tipps und Anregungen habt.

Ich bin in eine Familie der Zeugen Jehovas geboren worden. Wurde also im Glauben erzogen! Alle waren dabei: Mama, Papa, Opas, Omas, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen usw. Nie war ein prominenter Vertreter in unserer Familie oder jemand mit herausragenden Aktivitäten. Ein, zwei Onkels waren Diensamtgehilfen und ab und an führte jemand den Hilfspionierdienst durch. Alles in allem relativ angepasst.

Wir drei Kinder wurden zu den Zusammenkünften mitgeschleift. Unsere Kreativität wuchs. Mal war mir schlecht, dann hatte ich Bauchweh. Ich blieb auf dem Klo hocken und sagte, ich hätte Durchfall, bis die Zeit so knapp war (und meine Mama wütend), daß sie schließlich ohne mich fuhren. Als sie nach der Versammlung nach Hause kamen, erntete ich böse neidische Blicke meiner Schwestern und den Unmut meiner Mutter.

Einmal brachte ich es sogar fertig, daß ich mich übergeben musste. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe, aber es war sehr effektvoll und wirksam. Ich durfte zu Hause bleiben. Ansonsten ließ meine Mutter keine Entschuldigungen gelten und wir wurden auch mit dem Kopf unterm Arm mitgeschleift...

Aus der Zwangslage heraus, und um meine Mama glücklich zu machen, ließ ich mich in die Predigtdienstschule eintragen und wurde bald ungetaufter Verkündiger.

Seit der Grundschule war ich natürlich das Gespött der Massen und war beliebtes Zielobjekt für Hänseleien und Prügeleien jeglicher Art. Ich durfte an Nichts teilnehmen, was Spaß machte. Klassenfahrten, Feiern usw. Was meinen sozialen Stand nicht gerade zuträglich war. Irgendwann nahmen meine Schwestern allen Mut zusammen und sagten unserer Mutter, sie würden nicht mehr mitgehen. Ich nutzte die Gunst der Stunde (12 Jahre) und schloß mich ihnen an. Zwei Älteste besuchten uns, um mich wieder auf den richtigen Weg zu bringen, doch ich ließ mich nicht beirren! Da mein Vater seit jeher ein Heuchler war und ihm auch immer wieder was neues einfiel nicht mitzugehen, war meine Mutter immer allein unterwegs.

Innerlich fühlte ich tiefes Mitleid. Ich sah ihre traurigen Augen und mir brach jedesmal das Herz. In der neu gewonnenen Freiheit fand ich bald Anschluss und Freunde und blühte auf. Kurze Zeit nach diesen Ereignissen trennten sich meine Eltern. Ich zog mit Mama und meinen Schwestern von meinem Vater weg und Mama hielt sich bei den Zeugen Jehovas bei der Stange.

Nach einiger Zeit - ich war 14 - schrieb ich aus meinem immer noch bestehenden Mitleid heraus meiner Mama einen Brief, daß ich wieder mitgehen möchte. Ihre Augen glänzten. Wir gingen gleich los und ich bekam neue „gute Kleidung“ für die Zusammenkünfte. Ich machte schnelle Fortschritte und war nach drei Monaten erneut ungetaufter Verkündiger. Ich studierte fleißig und bald darauf wurden mit mir die Fragen aus dem Organisiert-Buch besprochen, so daß ich mich weitere 6 Monate später mit 15 Jahren in Trappenkamp taufen ließ. Jetzt war ich der Held. Schnell bekam ich mehr „Verantwortung“ in der Versammlung und war mehrmals Hilfspionier. Mein „Lieblingsältester“ und „Freund“ erzählte mir beim Predigtdienst, daß ich im Gespräch zum Dienstamtgehilfen mit genannt wurde, ich aber noch zu wenig integriert war, um für die Herde als Vorbild zu dienen. Also strengte ich mich noch mehr an.

Ich bewarb mich um den allgemeinen Pionierdienst. Insgeheim kamen aber erste Zweifel in mir auf. Kurz darauf wurde ich ernannt. Die ganze Versammmlung freute sich über mich (meine Zweifel wuchsen). Kam es nur darauf an, daß ich was darstelle, was ich eigentlich gar nicht wollte, um anerkannt zu werden? Unser Kreisaufseher rief mich an und ich sollte auf dem Kreiskongreß auf der Bühne von mir erzählen - als Balsam für die Gemeinde. Vom Weltmenschen zum Pionier - Der Wahnsinn. Ein bisschen Stolz war ich schon, aber war es richtig?

Ich hasste den Dienst von Tür-zu-Tür. Ich schleppte mich täglich in die mir selbst aufgezwungene 90 Stunden Hölle. Jedesmal, wenn ich jemanden Bekannten traf (von früher aus meiner neugewonnenen Freiheit), guckte ich zu Boden, musste mir schnell den Schuh zubinden in der Hoffnung nicht erkannt zu werden, oder kramte in meiner Tasche, um denjenigen nicht in die Augen sehen zu müssen. Ich schämte mich.

Ich bekam zu meinen Zweifeln erste Depressionen. War es das Wert? Mir wurde geraten, mehr zu Studieren. Jehova hilft dir damit fertig zu werden! Ja, hat er! Danke nochmal!

Irgendwann lernte meine Mama einen neuen Mann kennen (aus der Welt) uns ließ sich ausschließen. Die Versammlung tröstete mich. Es war ja absehbar und alle wussten, daß da ja was nicht stimmte. Schon länger! Und eigentlich sei meine Mutter nie wirklich ernsthaft dabei gewesen und man hätte so was schon geahnt! Elende Bande!

Meine Depressionen und Zweifel (auch an mir) wuchsen und ich wurde ernsthaft krank - physisch und psychisch. Ich nahm in drei Monaten 25 Kilo ab und alles gipfelte in einer ausgewachsenen Depression. Ich ging zu meinem „Lieblingältesten“ und erklärte ihm meine Lage, und daß ich den Pionierdienst nicht mehr schaffte. Er ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel. Redete mir Schuldgefühle ein und erklärte mir, er sei mehr als tief enttäuscht. Das war genau das, was ich brauchte. Noch mehr Müll und Schuld auf meine angegriffene Seele. Er mied mich seitdem!

Letztendlich kam ich in eine Psychosomatische Klinik für drei Monate und man diagnostizierte eine affektive bipolare Störung. Im Volksmund: manisch depressiv. Meine Welt lag in Trümmern. Letzten Endes bekam ich keine Hilfe von meinen vermeintlichen Brüdern und fand Hilfe in der bösen Welt. Heute geht es mir ganz gut auch wenn die Krankheit nach wie vor da ist. Meine „Welt-Freunde“ helfen mir und sind da, wenn es mir schlecht geht. War es das Wert, all die Jahre?

Heute weiß ich: Nein war es nicht.

Ich würde mich über Resonanz freuen. Wenn es euch ähnlich geht bzw. gegangen ist. Wie geht Ihr damit um? Ich danke für's Lesen!