Ich habe mich erst vor ein paar Wochen Eurer Internet-Gruppe angeschlossen, und nachdem ich mit Freude Eure Briefe gelesen habe, habe ich mich dazu entschlossen, meine Geschichte zu erzählen. Damit trage ich zu dem langen Heilungsprozeß bei, der vor sich gehen muß, wenn man dem "Wachtturm" entrinnt.

Ich wuchs als Zeugin Jehovas auf. Ich kannte kein anderes Leben, und natürlich dachte ich, es gebe auch kein anderes! Als Kind und als Teenager war ich nicht gerade stolz auf meine Religion und versuchte, sie so weit wie möglich zu verbergen. Ich war es leid, an nichts teilnehmen zu können, und kam mir vor wie auf dem Präsentierteller. Damit ging ich gewöhnlich so um, daß ich tat, als ob dies alles nicht wahr wäre. Mit den Jahren wurde daraus ein Problem für mich, weil ich nicht die grundlegenden Gefühle wie z.B. Mitleid haben lernte. Irgendwie merkte ich, daß etwas nicht mit mir stimmte, weil ich nicht den Eifer für die "Wahrheit" empfand wie so viele meiner Zeugenbekannten; denn was ich auch versuchte, es kam nichts. Trotzdem tat ich alles, was man von mir erwartete, und damit wurstelte ich mich durch. Ich scheine sehr analytisch zu denken, und obwohl ich nicht immer alles auf die Reihe brachte: Irgendwie wußte ich, daß was nicht stimmte. Jetzt blicke ich zurück und erkenne schon, daß ich Widersprüche sah, doch weil mein Denken so fremdbestimmt war, konnte ich nicht Eins und Eins zusammenzählen und einen Sinn darin sehen. Meine Fragen stellten sich als begründete Sorgen heraus, und das habe ich jahrelang nicht einmal gemerkt.

Während meiner Kindheit empfand ich wenig Freude, weil so vieles für mich verboten war. Ich durfte keine Feiertage begehen, ich durfte mich keinen Gruppen in der Schule oder dem Schulorchester anschließen. Man durfte keinen Umgang außerhalb der Religion haben. Jede Tätigkeit außerhalb (d.h. Sport, Partys, Schulbälle, Tanzen) war einem Zeugenkind untersagt, und unglücklicherweise bereitete mir das in jenen Jahren viel Leid, da ich viele eigene Pläne hatte, die ich verwirklichen wollte. Doch das alles hatte für meine Eltern keine Bedeutung; das einzige, dem sie wohlwollend gegenüberstanden, war, ob ich eine "starke Zeugin Jehovas" werde, also eine Pionierin (die 90 Stunden pro Monat ohne Bezahlung im Predigtdienst verbringt). Das lag, freundlich ausgedrückt, nicht in meiner Absicht. Ich war also eine ständige Enttäuschung für meine Eltern.

Doch ich wurde erwachsen und heiratete einen netten jungen Zeugen (wie man es von mir erwartete), der auch in der "Wahrheit" (ein anderer Name für Zeugen Jehovas) groß geworden war. Wir bekamen unser erstes Kind und damit viel zu tun. Ich hatte mich immer um Freundschaften bemüht und dachte, ich hätte viele Freunde, und doch erkannte ich, daß irgend etwas nicht stimmte.

Mein Mann und ich gingen nicht mehr in eine der fünf Zusammenkünfte (das "Buchstudium"). Wir gingen in alle anderen Zusammenkünfte bis auf die eine. Dann fragte mich eines Tages eine Freundin, ob ich mit ihr an dem Abend des "Buchstudiums" nach der Zusammenkunft ausginge, um eine Band spielen zu sehen. Ich sagte ja, und wir machten Pläne. Sie kam jedoch spät, und als ich in Erfahrung bringen wollte, warum, sagte sie: "Ich mußte mir eine dreißigminütige Predigt von meiner Mutter anhören, daß ich mit dir keinen Kontakt mehr haben sollte, bis du wieder in das Buchstudium gehst." Das traf mich wie ein Keulenschlag. Meine ganzen Freundschaften, mein ganzes Leben war jede Woche neu bewertet worden. Wenn man am Sonntag nicht zur Zusammenkunft ging, wurde man in der Woche nicht zur Party eingeladen, oder man wurde links liegen gelassen, bis man nicht mehr aus der Reihe tanzte. Ich dachte: War das Freundschaft?? Dieser Abend brachte mich dazu, niemals wieder in eine Zusammenkunft gehen zu wollen ... aber ich tat es doch und alles wurde noch schlimmer. Schließlich und endlich kannte ich kein anderes Leben; so versuchte ich mir einzureden, daß es so schon seine rechte Bewandtnis habe. Und doch: Irgendwann an diesem Tag begann ich, die Dinge in anderem Licht zu sehen.

