Im Grunde dachte ich, ich käme alleine damit klar. Auf meiner rastlosen Suche merkte ich, dass ich nicht so alleine bin. Diese Suche dauerte allerdings acht Jahre.

Ich wurde 1968 in die Welt der Zeugen Jehovas hineingeboren. Dementsprechend verlief auch meine Prägung, durch die Erziehung die ich erhielt. Körperliche Züchtigung im Sinne des Herrn waren an der Tagesordnung. Beeindruckend in meinen jungen Jahren, soweit ich mich erinnern kann, war die Art und Weise wie Erziehung verstanden wurde.

Diese Eindrücke kann ich an einem sehr nahen Verwandten festmachen. Er war, genauso alt wie ich, als uneheliches Kind mit seiner Mutter, nachdem diese wieder in die Gemeinschaft integriert war, bei meinem Onkel aufgenommen worden. Meine gesamte Verwandtschaft mütterlicherseits gehörte schon damals den Zeugen Jehovas (ZJ) an.

Die Sache mit der Erziehung wurde innerhalb dieser Familie sehr ernst genommen. Die Ansichten der ZJ wurden wörtlich umgesetzt, so dass sie meiner heutigen Ansicht nach, schon der vorsätzlichen Körperverletzung ziemlich nahe kamen. Vor allem wurde ohne ersichtlichen Grund geprügelt, es brauchte nur ein falsches Wort zu fallen schon ging es los und endete meistens mit blauen Flecken. Auch meine Erziehung verlief ähnlich, wenn auch nicht in diesem Umfang.

So lernte ich, meine Eltern zu achten und respektieren, es blieb mir ja auch nichts anderes übrig.

Der weitere Verlauf meiner Kindheit verlief unter dem Eindruck der intensiven, gottgefälligen Erziehung, s. oben, und des persönlichen Studiums. Zur Verrichtung des göttlichen Auftrags konnte ich mich jedoch damals nur unter Androhung von Strafe durchringen.

Der erste Meilenstein in meinem damals noch jungen Leben, stellte die göttliche Prüfung in Form einer Erkrankung dar.

Im Alter von 11 Jahren bekam ich eine chronische Knochenmarkentzündung im Oberschenkel. In dieser Zeit kam der erste „Knacks“ in meiner Beziehung zu den Zeugen. Da diese Zeit, wie die weiteren 23 Jahre meines Lebens, von sehr langen Krankenhausaufenthalten und langwierigen, schweren Operationen geprägt war, dachte ich, das ich in den Augen der Versammlung etwas besonderes sei. Dieser Eindruck entstand gerade dadurch, dass sich meine Eltern immer, auch bei den heikelsten Operationen, beständig weigerten mir Blut geben zu lassen. Es interessierte aber niemanden. Kein Bruder, keine Schwester gab etwas darauf. Es war halt so von Gott gewollt. Schafft er es ist seine Gnade groß, schafft er es nicht, shit happens. Aber erfreulich war immer, zu wissen, dass sie mich in ihre Gebete einschlossen. Besuche, Gespräche? Nichts. Wenn es darum ging, meine Eltern im Kampf gegen die bösen Ärzte zu unterstützen, waren sie zur Stelle. Nur, mit mir hat niemand darüber geredet. So fügte ich mich dem jeweils unausweichlichen.

Die Jahre zogen ins Land, immer noch in der Hoffnung und dem festen Glauben, ließ ich mich auf Drängen meiner Freunde mit 18 taufen. Das musste so sein, um endlich als vollwertiges Mitglied in diesem Kreis zu gelten. Der Freundeskreis wuchs, der Kontakt zu der „Welt da draußen“ wurde immer geringer.

Es kam, wie die Ältesten immer warnten, wie es kommen musste. Die „Prüfung“ begann mit dem Tag meiner Taufe.

Die Prüfung war wunderschön, blond und süße 16. Wir wurden in der Pause des Kongresses, auf dem ich soeben mein Treuegelübde abgelegt hatte, einander vorgestellt.

Es war Liebe auf den ersten Blick!

