Kaum sendet man einen Brief an "Selters", schon erweckt man das Interesse der Ältestenschaft der heimischen Versammlung...

Freitag, 13. Dezember 2002

Die beiden Ältesten M. M. und M. P. besuchen mich zu einem ausgedehnten Gespräch (19:30-22:00 Uhr). Es handelt sich dabei um das vor zwei Tagen telefonisch mit Bruder M. M. verabredete Zusammenkommen.

M. M. sowie M. P. legen ihre Bibeln auf den Tisch. M. M. beginnt ein Gespräch unter Zuhilfenahme allgemein gehaltener, belangloser Themen.

M. M.: „Und, wie geht es dir? Womit beschäftigst du dich denn so in der letzten Zeit?"

Es fällt ihm sichtlich schwer, zur Sache zu kommen.

M. P. hält sich zurück. Ich tue ihnen den Gefallen, und beginne damit, den von mir vermuteten Grund ihres Vorsprechens zur Sprache zu bringen. Allerdings gelingt es mir nicht (auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht), dass mir die beiden Ältesten eindeutig den Grund ihres Kommens bestätigen.

P. O.: „Seid ihr im Auftrag ‚Selters’ hier?"
M. M.: „Nein, wieso?"
P. O.: „Kennt ihr den Inhalt meiner letzten Briefe an Selters?"
M. M.: „Nein, den kennen wir nicht. Aus Selters erhalten wir nur jeweils eine Kopie der Antwortschreiben, die dort die Brüder an dich absenden!"
P. O.: „Aber ihr seid doch sicherlich informiert darüber, dass ich daran interessiert bin, bezüglich der Zusammenfassung meiner Kritik an bestimmter Vorgehensweisen unserer religiösen Vereinigung, mit Selters noch einige Fragen abzuklären?"
M. M.: „Wir sind gekommen, weil wir als Älteste auch ‚deine’ Hirten sind. Wir sind hier, um dich zu ermuntern!"
P. O.: „Haben euch die Brüder in Selters telefonisch über mein Anliegen informiert, und dann gebeten mit mir zu sprechen?"
M. M.: „Nein, es ist weder üblich noch möglich derartige Themen am Telefon zu erörtern. Die Gefahr, dass sich Missverständnisse aufbauen, ist zu groß!"

etc. etc.

Indes räumt M. M. an dieser Stelle ein, mehr beiläufig allerdings, dass sich die Ältestenschaft der Versammlung Hbg.-XXX mittels der besagten Antwortschreiben aus Selters und aus der Tatsache heraus, dass der Älteste Bruder D. C. mein Buch gelesen habe, ein Bild von dem Sachverhalt gemacht habe…

Ich weise auf die Tatsache hin, dass ich auf meine letzen beiden Briefe an ‚Jerusalem’ tatsächlich noch immer keine Antwort erhielt, dass weder meine Zeilen vom 7. Oktober noch die vom 1. Dezember des Jahres beantwortet wurden. Auch den Umstand, dass ich letzteren Brief, um wirklich ganz sicher zu sein dass er den Adressaten erreicht, per ‚Einschreiben’ sandte, lasse ich nicht unerwähnt.

P. O.: „Rückblickend betrachtet, musste ich, im Rahmen einer von mir angestrebten Verständigung, zu keiner Zeit eine derartig gestaltete ‚Kühle’ erfahren. Niemals vorher begegnete mir ein dermaßen strukturiertes Gebaren der Gleichgültigkeit, ein Abneigungs-Gebaren, das höchst unzweideutig prädestiniert ist, sich in der Aussichtslosigkeit der kommunikativen ‚Leere’ zu verlieren".

Ein sichtliches Erstaunen lässt sich an dem Mienenspiel meines Besuches ablesen, ein Erstaunen, das offensichtlich in einer Nachdenklichkeit mündet. Aus meiner Sicht scheint letztere Konstellation bei M. P. länger nachzuwirken als bei M.M. ...

M. M. öffnet seine Bibel an der Stelle, an der ein größerer ‚Spickzettel’ positioniert ist.

M. M.: „Wir haben uns gründlich auf unseren Besuch vorbereitet. Wir würden gerne mit dir einige biblische Gedanken besprechen. Bist du damit einverstanden? Hättest du etwas dagegen, wenn wir vorher zusammen ein Gebet sprechen? ... Hast du eine Bibel parat?"