Ich sagte meinem Mann immer wieder, wie die Kinder in der Wahrheit vernachlässigt würden. Es gab keine Schulung auf ihrem Niveau. Ich sagte immer, das sei so, als stecke man Erstkläßler in die 12. Klasse und bestehe darauf, daß sie alles, was dort geschieht, in sich aufnehmen. Wie lächerlich. Wenn sie nicht still sitzen konnten, nahm man sie gewöhnlich nach draußen und versohlte sie. (Ich wurde als kleines Mädchen oft geschlagen.) Es war so, als ob die Kinder im Weg waren (d.h. bis sie alt genug waren, in den Dienst zu gehen und die Zeitschriften loszuschlagen). Nie standen die Kinder im Mittelpunkt, und das war mir gar nicht recht, besonders jetzt, da ich Mutter war. Ich empfand sie als das Wichtigste in meinem Leben. Ich wollte nicht, daß unsere Kinder so aufwuchsen. Ich war, so schien es mir, mit einer unendlichen Geschichte aufgewachsen ... Als ich ein kleines Mädchen war, erzählte mir Mama, daß ich nie zur Schule gehen würde; als ich mit der Schule begann, sagte sie mir, ich würde nie meinen High School-Abschluß machen; als ich ihn doch machte (und so gerade den Jahren entkam, als Jugendliche ermutigt wurden, die Schule zu verlassen und in den Pionierdienst zu gehen - ihr wißt schon: "1975", damals stand Harmagedon unmittelbar bevor, meine Schwester und mein Bruder hatten nicht dieses Glück - beide verließen die High School und machten nie einen Abschluß), sagte mir Mama, ich würde nie heiraten; als ich heiratete, sagte sie mir, ich würde nie Kinder bekommen usw. Ich konnte das ganze Gerede einfach nicht mehr verkraften. Alles erschien so kalt und lieblos; und doch hieß es, im Königreichssaal herrsche so viel Liebe, aber ich sah keine. Ich dachte, es sei meine Schuld! Ich war nicht gut genug. Eine Schwester in der Versammlung, die ich sehr achtete, sagte mir einmal: "Margie, kannst du nicht einfach die Reife aufbringen, die Leute zu übersehen, und nur Jehovas Organisation lieben?" Ich habe darüber nachgedacht und geantwortet: "Vermutlich bin ich dann nicht reif genug, ich sehe die Organisation als die Menschen, die Organisation spiegelt sich in den Leuten wider - um Menschen geht es doch - Jesus gab sein Leben, um Menschen zu retten." So gab ich mich geschlagen, akzeptierte meine Unreife und hörte allmählich auf, zu weiteren Zusammenkünften zu gehen.