Prüfung 1: Ihre Mutter war ausgeschlossen, geschieden und sie wohnte bei ihr.

Prüfung 2: Ich wollte (wir wollten) mehr...

Im Nachhinein war diese Entwicklung völlig logisch, bis dato hatte ich halt nur meine Freunde im Sinn, Mädels waren auch dabei, aber irgendwie nicht mit Absichten bedacht.

Jetzt griff die Psychologie der Zeugen. Da war was im Busch. Obacht und Vorschicht!

Die Vorgehensweise wiederholte sich ständig. Gesprächseröffnung mit vordergründigen Fragen. Hintergedanken hübsch in Bibelverse verpackt. Ich war blauäugig und tappte die ersten Male immer wieder in die Falle und zahlte einiges Lehrgeld. Wie geht es euch? Wo trefft ihr euch denn? Ist Dein Vorhaben mit ernsten Absichten begleitet? Die Spürhunde wurden auf uns angesetzt und es wurde bekannt, das ich häufiger bei ihr zu Hause war. Zu mir konnten wir nicht, da meine Mutter einen regelrechten Hass auf dieses Mädchen entwickelte. Erstens war sie noch nicht getauft, zweitens ihre Mutter war ausgeschlossen.

So wurden wir nahezu rund um die Uhr bewacht. Ihre Mutter war sehr verständnisvoll und legte jeweils schützend ihre Hand über uns und gab uns die Gelegenheit auch mal alleine zu sein. Was soll ich sagen, obwohl wir irgendwie immer bespitzelt wurden, hat es doch funktioniert, sorry guys.

Die Angelegenheit ließ den Ältesten überhaupt keine Ruhe und immer wieder waren da die Versuche, uns diese Beziehung zweideutig auszulegen. Sie wussten ja nicht, das da tatsächlich was war. Das größere Problem bestand für die Zeugen darin, das ich Gemeinschaft mit einer ausgeschlossenen Person pflegte.

Es folgten also intensive, persönliche Gespräche mit den Ältesten. Ich glaube in dieser Zeit hatte ich sie alle mal durch. Die Gespräche liefen immer gleich ab. Meistens abends, mindestens zwei bis drei Stunden. Gehirnwäsche mit dem Schwert, dem geistigen. Was habt ihr miteinander? Du sollst keine Frauen begehren, von denen Du nichts willst. Hattet ihr geschlechtliche Kontakte, wenn ja in welcher Form? Du sollst nicht lügen. Jehova sieht alles. Die gerechte Strafe wird Dich treffen, etc.

Solche Gespräche waren immer mit einer Weiterbehandlung zu Hause von meinen Eltern begleitet, die mir teilweise auch hinterherfuhren und den Ältesten immer von meinen „Vergehungen“ berichteten. Was sich jetzt so leichtfertig anhört, war zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht leicht.

Mein gut geschultes, christliches Gewissen schlug an. Nicht nur ein wenig, nein, mit voller Härte. Anstatt zu denken und zu wissen, das es sich bei dieser Beziehung um eine völlig normale Entwicklung handelt, die zum Leben dazugehört, fing ich an mir Vorwürfe zu machen. Immer wieder diese zermürbenden Gespräche mit dieser ausgefeilten psychologischen Taktik, in der Hoffnung dass ich aufgebe. Kurze Nächte, sprich mangelnder Schlaf, da ich zu diesem Zeitpunkt schon nachts um drei zur Arbeit musste und der ständige Stress mit meinen Eltern, die sich immer mehr zu meiner moralischen Instanz aufspielten, zehrten an meinen Nerven.

