Ich kam in Zürich zur Welt, wo meine Eltern damals wohnten. Meine Eltern hatten frisch mit dem Sonderpionierdienst aufgehört. Nach fünf Jahren - ich hatte inzwischen eine Schwester bekommen - zogen wir in ein Landgebiet um, wo geistige Hilfe nötig war.

Diese Versammlung ist inzwischen von 14 auf ca. 70 Verkündiger angewachsen. Toll, nicht ...? Naja, einige sind da schon zugezogen, aber die Versammlung wurde zu einer total vorbildlichen, da man natürlich sehr "gute" Zeugen Jehovas in solche Gebiete schickt. Mein Vater war bald mal Ältester und meine Freundinnen waren Töchter von Ältesten.

Ich war also wirklich perfekt eingebettet in den wattierten Traum aus Liebe und Geborgenheit. In der Schule kam ich bei den Mitschülern schlecht an, weil ich oft predigte und einfach so schrecklich anders war. Schon vom Kindergarten an wusste ich, was Jehova gefällt und was er hasst. Und ich lernte von klein an das schlechte Gewissen, das einem so schön beigebracht wird bei den Zeugen Jehovas. Mami sieht nicht alles aber Jehova schon und der ist dann traurig wegen dem bösen Mädchen. Ich war ein ziemlich [eigenartiges] Kind, was mir bisher nur Scherereien einbrachte.

Mit 3 Jahren war ich das erste Mal auf der Bühne. Mit 9 hatte ich selber Aufgaben in der theokratischen Predigtdienstschule. Mit 11 wurde ich, als besonderen Verdienst, Verkündigerin, mit 13 ließ ich mich taufen. Mit 14 und 18 machte ich je einen Monat Hilfspionier. Und das eine Mal während der Schulzeit und das andere Mal im heißesten Sommer, den ich je erlebt habe. In der 5. Klasse wurde ich von allen in der Schule ziemlich grausam behandelt, da meine Mutter mit der Mutter des Klassenstärksten ein Studium gehabt hatte, diese es aber nicht mehr wollte. Sie brach auch den Kontakt zu unserer Familie ab.

Der liebe Junge wiegelte das ganze Schulhaus gegen mich auf. Weil ich die Schläge und Demütigungen so gut einsteckte und mich natürlich nie wehrte - getreu dem Motto, auch noch die andere Wange hinzuhalten -, wurde ich dann ja auch gebührend belohnt: ich durfte endlich Verkündigerin werden. Juhee! Meine um ein Jahr jüngere Schwester nahm das ganze Religions-Trara viel lockerer. Aber ich fraß mich in die Sache hinein, was mir ein ziemliches Bibelwissen einbrachte.

Mit der Zeit begannen mich gewisse Dinge zu stören, vor allem mein Gerechtigkeitssinn hatte zu leiden. Wieso werden Homosexuelle verachtet? Wieso lässt ein liebevoller Gott alle Menschen, die vor den Zeugen Jehovas lebten, über seine Vorsätze im Unklaren? Und weshalb hat dieser Gott es nötig, Menschen jahrtausendelang leiden zulassen, nur um zu beweisen, was wir ohnehin wissen, nämlich, dass er der grösste ist?

Das ist natürlich sehr ketzerisch überlegt. Ich war der Logik nach überzeugt, in der Wahrheit zu leben. Doch irgendetwas stimmte nicht. Natürlich waren solche Gedanken schändlich und ich musste sie schleunigst verdrängen.

Seit ich 15 bin, leide ich unter schlimmen Kopfschmerzen und hatte auch sonst immer Probleme. Mein Körper machte nicht so mit, wie ich es wollte. Mein Blut war immer in Ordnung, aber ich litt tagelang an Schwächen, die nicht ganz normal sind. Ich konnte manchmal nicht einmal mehr stehen. Mein Gemütszustand kippte zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt hin und her. Doch wieso ich mich schlecht fühlte, wusste ich nicht. Mein Arzt war ratlos. Er behandelte mich gegen Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwächeanfälle etc. Erfolglos.

Mit 17 begann ich eine sehr anspruchsvolle Lehre als Informatikerin, die 3 Jahre dauert. Daneben war auch noch eine Banklehre eingeschlossen und ich musste die Berufsmittelschule beginnen. Da ich eine solche Lehre natürlich unmöglich in einem Berggebiet sondern nur in einer Stadt beginnen konnte, zog ich zu einer älteren Schwester, die ich noch von früher kannte, nach Zürich. Übers Wochenende ging ich dann nach Hause zu meiner Familie. Alles fing ganz harmlos an. Ich hatte in einem grossen Umkreis Freunde, natürlich alles Zeugen Jehovas und somit kein Problem damit, wo anders hinzu ziehen. Doch dann fand ich das erste Mal wahre Freunde, und das in meiner Klasse.