Nicht lange darauf wurde ein junger Mann, in den meine Schwester eine Zeitlang verliebt war, "öffentlich zurechtgewiesen" (ein Begriff, der gebraucht wird, wenn ein Mitglied in die Irre geht und von der Versammlung als schlechter Umgang bezeichnet wird; es wird ein Brief in der Versammlung vorgelesen und jeder weiß: der Person muß ich aus dem Weg gehen), und er machte eine schwere Zeit durch. Er trank und ging allein mit jungen Mädchen aus ... er war selbst gerade ein Teenager. Jedermann begann ihn natürlich zu meiden, und das vergrößerte noch seine Verwirrung. Er bat meine Schwester, sich mit ihm hinzusetzen und zu reden, weil er sie noch so sehr liebte. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit meiner Schwester darüber hatte, ob sie mit ihm reden sollte. Ich sagte: "Bitte tu es, das bist du eurer Freundschaft schuldig!" Sie sagte: "Aber heiße ich damit nicht seine Handlungsweise gut?" Ich sagte: "Nein, setz dich mit ihm hin, vielleicht kannst du ihn wieder zu Sinnen bringen." Sie gab dann mir gegenüber zu, er habe ihr anvertraut, daß er in seinem verwirrten Zustand an Selbstmord gedacht habe. Ich sagte ihr, es könne die Sache nicht schlimmer machen, wenn sie sich auf eine Tasse Kaffee mit ihm hinsetzte und ihm zuhörte. Ich hatte sie schon überredet, aber mein Vater bekam sie zu fassen, ehe sie mit ihm reden konnte, und sagte ihr, sie müsse stark sein und ihm die kalte Schulter zeigen und ihn nicht einmal grüßen. Ein paar Wochen danach brachte sich dieser intelligente junge Mann, den ich wirklich mochte, mit einem Kopfschuß in seinem Auto um. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte!

Inzwischen war eine Nachbarin gekommen, um mir zur Geburt meines ersten Kindes alles Gute zu wünschen, und wir schlossen eine Freundschaft, wie ich sie nie zuvor erfahren hatte. Ich hatte eine Freundin gefunden, die mich mochte, egal was ich glaubte (auch wenn es für sie "verrückt" war). Sie akzeptierte mich, und ich hatte eine Freundin fürs Leben gefunden. Ich schulde dieser Frau sehr viel und kann nie die Liebe und Sorge zurückgeben, die diese Frau mir in den folgenden Jahren erwies. Es war wirklich ihre Freundschaft, die schließlich zu meinem Austritt aus der Wachtturm-Gesellschaft führte; und dafür bin ich ihr für immer dankbar.

Durch diese Freundschaft lernte ich die Welt draußen kennen, und die sah nicht so hoffnungslos aus, wie man es mich gelehrt hatte. Ich sah freundliche, liebevolle und besorgte Menschen, die mehr Aufrichtigkeit besaßen als viele Zeugen, die ich kannte. Mein Glaubensgebäude in Bezug auf den "Wachtturm" blieb allerdings intakt, weil ich keine Fluchtmöglichkeit sah. In den nächsten fünf Jahren hatte ich zwei weitere Kinder und war in der ganzen Zeit nicht mehr im Königreichssaal gewesen. Meinem Vater, meiner Mutter und zwei Schwestern brach es das Herz, sie versuchten gelegentlich, mich wieder in die Hürde zurückzubringen. Mein Leben war ein einziges Durcheinander gewesen. Wir erlaubten unserem ältesten Kind, in der Schule Feiertage zu begehen, aber konnten es zu Hause nicht tun, weil meine Eltern es herausfinden würden und man uns ausgeschlossen hätte (völlig exkommuniziert - nicht einmal meine eigenen Eltern hätten uns mehr gegrüßt). Das konnte ich einfach nicht ertragen. So kam es dazu, daß wir unsere Kinder ihre Großeltern belügen ließen - das bereitete uns viel Kummer. Ich konnte die Betrügerei kaum ertragen. Nicht einmal meine Würde besaß ich mehr. Mein ältestes Kind war durch das alles hoffnungslos durcheinander, und wir waren alle im Grunde genommen unglücklich. Wir akzeptierten unser Schicksal, daß wir in Harmagedon sterben würden, weil wir einfach nicht mehr in den Königreichssaal zurückkonnten. Schließlich kamen wir zu dem Entschluß, Farbe zu bekennen und die Folgen zu tragen, um unseren Kindern eine gewisse Stabilität zu bieten. Wir konnten einfach nicht länger außen vor bleiben und unseren Kindern beibringen, lügen sei o.k., daß wir uns unseres Lebens so sehr schämen müßten, daß wir verbergen mußten, was wir taten. So beschlossen wir im Dezember 1993, die Gelegenheit wahrzunehmen und Weihnachten zu feiern und auf unseren Ausschluß zu warten.