Es kam der Zweifel, ob ich meines Lebens überhaupt noch würdig bin. Immer wieder, immer tiefer. Es zeriss mich innerlich, mit wem sollte ich auch darüber sprechen? Meine Freundin hatte nicht das Verständnis dafür, sie wusste zwar das die Angelegenheit nicht richtig war, wie wir sie durchzogen, aber sie war ja auch noch nicht getauft. Die Blöße in der Gesellschaft wollte ich mir auch nicht geben. Einem Teil meiner Freunde wurde es zu heikel, sie zogen sich zurück. Ich glaube ich war schlechter Umgang für sie. Weiterhin wollte ich mit den Freunden, die mir blieben, auch nicht darüber reden, weil sie alles waren, was ich hatte. So dachte ich immer mehr darüber nach, wie es am günstigsten ist, meinem unwürdigen Leben ein Ende zu bereiten. Für das Problem das mich plagte, gab es nun mal nicht die Schublade in den Lehren der Wachtturm-Gesellschaft, die ich brauchte. Der Gedanke ausgeschlossen zu werden, war für mich unerträglich, lieber wollte ich sterben. In dieser Zeit verschlechterte sich mein Gesundheitszustand, so dass ich wieder in die Klinik musste. Alles war so, wie immer. Eine große Operation stand an. Ich ging davon aus, jetzt endlich Buße tun zu können und verhielt mich eigenständig in der Blutfrage standhaft. Meiner Meinung nach, war das die einzige Möglichkeit zu zeigen dass ich der Bezeichnung ZJ doch noch würdig bin. Eine Annahme, die mich fast das Leben kosten sollte. Ich verlor über die Hälfte meines Blutes. Meine Eltern versuchten immer wieder die Ärzte zu beeinflussen, sie sollten mir doch nahe legen zur Zeit keine Beziehung aufrecht zu erhalten. Ich bräuchte doch Ruhe und Zeit zur Genesung. Zum Glück waren die Ärzte nicht so blöd, auf diese Strategie hereinzufallen.

Von der Befreiung meiner Seelenqual merkte ich jedoch nichts. Ich dachte, das ist noch nicht genug Sühne, Du musst Dich stellen.

Ich wollte aber nicht ausgeschlossen werden, diese Vorstellung bereitete mir immer wieder Albträume. Also war ich immer noch unwürdig weiterzuleben. Blanke Angst bestieg mich, als meine Freundin mir offerierte, dass es gut möglich sei, dass sie schwanger ist.

Was danach passierte weiß ich bis heute nicht mehr richtig. Sie fanden mich am offenen Fenster des 7. Stockwerks in der Klinik. Später schob ich diesen Blackout auf meinen gesundheitlichen Zustand und die starken Medikamente.

Endlich war ich gar gekocht, ich gab auf. Nein, gestanden habe ich nichts. Ich bin einfach nur geflüchtet, indem ich die Beziehung abrupt beendete.

Ob sie tatsächlich schwanger war oder nicht, weiß ich bis heute nicht. Es wäre auch jetzt schwerlich möglich, da sie sich kurz darauf hat taufen lassen und bis heute immer noch bei den Zeugen ist.

Kaum war die Sache beendet, war ich wieder geliebtes Mitglied der Gemeinschaft, alle hatten mich lieb, so lange ich ihnen nach dem Mund redete und genau das tat, was von mir verlangt wurde. Es ging voran, ich war der Meister der Verstellung. Ich bekam verantwortungsvolle Aufgaben und mauserte mich zu einem gut geschulten Redner. Es ist ganz einfach, wenn man die Manipulation und den Umgang mit den Schriften erst mal verstanden hat. Ich wechselte in die Versammlung, in der mein bester Freund war, der mich durch diese schwere Zeit begleitet hat, ohne etwas von meinem Doppelspiel zu bemerken. Mit ihm habe ich mich immer sehr gut verstanden und konnte teilweise mal meine Qualen vergessen. Nun dienten wir gemeinsam und verstanden uns immer besser.

Die neue Versammlung bestand aus einer sehr elitären Gemeinschaft. Der größte Teil in ihr hatte es zu etwas gebracht. Das Niveau war hoch. Aber hinter den Kulissen waren sie eiskalt. Wer nicht in die Gemeinschaft passte wurde abserviert, abgeschoben, rausgeekelt. So hat sich dort die Elite der Schönen und Reichen herausgebildet. Zu den Besuchen der Kreisaufseher wurde immer schön Nächstenliebe geheuchelt, Brüder und Schwestern zum Essen eingeladen, die eigentlich nichts in dieser Versammlung zu suchen hatten. Kaum war er weg, alles beim Alten. Brüderliche Nächstenliebe? Keine Spur.