Intelligente, aufgeweckte Leute, kritisch und teilweise etwas idealistisch. Auch durch meine Lehre in der Bank lernte ich Leute kennen, die ganz anders dachten als ich und denen ich oft gezwungen war zuzuhören. Natürlich benahm ich mich wie immer wie die ideale Zeugin Jehovas. Nichts an einen rankommen lassen. Und argumentieren. Und, glaubt mir, ich war - leider - verdammt gut. Sonst hätte ich den Absprung wahrscheinlich früher geschafft.

Vor einem Jahr begann dann die absolute Krise. Ich ließ das erste Mal meine Gedanken zu diesem Thema zu. Dann begann ich, mit meiner Tante, auch ausgeschlossen, über diese zu reden. Und schließlich beschloss ich, nach Büchern und Diskussionen mit Ehemaligen, auszusteigen. Aber so einfach ist das nicht. Ich war finanziell von meinen Eltern abhängig. Und Leute, die mir nahe standen, waren allesamt Zeugen Jehovas. Die anderen ließ ich emotional gar nicht an mich ran.

Und dann war da ja noch mein Freund. Das machte mich einfach fertig, ihn derart zu hintergehen. Meine Mutter sprach von Heirat. Aber klar doch, schließlich war ich ja 18 Jahre alt, da darf man ja heiraten. Dass ich erst so 3 Wochen mit ihm zusammen war, störte diesen Plan auch nicht im Geringsten. So beschloss ich, dem Schein nach noch eine Zeugin Jehovas zu bleiben und erst nach der Lehre auszutreten. Ein fataler Fehler. Sowas macht psychisch derart fertig, dass man durchdreht.

Die Woche durch in Zürich, neue Freunde suchen, Kontakt zu Ausgeschlossenen. Und immer Angst, gesehen zu werden. Ich kenne gerade in diesen Versammlungsgebieten 100te von Zeugen Jehovas. Das ist mein Ernst!

Dann das Wochenende. Familientürk. Tagestext, Bibelleseprogramm, Wachtturm vorbereiten, Versammlung, Familienstudium. Es war grauenhaft. Ich begann mich über alles, was auf der Bühne gesagt wurde, aufzuregen. Das kann ja gar nicht sein! Oder: wie der das wieder formuliert, das ist ja Tyrannei! Das klingt nach einer verdammten Diktatur! Durch die Bücher und weil ich meine Gedanken endlich zuließ merkte ich sehr schnell, was nicht stimmte. Meine Psyche litt so stark, dass ich eines schönen Tages in der Berufsschule völlig ausrastete. Ich heulte nur noch, zitterte am ganzen Körper und hatte irgendwie die Wahnvorstellung, dass mich jemand umbringen wolle.

Von da an ging es nur noch bergab. Meine schulischen Leistungen waren derart im Keller, dass ich wahrscheinlich aus der Maturaklasse rausfliegen würde. In der Lehre hatte ich den Anschluss verloren, ich kapierte rein gar nichts mehr. Irgendwann hatte ich die Kraft, ich weiß nicht, woher, mit meiner Familie zu sprechen. Ich sagte ihnen, ich wolle mich ausschliessen lassen. Ein riesen Schock! Ich hatte zu gut geschauspielert, sie waren in den Monaten kein einziges Mal auf die Idee gekommen, dass ich jemand anders geworden sein könnte. Es gab Tränen, Diskussionen. Dann wurde ich von meinem Vater angeschrien. Nachdem ich meiner Mutter zustimmte und versprach, noch ein halbes Jahr mit dem Ausschluss zu warten und mir während dieser Zeit alles noch mal gut zu überlegen, wobei ich die Zusammenkünfte nicht zu besuchen und nicht in den Dienst zu gehen bräuchte, ging ich also weiterhin jedes Wochenende nach Hause.

Inzwischen wohnte ich nicht mehr bei der Schwester sondern in einem Loch von einem Mansardenzimmer. Ungeheizt, ohne warmem Wasser. Klein und eng. Und da verbrachte ich dann meine einsamen Stunden. Alleine.