Wir begingen diesen Feiertag natürlich mit einem schlechten Gewissen. Mein Vater fand es heraus, kündigte sofort an, er müsse das den Ältesten mitteilen, und machte vollkommen klar, sie würden "zu ihrem Glauben stehen" und die Beziehungen abbrechen. Wir wußten das, und es bereitete uns großen Schmerz. Das Warten war so anstrengend, daß ich jeden zweiten Tag sechs Wochen lang Migräneanfälle bekam ... während wir auf die Entscheidung warteten. Doch es kam keine. Wir quälten uns schrecklich damit ab. Schließlich, im März 1994, sagte mir mein Schwager, der sah, wie verzweifelt ich darüber war, vor zwei Monaten sei eine Entscheidung gefallen. (Ich hatte gedacht, vielleicht hätte mein Vater es versäumt, die Ältesten zu informieren, und geglaubt, vielleicht lasse er es durchgehen.) Aber er hatte es nicht, und mein Schwager erklärte, meine Eltern hätten nicht gewollt, daß ich von der Entscheidung erfahre. Die Ältesten hatten beschlossen, da wir schon über vier Jahre lang keine Zusammenkunft mehr besucht hätten, nichts zu unternehmen, wenn wir nicht zurückkehren wollten. Man stelle sich das nur vor ... wenn wir beschlossen, Fortschritte zu machen und zurückzukehren und wieder "gute" Zeugen zu werden, würden wir ausgeschlossen und müßten viele Monate lang beweisen, daß wir bereuten. Wie zeigt man Reue? Sie glauben, Reue zu zeigen hieße, jede Versammlung zu besuchen, wo wir von allen Mitgliedern gemieden würden und nie mit ihnen reden dürften, bis die Ältesten endlich zu dem Schluß kämen, wir zeigten Reue - das klingt für mich eher nach Bestrafung! Wie auch immer, meine Eltern glaubten, wenn ich wüßte, ich wäre nicht ausgeschlossen, könnten "alle Stricke reißen" und ich würde alles tun, was mir in den Sinn käme, so aber hätten sie eine gewisse Kontrolle über mich und meine Familie. Ich war am Boden zerstört. Ich hatte solch einen mutigen Schritt unternommen und meine Eltern sahen das an, als wäre ich "nur ein Kind und wüßte nicht, was das Beste für mich ist."

Da wir uns nun nicht länger zu verstecken brauchten, beschloß ich, etwas zu tun, das ich schon lange hatte tun wollen. Ich hatte eine enge Freundin, die, als ich 16 Jahre alt war, ausgeschlossen wurde An einem Tag war sie noch meine engste Freundin, am nächsten Tag war sie für mich tot. Ich konnte sie nie wieder sprechen. Es hatte mich nie losgelassen, wie ich nie mehr mit ihr sprechen konnte und wie kalt ich ihr hatte vorkommen müssen. Ich wußte, sie mußte darunter gelitten haben. So rief ich ihre Eltern an (die noch in meiner Heimatstadt lebten) und erhielt ihre Telefonnummer. Ich rief sie an, weil ich ein reines Gewissen haben und mich entschuldigen wollte, daß ich sie so lieblos behandelt hatte ... daß ich seither erfahren hatte, was wirkliche Freundschaft bedeutet, und ich hoffte, sie würde mir vergeben. Sie tat es und kam einige Wochen später mit einer weiteren Freundin, die ich damals auch gekannt hatte, in die Stadt. Sie brachte ein Geschenk mit - die King James-Bibel. Ich dankte ihr, aber sie wollte nichts von Dank wissen. Gesagt, getan! Ich hatte das Leben, wie ich es seit mehreren Jahren führte, gründlich satt. Nebenbei, der Gott, den ich kannte, würde weder meine Gebete hören oder sehen wollen, was ich als Christ tat. Schließlich nahm ich ihr Geschenk an und steckte es unter eine Truhe, so daß ich es nicht sehen mußte. Ich war durch und durch überzeugt, es gäbe für mich keinen Gott, wenn ich kein Zeuge Jehovas war. Wie dem auch sei, sie versuchten mich zum Gegenteil zu überzeugen, hatten aber keinen Erfolg. Das folgende Jahr hindurch blieben wir miteinander in Kontakt. Diesen beiden Frauen möchte ich sagen, ich habe den größten Respekt vor ihnen und mag sie wegen ihrer Geduld mit mir und ihrem Bekennermut, der mich fähig gemacht hat, Herz und Sinn zu öffnen.