Ich war derjenige, der sich immer noch Gedanken über seine Vergangenheit machte. Die Kinder der Aufseher der Herde vögelten (sorry) wild in der Gegend rum, wurden danach eine kurze Zeit aus dem Verkehr gezogen, indem man sie kurzerhand in eine befreundete Versammlung schickte und nach kurzer Zeit war alles vergessen. Welche Heuchelei!

Es herrschte ein geschäftiges Treiben in der Gemeinschaft. Jeder bereicherte sich an den anderen. Kein Gefallen, der umsonst gewesen wäre. Man ist in solchen Situationen teilweise sehr betriebsblind. Ich habe es erst später gemerkt. Ich fühlte mich ja wohl, ich gehörte dazu.

In dieser Versammlung lernte ich dann auch meine Frau kennen, d.h. ich kannte sie schon lange, aber mein Interesse an ihr steigerte sich. Es war so, dass ich sie schon früher immer sehr attraktiv fand, ihre Mutter es aber verstand sie von mir fern zu halten. Mein schlechter Ruf eilte mir halt immer voraus. Der Versuch mich von meiner tadellosen, theokratischen Seite zu zeigen, zeitigte seinen Erfolg und wir kamen dann doch zusammen. Zugegebenermaßen war sie sehr schüchtern. Was das auf sich hatte, sollte ich erst viel später merken.

Nach kurzer Kennenlernphase drängten sie uns, ein Signal zu setzen, dass wir es tatsächlich ernst miteinander meinten. Nach einem halben Jahr verlobten wir uns, ohne uns wirklich kennen gelernt zu haben. Ein weiteres halbes Jahr später waren wir verheiratet.

Bevor es zu dieser Hochzeit kam, fing es schon wieder an, dieses Gewissen. Die Vergangenheit holte mich wieder ein. Wieder war da dieses Gefühl, nicht würdig zu sein, in Gottes Gemeinschaft zu leben, diesmal jedoch gepaart mit dem Gefühl und den Gedanken, meine Frau schon vor unserer Ehe betrogen zu haben und eine Zukunft auf Lügen aufzubauen. Jetzt hatte ich nicht mehr nur Angst meine Freunde zu verlieren, jetzt hatte ich auch Angst, dass meine zukünftige Frau und ich bloßgestellt werden. Ich war mir ja nicht sicher, ob meine damalige Freundin, wie schon einige Male vorher, Störfeuer aussendet. Meine größte Angst bestand darin, sie bei unserer Trauung zu sehen. Mein beharrliches Leugnen der Vergangenheit den Ältesten gegenüber, selbst in den Vorbereitungsgesprächen zu unserer Hochzeit schürten diese Gefühle noch. Wieder versuchte ich meine Fassade zu wahren und fraß die Gefühle in mich hinein. Andauernde, bohrende Fragen, auf Grund der Nachforschungen, die über mich geführt wurden. Es ist doch an der Zeit, sich noch mal vor diesem entscheidenden Schritt zu erleichtern und alles offen auf den Tisch zu legen. Ich würde doch nicht wollen, das meine Ehe unter einem „schlechten Stern“ stünde. Das Gewissen hämmerte, schlug auf mich ein, schrie immer wieder laut auf. Du belügst Gott, Du unwürdiger, Du bist stolz und aufgeblasen, gestehe, gestehe, gestehe. Du baust Deine Zukunft auf einer Lüge auf. Du bist das Papier nicht wert, auf dem Du stehst. Es schnürte mir die Luft ab, es brachte mich beinahe ein zweites Mal um. Unter diesen Voraussetzungen trat ich also den Weg in meine Ehe an.

Ein weiser Indianerhäuptling sagte einmal: “Das Gewissen ist ein Dreieck. Wenn es sich dreht, nutzt es sich ab und wird rund.“ Der Versuch das Gewissen zum Schweigen zu bringen funktionierte mal gut, mal weniger gut. In unserem Freundeskreis feierten wir, vergnügten uns, vergaßen die Welt um uns herum. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt zwar ein wenig verkleinert, aber die Personen, die da zusammengehörten gingen durch dick und dünn. Wir besuchten die Zusammenkünfte und verhielten uns vorbildlich. Zwischenzeitlich kamen unsere zwei Jungs zur Welt.

