Ich traue mich eigentlich nicht wirklich, meine Geschichte hier zu posten. Aber anlässlich meines 10-jährigen Jubiläums als Nicht-mehr-Eingeschlossene, habe ich mir genau das vorgenommen. Also wage ich's:

Ich wuchs im Nord-Osten Deutschlands als einzige Tochter eines atheistisch-humanistisch gebildeten Vaters und einer sehr liebevollen, emanzipierten Mutter auf. Ich war gut in der Schule und eher ein einzelgängerisches Wesen und als Teenager schon irgendwie auf der Suche nach dem sprichwörtlichen Sinn des Lebens. Ich schmökerte ab und zu in der Bibel rum, und sympathisierte mit einigen nicht-christlichen Religionen. Allerdings nicht sehr ernsthaft. Ich war einfach neugierig und wohl auch sehr naiv...

Mit fast 20 musste ich verletzungsbedingt eine Ausbildung abbrechen und zog vorübergehend wieder bei den Eltern ein, während ich mich auskurierte. Dementsprechend war ich unmäßig gelangweilt und dankbar für jede Ablenkung, als eines Tages die Zeugen vor unserer Tür standen. Also hörte ich aufmerksam zu und nahm gern was zum Lesen. Aus mir damals unverständlichen Gründen ließen die penetranten Besucher sich auch nicht abwimmeln, nachdem ich viermal keine Zeit hatte und sie nicht herein ließ. Und dann brachten sie ein Kind mit, und ich schaffte es nicht, sie wegzuschicken. Wir unterhielten uns tatsächlich länger. Auf jedes Argument bekam ich eine höfliche, scheinbar zustimmende Antwort und einen Bibeltext. Ich war beeindruckt und wirklich interessiert.

Bald besuchte ich jede Zusammenkunft, bereitete mich vor und begann nach kurzer Zeit mit dem Predigtdienst. Ein Jahr später war ich getauft. Alles erschien mir logisch. Der Wachtturm, so simpel er auch formuliert war, behielt in jedem meiner inneren Konflikte recht. Machmal zähneknirschend passte ich mich mehr und mehr an und gab mich mehr und mehr auf, um dazuzugehören. Das perfekt durchgezogene Love-Bombing und die dauergrinsende, scheinbar ehrliche Linientreue so vieler waren mit ausschlaggebend. Ich klammerte ich mich an den Gedanken: "die können sich doch nicht ALLE irren, also muss ICH falsch liegen."

Ich heiratete einen "reifen Christen" den ich eigentlich nicht wirklich gut kannte. Wir versuchten zusammenzupassen, stellten aber immer öfter fest, dass uns ausser dem Glauben nichts verband. Und selbst da gerieten wir aneinander, weil immer einer zu negativ, unpünktlich oder nicht gesellig genug war. Ich entwickelte nach und nach Essstörungen, Depressionen, begann mich selbst zu verletzen und suchte schließlich professionelle Hilfe. Nach nur 5 Jahren "Ehe" (und 3 Jahren Therapie) ging gar nichts mehr. Ich schlug ihm eine Trennung vor, was er selbstverständlich ablehnte. "Das dürfen wir nicht!" Ich bat die Ältesten um Hilfe... und ER bekam mehrere Hirtenbesuche (der arme Kerl!). Ich habe mich noch nie vorher so machtlos und gedemütigt gefühlt. Mit mir wollte keiner so richtig reden. Klar gab es auch für mich ein paar einleitende Worte - und den Hinweis, ich möge die Sache mit meinem Haupt klären. Als er mir eine Wohngemeinschaft als Lösung vorschlug und ich schließlich auszog, wurden wir bezeichnet gehalten. Und schlagartig war Schluss mit dem Dauergrinsen und der sinnlosen Drückerei. Ich war verletzt und einsam. Ich hatte Hilfe gesucht und Strafe erhalten.

Alles was ich noch wollte, war ein sauberer Schlussstrich, um neu anzufangen. Aber das war gar nicht so einfach. Ich glaubte nach wie vor an die Wachturm-Lehren und fühlte mich schuldig. Andererseits sah ich keinen echten Ausweg... und so zog ich mich langsam zurück.

Ungeplant und unerwartet - wie das Leben halt so spielt manchmal - unterhielt ich mich öfter mit einem netten jungen Mann, dessen Familie ich aus der Versammlung kannte, der selbst aber nie getauft worden war und sich schon lange aus der "Theokratie" verabschiedet hatte. Zuerst merkte ich gar nicht, dass da etwas funkte. Durfte ja nicht. Tat es aber. Wir sprachen über alles Mögliche und ich begann, Freiheit zu schnuppern. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass wir einander gebraucht haben, um uns am anderen aus der Sekte zu ziehen und dabei zusammengewachsen sind.

Als sich also etwas zu entwickeln begann, kontaktierte ich meinen Buchstudienleiter zwecks Rechtskommitee. Die erste Sitzung war recht kurz. Ich kam auch kaum zu Worte. Man forderte mich zur Umkehr auf und gab mir eine Woche Zeit. Ich traute mich nicht, zu sagen, dass ich gar nicht vor hatte umzukehren, sondern es genoss zu fühlen - nicht mit dem Körper, sondern einfach mit dem Herzen! Es erschien mir grausam, ein zartes Gefühlchen zu töten, weil es nicht den Regeln entsprach. Das sagte ich ihnen dann im zweiten Gespräch. Ich werde nie vergessen, wie der VA (Vorsitzführende Aufseher) mich anwütete: "Ist dir nicht klar, dass du sterben wirst!?" und ich ihn fragte, ob er wirklich Gehorsam aus Angst erwartete. Sie waren angewidert, enttäuscht und sagten mir zum Abschied, dass meine Gebete ab sofort nicht mehr gehört würden, falls ich aber irgendwann bereute, wüsste ich ja, wohin. Ich nickte und ging, während sie nochmal beteten. Auf dem Weg nach Hause habe ich geheult, und ich hätte gern gebetet, traute mich aber nicht mehr. Ich dachte immerzu nur: "Jetzt bist du tot, jetzt bist du tot..." und erwartete buchstäblich, dass mich der Blitz trifft.

Als im Jahr darauf unser erster Sohn geboren wurde, saß ich oft am Bettchen, während er schlief und achtete auf seinen Atem... aus Angst, Jehova könnte mich bestrafen und ihn mir wegnehmen. Das Gefühl blieb lange! Als er fast zwei Jahre alt war, hatte ich einen wirklichen Rückfall. Ich dachte ernsthaft darüber nach, wieder umzukehren. Aus purer Angst und wider besseren Wissens. Das führte immerhin dazu, dass wir heirateten – auch das wider besseren Wissens.

Wir haben jetzt zwei wunderbare Kinder, auf die wir sehr stolz sind und eine richtig gute Freundschaft. Und das ist auch gut so. Jetzt nach zehn Jahren bin ich wirklich wieder ich und frei genug, ohne Zorn oder Reue zurückzublicken.