Nach unserem zweiten Weihnachtsfest mit schlechtem Gewissen, rief mich die Freundin, die beim ersten mal mit ihr zusammen gekommen war, an und sagte, sie käme in die Stadt und dächte, sie hätte Neuigkeiten für mich, von denen sie glaubte, ich würde sie gern kennenlernen. Sie begann, wovon zu erzählen? - von "Gottes steinernem Zeugnis", der Cheopspyramide. Das hat mich umgehauen. Sie erzählte mir von der Rückkehr der Treuen der alten Zeit im Jahre 1925 (Beth Sarim), sie erzählte mir von der Rückkehr Christi im Jahre 1874, der Vorhersage über 1914 usw. Ich wollte wissen, woher sie das alles kannte, und sie sagte mir, sie hätte ein Buch von David Reed gelesen. Na, das Buch wollte ich auch haben ... ich wollte es sofort haben. Gleich am nächsten Morgen holte ich es mir von ihr ab und las es am selben Abend. Ich war wie am Boden zerstört, aber ich konnte mich nicht auf eine Person allein verlassen. So erzählte ich meinem Mann, dies beginne eine Suche nach der wirklichen "Wahrheit" zu werden und ich werde das so oder so herausfinden. Ich sagte ihm, wenn die WTG die Wahrheit habe, würde ich das akzeptieren, aber trotzdem nicht zurückkehren. Und wenn ich heraus bekäme, daß sie sie nicht hätten, könnte ich mich von diesem ewigen Schuldgefühl freimachen. So begann eine "Reise", von der ich nie geglaubt hätte, daß sie sich ereignete. Ich begann, mir alle Bücher, die ich finden konnte, kommen zu lassen oder sie zu bestellen und gab Hunderte von Dollar aus. Ich las zwei Monate lang ohne Unterbrechung. Es waren die schwersten zwei Monate meines Lebens, als ich versuchte zu entziffern, was in mir vorging. Die ersten drei Wochen schien ich in einer paradoxen Situation zu sein, der ich nicht entkommen konnte. Ich glaubte, die WTG habe falsch prophezeit, und doch behauptete sie nicht, ein Prophet zu sein. Sie sagte, man dürfe diese Glaubenssätze nicht anzweifeln, und doch behauptete sie nicht, ein Prophet zu sein ... das ging mit immer wieder im Kopf herum, bis ich entschied, jeden Hinweis herauszuschreiben, wo sie ein Prophet war, und auch jeden Hinweis, wo sie kein Prophet war, und dann zu sehen, ob das alles für mich einen Sinn ergab. Was ich erkannte, war, daß man zwei einander widersprechende Gedanken gleichzeitig haben und beide glauben konnte. Warum? Ich bemerkte, daß es in jedem Gedankenmuster starke und schwache Punkte gibt. Man kann beide glauben, doch am Ende wird der stärkere siegen. War die WTG ein Prophet? Ja! Auch wenn sie das Gegenteil behauptet: Indem sie nicht zuläßt, daß man ihre Autorität in Frage stellt, wenn sie den Anspruch erhebt, Gottes alleiniger Mitteilungskanal zu sein (der stärkere der beiden Punkte), wird in einem der stärkere Punkt die Oberhand gewinnen und man kann dann die Fehler, die die WTG macht, akzeptieren, ohne ihre Autorität in Frage zu stellen. Das war endlich der Weg heraus aus meinem Paradox. Es war, als hätte mich eine Bombe getroffen oder eine Staubwolke hätte sich gehoben. Ich konnte so klar sehen. Dann habe ich alles gelesen, dessen ich habhaft werden konnte, und das tue ich immer noch. Die Gedankenkontrolle in dieser Religion, Entschuldigung: Sekte, ist so verheerend! Es ist eine solche Inbesitznahme des Denkens, daß es fast unglaublich ist. Wenn sich jemand vorstellen kann, wie es ist, vergewaltigt zu werden: so empfand ich das. Wie eine Vergewaltigung des Denkens; als wenn man nie einen Gedanken hatte, der einem selbst gehörte. Das ganze Leben wird einem aus den Händen genommen. Wie in einem Gefängnis mit unsichtbaren Mauern. Das hat mir großes Leid bereitet und ich dachte, das alles hätte einen Sinn und die Täuschung herausfinden hätte keinen - nun, man muß sich dann schon fragen, ob es das wert ist, so weiterzumachen. Und das tat ich. Und jetzt bin ich frei. Ich fühle mich, als hätte ich nie zuvor gelebt - so wie noch nie fühle ich mich, mit neuem Sinn wie ein Neugeborenes.