Allerdings kamen jetzt Dinge außerhalb der Gemeinschaft zu Tage, die alles andere als erfreulich waren. Es stellte sich heraus, dass wir beide der gesamten Situation nicht gewachsen waren.

Meine Frau litt unter schweren psychischen Problemen, deren Ursache in der Art und Weise ihrer christlichen Erziehung zu finden waren.

Sie hatte sich immer anzupassen, begehrte sie auf, wurde sie mit Nicht-Achtung oder anderen fragwürdigen Methoden bestraft, solange bis sie klein beigab und tat was man von ihr verlangte. Äußerungen meiner Schwiegermutter ließen immer wieder darauf schließen, was sie von ihrer Tochter hielt. So entwickelte sich eben nicht das Selbstbewusstsein, das nötig ist, sich durchzusetzen. Des weiteren musste sie immer wieder auch gegen den „weltlichen Strom“ schwimmen, obwohl sie das gar nicht wollte. Sie wurde schon in ihrer frühen Kindheit gebrochen. Dieser psychologische Einfluss machte sich auch in unserem Leben breit. Wie schön war es doch, wenigstens in der Anfangszeit, in die Schubladen der WTG zu greifen und Lösungen zu finden, ohne dass sie individuell auf unser Leben anzuwenden waren. Man hat sich halt dem verständigen Sklaven hingegeben und geglaubt was gelehrt wurde. Irgendwann reichte es aber nicht mehr aus.

Ich verstand sie nicht, weil ich immer der Meinung war, wenn man die Zähne aufeinanderbeißt dann geht alles schon. So entstanden Spannungen in unserer Beziehung, die ich immer wieder als Ansatzzeichen wähnte, eine Lebenslüge aufrecht zu erhalten. Hinzu kamen wieder die Schubladen in Form von Gesprächen, Vorträgen und Publikationen die mein Gewissen wieder anlaufen ließen. Aber wir bemühten uns die gemeinsame Fassade der glücklichen, christlichen Familie aufrecht zu erhalten. Regelmäßig zu den Zusammenkünften zu erscheinen, egal ob die Kinder krank waren oder wir oder was weiß ich.

Unsere Jungs ruhig zu halten, war wirklich schwer. Auch heute sind sie noch sehr lebhaft. Um die Kinder ruhig zu halten, kamen viele Vorschläge. Ihnen den Hintern zu versohlen, waren noch die harmloseren.

Meine Frau entwickelte eine Phobie, unter Menschen zu gehen und bekam schwere Depressionen.

Die Gemeinschaft soll ein Netz sein, die auch die Schwachen stützt, so haben wir das gelehrt bekommen. Ein Netz der brüderlichen Nächstenliebe und Unterstützung? Weit gefehlt. Ein Mensch mit psychischen Problemen ist in dieser christlichen Gemeinschaft nichts wert. Rein gar nichts. Ein gutes Verhältnis zu Gott macht glücklich. Wer nicht glücklich ist, hat kein gutes Verhältnis zu Gott. So wurde uns das auch immer unverblümt und mit Bibelzitaten garniert, erklärt. Wir sollten mehr in den Dienst gehen und unser persönliches Bibelstudium intensivieren. In den Dienst gehen, Freunde, ist wohl schwerlich möglich mit einer Angst vor Menschen. Also dem zu Folge war aus der Kontrolle der monatlichen Dienstberichte zu sehen, das wir unsere Dienste nicht regelmäßig durchführten. Schlussfolgerung: Kein gutes Verhältnis zu Gott, also Sanktionieren, mit Nichtachtung strafen.

Jegliche weitere Bittstellung, alles flehen um Hilfe bei den Aufsehern war vergebens. Dieses Ohr war taub.