Ich beneidete alle um ihre Freiheit. Meine inzwischen guten weltlichen Freunde konnten in den Ausgang gehen. Und ich? Ich ging das Wochenende in die Berge, wo es eine Ladung gedrückter Stimmung und Anschreien gab, wenn mein Vater wieder einmal genug von mir hatte. Der wahre Grund, weswegen ich austreten wolle, sei ja nur, dass ich mir zu gut für die anderen aus der Versammlung sei. Ich sei ja sooo intelligent, ich dächte, ich bräuchte die anderen gar nicht. In Wirklichkeit war ich am Boden, weil ich alle, die ich je geliebt hatte, derart enttäuschen musste. Ich liess mich auf die Gespräche mit diesen Leuten ein. Es war furchtbar. Ende Dezember schluckte ich 9 Schlaftabletten und irrte, statt in den Informatikunterricht zu gehen, stundenlang am Hauptbahnhof in Zürich umher. Mein Körper war daran gewöhnt, von mir nicht viele Dienstleistungen zu bekommen.

Doch ich krachte schließlich doch zusammen. Ich bekam das alles mit, wie ich in die Sanität gebracht wurde und das ganze Drumherum. Ich war geistig da, aber mein Körper nicht mehr so ganz. Wenn ich doch nur einmal hätte abschalten können! Oder wenn ich doch nur mal ohnmächtig geworden wäre! Aber nein, ich war ja so unglaublich stark, es musste immer erst meine Psyche den Geist aufgeben.

Ende Januar schrieb ich dann den Brief an die Versammlungsältesten. Dann zog ich aus, brach die Lehre ab und suchte mir Arbeit, die ich auch fand. Seit April bin ich endlich selbständig. Ich bin frei. Aber ich treffe so oft Zeugen Jehovas auf der Straße. Und ich kann das Thema einfach nicht loslassen.

Ich hatte zuerst furchtbar Mühe mit Männern, war ja so schrecklich naiv. Dann konnte ich lange auch keine Bindung eingehen, ich dachte, ich würde entweder zu stark eingeengt oder ich würde den anderen verletzen. Jetzt habe ich einen Freund. Seit gestern! Aber ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass er mit dem Risiko leben müsse, dass ich nach 2 Wochen Schluss mache, weil ich wahrscheinlich beziehungsunfähig sei. Er nahm es hin.

Inzwischen habe ich eine sehr gute Stelle bekommen. Ohne Lehre! Manchmal kann ich es kaum glauben, was ich beruflich für ein Glück habe. Daneben hole ich die Matura nach und danach will ich Germanistik studieren. Mein Buch, das ich geschrieben habe, ist ziemlich rumgekommen. Unveröffentlicht zwar, aber dennoch lesbar.

Letzte Woche fand mein Arzt, ich bräuchte eine Sprechtherapie. Und das findet nicht nur er. Also, ich bin gerade dabei, mir einen Psychologen zu suchen. Manchmal denke ich, ich werde immer eine Zeugin Jehovas bleiben. Obschon, wenn mir jetzt jemand begegnet und ich erzähle davon, kann der oder die es beinahe nicht glauben. Manchmal raste ich völlig aus und benehme mich geradezu verwerflich freizügig. Manchmal hatte ich so Phasen, da wurde nur geflirtet und rumgeknutscht. Einfach abscheulich. Und ich kann es mir selbst kaum erklären.

Mein Leben ist ziemlich kompliziert geworden. Ich habe viele Freunde und auch einige wirklich sehr gute darunter. Ich habe ständig ein Chaos mit Männern, Verehrer und solche, die es werden wollen... Aber ich hab mich nie verliebt, konnte es einfach nicht mehr. Peng, weg. Außer einmal, und der hat mich verarscht. Dann wurde ich Ende April beinahe vergewaltigt auf einer Toilette in einem Pub. War auch keine Erfahrung, die mich viel weitergebracht hat. Ich hatte mein Leben einfach immer nur für kurze Zeit im Griff.

Und jetzt? Mein Vater rief mich an. Nach langer Zeit. Er trete auch aus, er habe eine Freundin. Das war vor einem Monat. Was war passiert? Ich fühlte mich einfach völlig mies. Zuerst lässt er mich hängen und dann kommt er bei mir angerannt und fleht nach Mitleid und Verständnis, das er natürlich sonst nirgends finden kann. Meine Eltern sind bereits in Scheidung. Er ist ausgezogen und ausgeschlossen worden. Nach 24-jaehriger Ehe! Die weit herum als die beste je gesehene galt! Ein echter Hammer. Und er war so lange Ältester gewesen, hatte Ansprachen an Kongressen gehabt! Und jetzt das. Meine Welt begann also wieder etwas zu zerbröseln. Ich bin inzwischen ziemlich desillusioniert. Und enttäuscht von allen Seiten. Aber das Leben geht weiter. Oder hat für mich vielleicht erst angefangen?