Als ich die Suche begann, mußte ich einfach die Wahrheit herausfinden, aber je mehr ich las, um so mehr wollte ich mit dem Beten beginnen (das hatte ich nicht einmal in der "Wahrheit" gewollt). Es schien, daß Gott nicht so kalt war, wie ich gedacht hatte, und den Glauben in den Herrn Jesus als meinen Retter zu erkennen, füllte mich mit Mitgefühl. Ich mußte einfach noch mehr herausfinden. Seltsam: Mitgefühl war eine Empfindung, die in meinem Leben fehlte und die mir erst bewußt wurde, als ich sie zum erstenmal zu fühlen begann. Da war ich also: ich wollte nicht einmal eine Bibel in der eigenen Wohnung haben und fühlte mich doch gedrängt, zu beten und in der Bibel zu lesen. So entschloß ich mich eines Sonntags gerade vor ein paar Wochen, das Undenkbare zu tun - zur Kirche zu gehen. Ja, richtig: zum Spielplatz des Teufels (so hatte man mich gelehrt).

Meine beste Freundin war katholisch, und ich beschloß, in ihre Kirche zu gehen. Es war schön, auch wenn ich mir etwas verloren vorkam. Ich empfand die Predigt als schön, die an dem Tag von der Liebe handelte, die wir allen um uns herum zeigen sollten, wie Jesus für uns Mitgefühl hatte. Sie blieb mir an dem Tag im Sinn haften und half mir bei all meiner Verwirrung, durch die folgenden Tage zu kommen. Dann war der nächste Sonntag da, und es ging mir nicht gut. Ich war depressiv und fühlte mich immer mutloser. So beschloß ich, in eine andere Kirche zu gehen - ich war nie in einer gewesen und wollte nun alle sehen. Ich stieg ins Auto und wußte nicht wohin. Ich fuhr zu mehreren Kirchen, und sie schienen mich einzuschüchtern. So fuhr ich zu ein paar weiteren und kam schließlich zu einer Baptistenkirche mit einem Schild "Besucherinformationen". Oh, dachte ich, jetzt weiß ich endlich, wo ich anfangen kann. Ich parkte den Wagen und ging ins Büro. Der Pastor war da und fragte, ob er mir helfen könne. Ich sagte; "Ja, ich hätte gerne Informationen über Ihre Kirche", und erklärte ihm, daß ich 33 Jahre lang ein ZJ gewesen war. Er fragte, ob ich gern in die Sonntagsschulklasse gehen wollte, die gerade stattfand. Ich war abgeneigt, sagte dann aber zu (ich weiß nicht warum. Vielleicht geht es mir gegen den Strich, in Gruppen von Fremden zu gehen) und ging ins Ungewisse. Auf der Tafel über dem Sprecher stand "Spiritualität kontra Religion. Was ist wichtiger?" Es ging um Gesetzesdenken in der Kirche und daß wir andere nicht richten sollten, daß der Geist in uns das Wichtigste ist und daß Regeln von Menschen nicht mehr sind als das: "Regeln von Menschen". Ich war so glücklich, so eine Rede zu hören, und als sie vorbei war, erzählte ich der Klasse, daß ich 33 Jahre lang ein ZJ war, und was REGELN angeht: da kannte ich mich aus. Zum ersten Mal in meinem Leben genoß ich einen Gottesdienst - ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Die Mitglieder haben mir sehr geholfen und mich ermutigt, obwohl alles erst ein paar Wochen her ist. Ich muß alles noch vor meinen Eltern und Schwestern verbergen, denn wenn sie herausfinden, daß wir der WTG den Rücken gekehrt haben, werden sie wohl weitere Schritte tun, um meinem Schweigen noch einen Ausschluß draufzusetzen. Ich meine auch, ich könnte Hinweise fallen lassen und ihnen so die Augen für die Täuschung öffnen, ehe sie herausfinden, was wir denken. Daß sie es herausfinden, ist unvermeidlich. Mein Mann ist in seinen Schlüssen noch nicht so weit gelangt, aber ich denke, er hat es nicht mehr weit. Er hat nicht so viel Zeit zum Lesen, da ihn die Arbeit einnimmt. Ich freue mich über all Eure E-Mails und hoffe, ich kann eines Tages auch mehr für Euch tun. Ich muß mich noch durch viele Fragen hindurcharbeiten und weiß doch, daß ich auf dem richtigen Weg bin, um die richtigen Antworten zu erhalten. Am Ende dieses Bekenntnisbriefes möchte ich noch sagen: Wenn es da jemanden gibt, der dies liest und sich Fragen über die WTG stellt: Du bist es Dir schuldig, Nachforschungen anzustellen. Vergiß nicht, die WAHRHEIT wird immer bestehen können! Mit 33 Jahren habe ich gerade zu leben begonnen!