Um aus dieser, für mich unerträglichen Situation zu fliehen, nahm ich eine Anstellung an, die 400 km von meinem Wohnort entfernt war. Das anfängliche Bestreben, meine Familie nachzuholen, sie sozusagen umzusiedeln, ließ schnell nach.

Zu süß war dieses Leben. Mit dem nötigen Abstand innerhalb der Woche fühlte ich mich immer mehr befreit. Es war ein leichtes für mich am Wochenende den vorbildlichen Diener zu spielen und innerhalb der Woche die Sau rauszulassen.

Ich merkte, wie die abendlichen Alkoholexcesse alles um mich herum vergessen machten. Im Laufe der Zeit kamen die Drogen hinzu. Spätestens jetzt fühlte ich mich als Fremdkörper in der Gemeinschaft. Da war doch noch was. Das Gewissen. Es meldete sich nicht. Konnte es sein, das es endlich rund war? Nein. Es kam wie immer. Immer dann, wenn ich Besuch bekam.

Typisch für die Zeugen, wenn ich ihn abends nicht zu packen bekomme, dann morgens. In regelmäßigen Abständen, immer Samstags, immer, wenn ich mit meiner Familie beim Frühstück saß. Neue Erkenntnisse, alte Artikel, alles, was mir deutlich machen sollte, welch abscheuliches Leben ich führe. Stimmen wie geölt, fromm und eindringlich. Du gehst den Weg der ins Verderben führt, wir können das nicht dulden.

Wie immer alles ins Blaue geschossen, denn was wirklich innerhalb der Woche lief, wusste keiner, wie auch?

Sie machten es einfach daran fest, das meine Tätigkeit im christlichen Dienst rapide nachließ. So kam es, das mir meine Lehrfunktion genommen wurde.

Im Laufe der Zeit verschlechterte sich der Zustand meiner Frau zusehends, da der Druck auf sie zunahm. Zum einen was die Wahrheit betraf, zum anderen was ihre Ehe mit mir betraf. Es fielen dauernd Kommentare wie, Du musst das beenden, Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, uvm.

Ich bekam nichts von alledem mit, da ich mit der Organisation meines Lebens genug zu tun hatte. Mittlerweile lernte ich eine andere Frau kennen, Ohne Probleme, herrlich frei im Denken, voll auf meiner Wellenlänge. Sie half mir auf den Weg der Normalität zurück. Normalität ohne Drogen und mit nur noch mäßigem Alkoholgenuss. Ich lebte alles aus, bis an die Grenze.

Eines Vormittags jedoch, bekam ich einen Anruf, dass meine Frau einen Suizid versucht hatte. Sie wurde buchstäblich in letzter Minute gefunden.

Man sprach mir ab, meine Kinder zu betreuen, in physischer Hinsicht, aber auch in geistiger Hinsicht. So übergab man die Kinder in die Obhut meiner Schwiegermutter. Dann kam das sehr auferbauende Gespräch mit den Vorstehern. Zum Glück bekam meine Frau nicht sehr viel von diesem Gespräch mit. Es war ziemlich dekadent, so dass ich eigentlich nur noch den Satz ... nicht gottgefällig mitbekam. Am liebsten hätte ich mich übergeben.

Ich ging also wieder mit Wut im Bauch in mein „Exil“ zurück und meine Frau wurde in eine psychosomatische Klinik überstellt. Der Klinikaufenthalt sollte ihr Leben verändern.

Wir trafen uns zweimal während ihres dreimonatigen Aufenthaltes in der Klinik, der Bruch in unserer Ehe war nicht mehr aufzuhalten. Mein Beschluss wieder in meine Heimat zurückzukehren stand trotzdem fest. Ich zog in die Nähe meines Wohnortes, bekam einen neuen Job und dachte es würde alles gut gehen.

Mein Doppelleben konnten man mir damals immer noch nicht nachweisen.

Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich zu outen. Als erstes informierte ich meine Eltern über meinen Lebenswandel der vergangenen zwei Jahre. Es schlug hohe Wellen, wie man sich vorstellen kann. Für sie brach eine Welt, die heile sozusagen, zusammen. Bereue, waren ihre Worte. Trenne Dich von Deiner Freundin, Du begehst Hurerei. Komm zurück auf den Weg des Lebens.

