Ich wuchs in einer typischen Familie von Jehovas Zeugen auf. Mein Vater wurde in jungen Jahren von einem Zeugen, nachdem er, 1978 aus der DDR flüchtend, in Braunschweig Fuß gefasst hatte, belehrt.

Er nahm die Lehren der Zeugen sehr ernst, und nahm, nachdem er seine Tätigkeit als Schweißer ausgeübt hatte, rege am Predigtdienst teil. Er ging von Haus zu Haus, stand bei Wind und Wetter in einer Einkaufsstraße, und ging mit den Ältesten mit, wenn sie ihn darum baten.

Eine „Bitte“ der Ältesten war für ihn ein Befehl, und so ließ er alles stehen und liegen, wenn sie ihn riefen. Deswegen hatte er auch seine Arbeit verloren! „Jehova wird dich deswegen segnen“, sagten sie ihm. Aber geholfen, eine Arbeit zu finden, oder ihn finanziell unter die Arme zu greifen, das konnten sie nicht!

Mein Vater fand nach langem Suchen eine neue Arbeit, und wurde Dienstamtgehilfe. Er war zuständig für das Aufstellen des Mikrophons und war stolz wie Oskar, das er „Jehova Gott“ dienen durfte. Auch Jahre später, nannte er diese Zeit, als eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens!

Einer Tages kam eine junge Schwester, die aus Bremen nach Braunschweig gezogen war, in die Versammlung. Sie fand meinen Vater sehr attraktiv, und kurze Zeit später verliebte sie sich in ihn. Sie hieß Sarah V., und kam aus einer Zeugenfamilie, in der ihr Vater wie ein Patriarch über SEINE Familie herrschte. Sie hatte noch fünf Geschwister, die alle Zeugen waren.

In der Versammlung gab es noch Bruder M., der ebenfalls ein Auge auf meine spätere Mutter geworfen hatte. Ihm gefiel gar nicht, das sie so an meinem Vater interessiert war; und da er wusste, das er alles tat, worum die Ältesten ihn baten, bat er seinen Vater, einem Ältesten, ihm zu sagen, das „Schwester V. nicht gut genug für ihn sei“!

Er glaubte das, denn „Älteste lügen ja nicht“!

Bruder M. versuchte nun, nachdem sich mein Vater von meiner Mutter zurückzog, sie für sich zu gewinnen. Sogar „Jehova Gott“ spannte er dazu ein, in dem er sagte: „Jehova Gott will, das wir ein Paar werden!“

Glücklicherweise hörte meine Mutter auf ihr Herz mehr als auf die Versuche Bruder M., und so blieb sie standhaft, auch, als er ihr drohte, für ihren Ausschluss zu sorgen, wenn sie ihn nicht heiraten würde.

Irgendwie schaffte sie es, meinen Vater davon zu überzeugen, sie zu heiraten, und ein Jahr später (1980) wurde ich geboren.

Meine Eltern waren sehr liebevoll zu mir, obwohl sie sich sehr eng an die Erziehungslehren der Zeugen hielten. Jedoch waren sie nicht sehr streng in ihrer Durchsetzung.

Im Jahre 1987 erbte meine Mutter von einer entfernten Verwandten, die keine Zeugin war, ein Mietshaus. Kaum hatte sich das in der Versammlung herumgesprochen, kamen der Älteste, Bruder M. der Vater des Mannes, der meine Mutter zwingen wollte, ihn zu heiraten; und sagte meiner Mutter, das es in Jehovas Augen wohlgefällig wäre, wenn sie das Haus der Gesellschaft vermachen würde. Sie wollte es für mich als ihr Erbe und meine Sicherheit für mich behalten, aber als auch mein Vater ihr zuredete, übertrug sie das Haus auf die Gesellschaft. Bruder M. und mein Vater lobten sie für ihren „Glauben“. Hätte sie gewusst, wie sich die Ältesten zehn Jahre später verhalten haben, sie hätte dem nie zugestimmt!

Auch mein Vater erbte von einem Nichtzeugen einen kleinen Geldbetrag, den er umgehend, nachdem die Ältesten ihn im Anschluss an eine Versammlung darauf angesprochen hatten, der Gesellschaft „freiwillig“ spendete.

Jeden Monat gaben meine Eltern, immer wenn ein Aufruf der Versammlung an die Geschwister erging, von dem Geld was sie hatten, reichhaltig der Versammlung; oder sandten es direkt nach Bethel, von dem noch nie ein „Dankesbrief“ kam. Und ich glaube, sie hätten es auch nie erwartet!

Ich wuchs weiter auf, ging zur Schule, wo ich als Zeugin viele Probleme hatte, denn mein „Wachtturm- geschultes Gewissen“ hielt mich von allen Schulaktivitäten wie Wahlen, Weihnachtsfeier und Parties fern. Später, in der Pubertät, wurde ich eine kleine Rebellin, und so rauchte ich heimlich (was ja verboten war), hatte mit 14 meinen ersten Kuss, und mit 15 meinen ersten Sex. Ich wurde von einem Sohn eines Ältesten, der in meine Klasse ging, und der wie ein Spitzel an mir klebte, verraten, vor ein Ältestengericht geladen, und ausgeschlossen.

Meine Eltern hielten, getreu der Dogma der Zeugen, nur den nötigsten Kontakt zu mir. Ich weinte in dieser Zeit sehr viel, und meine Mutter, die meine Traurigkeit nicht mehr aushielt, umarmte mich, und behandelte mich zuhause wieder wie immer. Und auch mein Vater ließ mit der Zeit von seiner starren Haltung ab.