Es ist nun sechs Wochen später - so eine kurze Zeit, aber für mich eine Ewigkeit. Ich habe meine Nachforschungen fortgesetzt, und viele Menschen haben mir dabei geholfen. Allen bin ich zutiefst dankbar. Ich habe Jesus kennengelernt, und mein Leben ist jeden Tag ein Wunder. Ich kann jetzt Mitgefühl mit Menschen empfinden wie nie zuvor. Manchmal kann ich schlecht damit umgehen, weil es mir in der Seele weh tut, die Finsternis zu sehen, aus der ich gekommen bin und in der, wie ich weiß, noch so viele Menschen stecken. Doch wenn ich jetzt in der Kirche sitze, habe ich keine bösen Vorahnungen mehr, ich empfinde nur einen Frieden, der mir im Innersten guttut. Früher war ich immer so gereizt. Ich dachte einfach, das wäre normal und jeder empfände so. Nun ist das weg. Ich habe nie zuvor einen solchen Frieden empfunden. Jeden Tag wache ich auf und frage mich, ob es morgen auch so sein wird. Und der Frieden bleibt. Ich weiß, daß ich ihn nun immer haben werde. Jesus ist seine Quelle, und Er wird mich nicht verlassen. Jetzt weiß ich, was Jesus meinte: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." Ich bin FREI!

Nun ist es fast sechs Monate her, seit ich die Suche begann, und ich habe einen sehr wichtigen Entschluß gefaßt. Ich habe mich taufen lassen. Das war eine wunderbare Erfahrung für mich. Die Kirche hat mich so erbaut und mir auf überwältigende Weise eine Heimat gegeben. Ich denke sonntags immer, wie aufrichtig diese Menschen doch sind, mindestens so aufrichtig wie irgendein ZJ.

Mein Mann kommt inzwischen auch mit; er fängt wirklich an, sich zu öffnen. Er macht, denke ich, gerade eine Übergangszeit durch und verschafft sich einen neuen Blickwinkel. Ich weiß, das ist schwer; ich weiß noch, wie mich alles verwirrt hat. Aber ich weiß, er wird durch alles durchdringen und seinen Frieden finden. Er überrascht mich jeden Tag; er öffnet sich und lebt wieder auf. Großartig, wie er zu den Jugendligaspielen meiner besten Freundin kommt und die Kleinen anfeuert - er muß sich nicht schlecht dabei fühlen! Dinge, die für die meisten normal sind, haben für einen Ex-ZJ solch einen Beigeschmack. Es braucht Zeit, da durchzukommen, aber wir erleben viel Freude.