Ich dachte nicht an das Bereuen. Ich wollte meinen Weg beschreiten, den ich mir vorgenommen hatte. Endlich aufräumen, die Missstände aufdecken. Dieses Vorhaben war ein wenig blauäugig, wenn ich es im Nachhinein betrachte.

Ich schrieb also einen Brief an den vorsitzführenden Aufseher in meiner Versammlung. Ich hoffte durch diesen Brief und durch die schonungslose Darstellung meines Lebenswandels und die harten Angriffe auf die Art und Weise, wie in den Christenversammlungen mit den Mitgliedern umgegangen wird, würde ich eine Änderung bewirken. Ich erklärte meine Bereitschaft, mich dem Rechtskommitee zu stellen, jedoch nur in Anwesenheit des Kreisaufsehers. Ich wusste, durch gewisse Informationen, dass dieser ein gestrenges Auge auf genau diese Versammlung geworfen hatte. Der Boden der Tatsachen holte mich aber schnell ein. Rechtskommitee, ja. Kreisaufseher, nein. Diskussion über Änderungen, nein.

Die Vorladung zum Termin nahm ich an. Drei gegen Einen, es versprach, ein gutes Gefecht zu werden. Eine schöne Herausforderung, denn wenn ich eins bei den Zeugen gelernt habe, dann die Rhetorik (danke dafür, kann ich heute gut benutzen).

Aber von Gefecht, wie ich es mir vorstellte konnte nicht die Rede sein.

Sie versuchten mir Brücken zu bauen und mich zur Umkehr zu bewegen. Ich verstand ihre Sprache aber nicht mehr. Ich hörte Bibelverse, die ich noch Monate zuvor selbst benutzte, aber ich wollte sie nicht mehr anwenden. So kamen wir zu dem Schluss, dass mein Lebenswandel und die Weigerung ihn zu ändern, keinen weiteren Verbleib bei den Zeugen zulässt. Somit wurde ich ausgeschlossen. Das abschließende Gebet (alles beginnt ja bekanntlich mit einem Gebet und endet mit einem solchen) hörte ich nicht mehr. Vertraulich trat man anschließend an mich heran, ob ich noch eine Kopie des Briefes hätte. Natürlich hatte ich. Sogar zwei, einen bei mir und einen sicher beim Notar deponiert. Die Bitte lautete, die Kopien an die Zeugen zu übergeben. Als ich dies verweigerte, legte man mir nahe, die Kopien zu vernichten. Mein scheinbares Einverständnis löste Erleichterung aus. Es war aber nur scheinbar. Die Briefe habe ich bis heute. Und wenn ich mal wieder an meinem Vorgehen zweifle, dann lese ich ihn mir durch und bin sicher, das alles richtig war.

Ist das jetzt das Ende des Berichts? Nein, das dauert noch eine Weile.

Nach meinem Gemeinschaftsentzug fuhr ich zu meinen Eltern. Mir ist nach der ganzen Prozedur ein Stein von Herzen gefallen. Erstaunlicherweise waren meine Eltern sehr gefasst. Da meine Scheidung lief, beredeten wir noch einige wichtige Angelegenheiten. Danach habe ich meine Eltern zwei Jahre nicht mehr gesehen.

Die Beziehung zu meiner damaligen Freundin lief immer schlechter. In dieser Zeit hatte ich einen Termin beim Jugendamt, bei dem es um das Sorgerecht der Kinder ging. Ich ging davon aus, das es ein harter Kampf würde, weil ich ja die 1½ Jahre, außer über die Anwälte, keinen Kontakt zu meiner Frau hatte. Meine Strategie stand fest. Gebt mir das Sorgerecht, die Zeugen sind nichts für Kinder.

Die Überraschung war groß, als wir uns das erste Mal wiedersahen. Meine Frau hatte sich sehr positiv verändert, ihr Auftreten war selbstbewusst und echt stark. So hatte ich sie nicht gekannt.