Mein Vater wurde krank, und ich und meine Mutter pflegten ihn. Niemand aus der Versammlung kam uns besuchen, geschweige denn, um zu helfen! Dann starb im September 1996 Schwester L., eine sehr wohlhabende Beamtenwitwe. Sie mochte mich schon als kleines Mädchen, und so vermachte sie mir ihren gesamten Schmuck, im heutigen Wert von etwa 57.000€. Ich freute mich sehr über dieses Geschenk, das ich eines Tages meiner Tochter schenken wollte.

Da ich noch nicht volljährig war, wurden meine Eltern als Vermögensverwalter vom Gericht bestimmt. Als die Geschwister aus der Versammlung davon erfuhren, meldeten sie es sofort den Ältesten, die umgehend unser Haus besuchten. Sie sagten meinen Eltern, das ich nicht soviel Schmuck haben sollte, denn „der wahre Schmuck einer Frau ist ihre Liebe zu Jehova Gott“! Meine Eltern gaben ihnen, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, die Schmuckstücke Schwester L., und die Ältesten gingen. Als ich davon erfuhr, wurde ich auf beide Eltern sehr wütend, was mein Vater zu der Bemerkung verleitete, das ich wohl noch zu sehr an irdischem Besitz hängen würde.

Ich wollte meine Eltern anzeigen, doch sie sagten, das, wenn ich das tun würde, ich „ihr Haus verlassen müsse“. Und so blieb ich, und schwieg. Wohin sollte ich auch gehen? Ich war minderjährig, ohne Geld und Schulabschluss oder Lehre, abhängig von der Gnade meiner Eltern.

Mein Vater wurde erneut krank.

Aber diesmal war es schlimmer! Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Er verlor seinen Job, und wir unseren Lebensunterhalt. Meine Mutter ging putzen, und ich half in den Ferien und am Wochenende in einem Supermarkt aus, wo ich Einkaufswagen zusammenstellte, beim einpacken half, und Waren auffüllte.

Viele Zeuginnen meiner Versammlung kamen. Aber keine fragte nach meinem Vater oder ob wir Hilfe gebrauchen konnten. Mein Vater, der inzwischen Arbeitslosenhilfe bekam, die gerade so zum überleben reichte, wurde von Ältesten gebeten, „so viel er könne“ zu spenden. Und mein Vater spendete von dem wenigen, was wir hatten! Von seinem Geld, dem Geld, das Mutter verdiente, und den paar Mark, die ich nach Hause brachte.

Im Gegenzug dazu hatte er die „Bestätigung“ der Ältesten und der Geschwister, das er „glaubensstark“ war. Hilfe bekamen wir von einem Bruder der Versammlung, der selbst auf der „Abschussliste“ der Ältesten stand. Bruder Rainer B. war ein Studierter, als er Zeuge wurde. Er war im 6. Semester seines Medizinstudiums, als zwei Zeugen an seine Tür klopften. Er ließ sie herein, und wurde zwei Jahre später getauft. Er hatte schon immer ein großes Problem mit der Einstellung der Geschwister, armen Zeugen gegenüber. Und er steckte uns, obwohl er selbst wenig Geld hatte (er musste sein Studium auf „Wunsch“ der Ältesten aufgeben), immer ein wenig zu, oder kaufte für meine Familie und mich ein.

Er war aber der Einzigste, der das tat, und ein halbes Jahr später, als er in einer Diskussion das Verhalten der Versammlung meinen Eltern gegenüber anprangerte; und all das anführte, was meine Eltern gegeben hatten, wurde er ausgeschlossen!

Mein Vater starb im Jahr 2000, meine Mutter folgte ihm einige Wochen später. Niemand von den Zeugen war bei der Beerdigungsfeier, die ich mit Hilfe eines Pastors der evangelischen Kirche organisierte. Es war in den Augen der Zeugen ja nicht in ihrem Sinne gewesen!

Ich verließ die Zeugen, und lebe nun bei Rainer B., in den ich mich verliebt hatte, und der meine Liebe erwiderte.

So also handelt die „Organisation Gottes“!

Sie nimmt alles von ihren Mitgliedern, blutet sie finanziell und emotional aus, aber wenn der einzelne Zeuge, die einzelne Zeugin etwas von ihnen haben will, und sei es nur das Lebensnotwendigste, dann werden sie zurückgestoßen!

Warum?

Weil sie dem „Kanal Gottes“ nicht mehr nützlich sind!

Weil sie in den Augen der anderen Zeugen „unnützer Ballast“ sind, der abgestoßen werden muss!

Weil sie nicht mehr „die Leistung bringen“, wenn sie arm, krank, oder alt sind, die diese „saubere“ Gesellschaft von ihnen erwartet!

Und die Mitglieder lassen alles mit sich machen, wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden! Sie geben ihr Geld, ihre Zeit und ihre Energien, im ehrlichen Glauben, etwas für Gott zu tun, und werden missbraucht!

Und dann, wenn sie vor den Scherben ihres Lebens stehen, merken sie, wie viel Geld sie dieser „Organisation“ in den Rachen geworfen haben, Geld und Wertgegenstände, die sie anderweitig viel besser genutzt haben könnten!

So kommt es, da die „Gesellschaft“ früher ihre Pioniere ja nicht rentenversichert hatte, oft dazu, das Zeugen von „weltlichen“ Organisationen abhängig sind, denn das „verkünden des Königreich Gottes ist ja viel wichtiger als Nächstenliebe“!

Aufgeschrieben nach Tonbandaufzeichnungen von Gerlinde Kenkel