Am allerbesten ist, daß ich angefangen habe, mit meinem vorhin erwähnten Schwager zu reden. Ich habe vor etwa drei Monaten mit hingeworfenen Bemerkungen begonnen. Natürlich sagte er mir gleich, die WTG sei Jehovas Organisation und er fühle, daß Jehova ihn leite. Aber er konnte einfach nicht wegbleiben. Es ist wirklich wunderbar, zu sehen, wie jemand aufblüht und Freiheit findet. Ich sehe bei ihm schon Änderungen. Er wird frei. Er hat Christus noch nicht angenommen, vielleicht wird er es nie, aber ihn ohne Schuld und Schamgefühl zu sehen ist besser als alles andere. Er sucht und ich glaube, er wird auch seinen Frieden finden. Welchen Weg er auch einschlägt, ich werde es akzeptieren. Jeder hat das Recht auf eine eigene Entscheidung. Ich weiß, einige von Euch wollen überhaupt nichts von Gott wissen. Auch das kann ich akzeptieren. Wir haben alle das Recht auf freie Glaubensentscheidungen. Wenigstens können wir nun alle "unabhängig denken". Meine Schwester (seine Frau) allerdings will nichts mit mir zu tun haben. Sie haßt sogar, daß er zu mir ins Haus kommt. Meine Eltern wissen nichts ... NOCH NICHT ... Ich schiebe das noch vor mir her, bis ich mich wirklich selbst verteidigen kann. Aber vielleicht habe ich dazu nicht mehr viel Zeit, so will ich Euch auf dem laufenden halten. Wenn Ihr so etwas wie eine Atombombe hochgehen seht, wißt Ihr, daß meine Eltern herausgefunden haben, daß ich in der Baptistenkirche getauft wurde.

Ich habe eifrig das Wort verbreitet - meiner Liste von Ex-ZJ einige hinzugefügt - meine Schwägerin, ihr Mann und drei Kinder. Meine Schwägerin war eine von den ZJ, die einen mit dem Zitieren von Bibelstellen unter den Tisch reden konnte. Sie verließ die Organisation vor etwa fünf Jahren, als es Probleme wegen ihres Sohnes gab, der ausgeschlossen wurde; sie hatte vor, eines Tages zurückzukehren, wenn sie den Mut dazu aufbrächte. Nun braucht sie den Mut nicht mehr!!! Sie war eine harte Nuß zu knacken und ich hatte Probleme, weil sie die ZJ-Lehre wie ein Kreisaufseher kannte. Aber sie hörte zu und wurde angerührt. Jetzt hat sie ihren Frieden mit Jesus gefunden, aber ihr Mann will nichts mehr mit Gott zu tun haben. Ihre Kinder hängen in der Schwebe, aber sie sind doch nicht mehr in den Ketten der WTG.

Was war das für ein Jahr für mich! Ich möchte dieser Gruppe für so viel Anregung danken, für oder gegen Gott, aber am meisten für all die Informationen über ZJ. Ich muß sagen, ich glaube nicht, ich hätte es nicht ohne Eure Mails geschafft, die mich so manchen Tag am Laufen hielten. Ich war wirklich verwirrt und wußte nicht wohin. Die E-Mails voller Ermutigung bedeuteten für mich alles, und ich hoffe, diese Gruppe wird immer da sein, um Leuten wie mir zu helfen. Es gibt so viele von uns. Verletzt und verwundet. Wir müssen alle zusammenhalten, egal für welchen Glauben wir uns entscheiden. Es ist ein großer Trost zu wissen, man ist nicht allein, daß andere dasselbe empfunden und durchgemacht haben, vielleicht sogar noch mehr. Gott segne Euch alle.

In tiefer Wertschätzung Margie (Capik)