Der Vorsitzende der Verhandlung hatte das richtige Gespür, er ließ uns eine Stunde austoben, Vorwürfe erheben, anklagen, diskutieren. Immer wieder kam die Sprache auf die Zeugen und ihr Verhalten. Zu meiner Überraschung teilte meine Frau ganz beiläufig mit, sie hätte sich distanziert. Ich wollte meine Strategie aber nicht so einfach aufgeben. Du bist aber immer noch Mitglied dieser Gemeinschaft, argumentierte ich. Das ist schon richtig, aber ich gehe nicht mehr zu den Zusammenkünften und pflege nur noch unsere gemeinsamen Freundschaften. Meine Strategie zerfiel zu Asche, damit hatte ich nicht gerechnet. Der Termin war direkt auf dem Geburtstag meines älteren Sohnes und ich hatte, um meiner Strategie Nachdruck zu verleihen ein Geburtstagsgeschenk dabei. Ich fragte sie bei diesem Termin, ob sie das Geschenk mitnehmen will. Überraschung zwei. Komm mit und gib es ihm selber war ihre Antwort. Ich hatte kein Problem, meine weichen Knie unter Kontrolle zu halten, mehr damit, dass mich meine Kinder nach 1½ Jahren nicht mehr erkannten. Ich bin einfach totgeschwiegen worden. Auf dem Weg nach Hause zeriss es mich bald. Ich konnte es nicht fassen, sie haben mich einfach nicht mehr erkannt.

Langsam, aber stetig bauten wir wieder eine Beziehung auf. Eine Beziehung, auf einer Basis, die wir bis dahin nicht kannten. Kennen lernen ohne Druck von außen. Diskutieren über einen langen Weg. Es war nicht zu übersehen, dass dies einigen Menschen in unserer Umgebung sehr missfiel. Konsequenz war nämlich, dass ich das Verhältnis mit meiner Freundin beendete und nach langer Überlegenszeit wieder zu Hause einzog. Wir hatten eine Basis gefunden, die nicht auf den Lehren der Zeugen gründeten, sondern auf einer Basis, die wir uns erarbeitet hatten. Der Grundtenor war, dass unsere Kinder nicht so aufwachsen sollte wie wir. Seitdem genießen die Kids eine liberale Erziehung und kommen gut damit klar. Ein Jahr später trat auch meine Frau aus der Gemeinschaft aus.

Da ich aber jetzt mein Privatleben geregelt hatte und einem geregelten Leben nachging, merkte ich, das da was fehlte. Meine Freunde grüßten mich nicht mehr, wenn ich über die Straße ging. Standen sie im Straßendienst wurde ich im Vorübergehen abfällig gemustert.

Wir merkten beide unabhängig voneinander, das wir keinerlei sozialen Kontakte mehr besaßen. Eine völlig neue Situation, weil wir es immer gewohnt waren, irgendeinen unserer Freunde um uns herum zu haben. Es fehlte uns absolut das Verständnis dafür, dass man 12 Jahre einfach so vergessen kann. Immerhin zwölf Jahre, die man mit allen Höhen und Tiefen gemeinsam durchschritten hat. Wir standen einsam und alleine da. Immer wieder waren da die Erwägungen wieder zurückzugehen. Es entwickelte sich ein Parallelismus in unseren Bedürfnissen. Wie stellten fest, dass jeder von uns eigene Charaktere besitzen, die nach unterschiedlichen Lösungen suchten.

Ich habe viele Erkenntnisse aus dieser bewegten Zeit gezogen.

Es gibt keine Organisation, die sich mit Religion beschäftigt, in der es nicht um Einflussnahme und Machtgewinn und –erhalt geht. Die Versuchung für die Menschen dahinter ist zu groß.

Ich kann nur diese eine Warnung aussprechen, lasst die Finger von dieser Organisation, sie benutzt euch und im schlimmsten Falle macht sie euch zu psychischen Krüppeln.

Keine Religion der Welt ist es wert, dass Kinder ihre Eltern verleugnen und Eltern panische Angst haben müssen, dass ihre Kinder des Todes sind, nur weil sie den Versuch unternehmen, ihr eigenes Leben nicht fremdbestimmt zu führen.