Siebzehn Jahre lang gehörte der pensionierte Werbeleiter Gerd Borchers-Schreiber der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Im Interview mit ISABELLA CAMPBELL-WESSIG und RUDOLF SCHERMANN schildert er seinen Weg vom begeisterten Anhänger zum Zweifler und Aussteiger.

KI: Organisationen wie die Zeugen Jehovas würden sicher kritisieren, dass Sie als ehemaliges Mitglied hier über diese Gemeinschaft sprechen. Sie würden es lieber sehen, käme ein aktives Mitglied zu Wort.

BORCHERS: Es ist durchaus notwendig, diese Gemeinschaften doppeläugig zu betrachten, und solange man noch in der Organisation steckt, ist die Gefahr sehr groß, alles rosarot zu sehen, andere Gruppierungen und Gemeinschaften aber durchwegs abzulehnen. So ist es mir ebenfalls gegangen. Solange ich bei den Zeugen war, habe ich alles sehr gut gefunden, bis nach ungefähr 14 Jahren der Moment kam, wo mir einiges auffiel. Zum Beispiel in der Kritik an der katholischen Kirche. Man hat kritisiert, was es heißt, sie sei allein seligmachend. In der Organisation der Zeugen Jehovas wird wiederum gesagt, das ist die allein errettende Organisation. Ein anderes Beispiel, das meine Zweifel bestärkte: Im Jahr 1929 hat man noch gesagt, die obrigkeitlichen Gewalten, die in Röm 13 erwähnt sind, seien die politischen Mächte. Von 1929 bis 1962 hieß es dann, die obrigkeitlichen Gewalten wären Jehova Gott und Jesus Christus. 1962 ging man dann wieder zurück und erklärte, es wären doch die politischen Mächte. Das sind Momente, in denen man zum Nachdenken beginnt. Man fragt sich, ist das, was diese Gemeinschaft beansprucht, tatsächlich mit der Wirklichkeit vereinbar?

KI: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie Ihre Arbeit als Werbeleiter einer großen Firma auch der Schulung durch die Zeugen Jehovas verdanken. Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie dieser Gemeinschaft beitraten?

BORCHERS: Durch einen Arbeitskollegen. Die meisten Mitglieder werden ja nicht durch Besuche an der Wohnungstür gewonnen, sondern durch das Agitieren im Freundes- und Bekanntenkreis. Mein Kollege, der mir auch sehr sympathisch war, hat eines Tages angefangen, von der Bibel zu reden. Am Anfang habe ich ihn nicht wirklich ernst genommen, aber er hat nicht aufgegeben und immer wieder einzelne Berichte aus der Bibel geschildert. Der Knackpunkt war für mich dann die Stelle aus dem Lukasevangelium, in der Jesus die Zerstörung Jerusalems voraussagt, die dann im Jahr 70 tatsächlich stattgefunden hat. Damals habe ich begonnen, selber in der Bibel zu lesen, und schließlich hat mich der Kollege gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, die Bibel tiefer zu betrachten. Der erste Schritt war dann das sogenannte Heimbibelstudium, in dem man richtig indoktriniert wird. Es gibt vorbereitete Bücher mit Fragen an jedem Seitenende, so dass man immer nur einen Absatz lesen muss, um die richtigen Antworten zu finden. So kommt man dann zu dieser Lehre. Ich hatte ja zuvor keine Ahnung von der Bibel. Ich war zwar evangelisch und habe auch Religionsunterricht erhalten, aber ich habe nie wirklich Interesse für diese Thematik gehabt. Die Zeugen machen den Unterricht so spannend, dass ich mir dachte, das möchte ich jetzt kennenlernen. Zum richtig Nachdenken über die ganze Materie kommt man allerdings nicht, denn es wird alles genau vorgegeben - was man zu glauben hat und wie die Bibel zu interpretieren ist.

KI: Welche Meinung haben Sie, als Sie noch zu den Zeugen gehörten, zu den diversen Endzeitberechnungen gehabt? Das Weltende wurde ja bereits für 1914, dann für 1925 schließlich für 1975 vorhergesagt.

BORCHERS: Die meisten wissen gar nicht, dass es schon falsche Voraussagen gegeben hat. Das war bei mir nicht anders. Denn wenn Leute darauf hingewiesen haben so entgegneten wir, dass alles nur Verleumdungen von Abtrünnigen wären. Man will es gar nicht glauben - heute würde man das als kognitive Dissonanz bezeichnen. Man setzt voraus, dass dies Wahrheit wäre und alles andere muss einfach falsch sein.

KI: Wie erscheinen Sie, nachdem Sie die Gemeinschaft verlassen haben, in den Augen der Zeugen Jehovas?

BORCHERS: Sicherlich als ein sehr böser Kritiker, der nur über die Zeugen schimpft. Es stimmt aber nicht, dass ich schimpfe, ich versuche jede Kritik mit Fakten zu belegen.

KI: Aus Bulgarien wurde kürzlich gemeldet, dass Bluttransfusionen, die bisher von den Zeugen abgelehnt worden waren, nun erlaubt wären. Wie sieht es diesbezüglich in Österreich aus?

BORCHERS: Dies scheint mir ein Einzelakt eines bulgarischen Mitglieds der Zeugen Jehovas gewesen zu sein, aber tatsächlich werden diese Bestimmungen schon gelockert. Zum Beispiel dürfen die festen Bestandteile des Blutes übertragen werden, die Übertragung des Plasmas ist aber verboten. Dass es generell zur Zulassung von Transfusionen kommt, ist dennoch nicht anzunehmen, denn das würde einen Sturm der Entrüstung bei jenen Mitgliedern auslösen, die bereits Familienangehörige oder Freunde verloren haben, weil keine Bluttransfusion vorgenommen werden durfte.

KI: Wie kam es bei Ihnen zum Ausstieg aus der Gemeinschaft?

BORCHERS: Ich begann immer mehr zu zweifeln, besuchte die Zusammenkünfte immer seltener und bekam daraufhin häufig Besuch vom Kreisaufseher. Nachdem ich nicht bereit war, mich wieder in die Organisation zu integrieren, ging es Schlag auf Schlag. Es folgten weitere "Ermunterungsbesuche" in meiner Wohnung. Ich nahm jedoch kein Blatt vor den Mund. Vor einem Komitee, einer Art Gerichtsverhandlung, wurden der Gemeinschaftsentzug und meine Exkommunikation beschlossen. Heute bin ich glücklich, trotz aller durchgestandenen inneren Kämpfe und Ängste keine psychischen Schäden davongetragen zu haben - im Gegensatz zu vielen Zweiflern, die sich noch innerhalb der Organisation befinden.

KI: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Quelle: "Kirche Intern", Österreich 08/2001