M.M. liest aus dem Brief des Judas, den Vers 23: „...rettet sie, indem ihr sie aus dem Feuer reißt..."

M. M.: „Wir wollen dir helfen, wir wollen dich ‚aus dem Feuer reißen’ - das ist der Grund unseres Kommens! Wir sind um deine ‚Geistige Gesundheit’ besorgt, und „hast du die ‚Einsichten Bücher’ in greifbarer Nähe? Magst du den ‚Band I’ mal holen? Wir würden gerne einige Absätze mit dir besprechen! Auf der Seite 22 geht es los. Hättest du etwas dagegen, wenn wir zusammen die ab dem zweiten Absatz angeführten Gedanken Wort für Wort lesen und dann vielleicht besprechen?

Ich nehme mir das ‚Einsichten Buch Band I’ und schlage die Seite 22 auf.

„Abfall, Abtrünnigkeit", lautet die kursiv wie fett gedruckte Überschrift des zweiten Absatzes. „Abfall und Abtrünnigkeit" wundert mich sehr...

M. M. beugt sich über den Artikel, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch liegt. Er setzt sich auf seinem Platz in Position, korrigiert wiederholt und sehr unruhig seine Sitzposition.

Nunmehr kann ‚ich’ mein Erstaunen nicht verbergen, aber das liegt auch fernab meiner Absicht. M. P. scheint mit seinem Sitzen ebenfalls nicht so recht zufrieden zu sein, auch er korrigiert mehrmalig seine Haltung.

M.M. weist der Diskussion ihren ‚Roten Faden’.

M. M.: „Was ist eigentlich Abtrünnigkeit? Woran erkennt man sie? Was sind ihre Merkmale? Ich lese dir jetzt ein paar interessante Abschnitte des Artikels vor, und wir können uns danach dann gemeinsam Gedanken machen, inwiefern sie eventuell unser Thema berühren."

Den sich mehr als aufdrängenden Hintergrund dieser Vorgehensweise verurteilend, beginne ich an dieser Stelle, mein Recht auf Wiederspruch einzusetzen.

P. O.: Zu keiner Zeit war ich von der ‚Wahrheit Jehovas’ abtrünnig! Das ist eine Realität, die nicht allein dadurch eine Relativierung erfahren kann, dass ich mich bemühe, mittels einer ‚konstruktiven’ Kritik, unserer ‚gemeinsamen’ Religion zu einer unumgänglichen Reformation zu verhelfen!"

M. M. bemüht sich nicht, zu verbergen, dass er auf jeden Fall die von ihm erwählten Gedankengänge präsentieren will. Die Aussicht auf eine Verständigung, die etwa auf einer anderen Ebene lagert, sehe ich nicht gegeben. M. M. verliest nacheinander, deutlich betonend, die Essenz der seitens der Gesellschaft gedruckten Erklärung des Begriffes „Abtrünnigkeit":

Deutlich erkläre ich, dass ich weiterhin erleichtert wie beruhigt sei, da sicherlich keiner der soeben erwähnten Punkte auf mich zutreffen würde.

Ausdrücklich fordere ich meinen Besuch dazu auf, im Falle, dass sie bezüglich meiner Erklärung einen Zweifel hätten, ihn hier und jetzt offen zu formulieren.

M. M.: „Dazu komme ich noch!"

Zu dieser von mir verlangten Begründung ist es dann allerdings nicht mehr gekommen, obwohl ich sie im Verlaufe des Gesprächs wiederholt angesprochen habe.

Ich bemühe mich, auf die angeführten Punkte näher einzugehen. Weise im Gegenzug auf den Punkt „Irrlehren" hin, lehne ihn, in der Absicht meine Brüder nicht zu beleidigen, vorsichtshalber an den Begriff „Täuschungen" an. Weise dessen ungeachtet dann, zugegeben nicht ohne ein inneres Schmunzeln, darauf hin, dass wir als Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas es doch letztendlich waren, die sich bereits des Öfteren, und zwar in nicht unwesentlichen Dingen, fundamental geirrt wie getäuscht haben. Ich zeige an, dass wir es waren, wir, die Organisation der Zeugen unseres Gottes, die sich jahrzehntelang abmühten das Jahre „1975" mit dem Gericht Gottes, mit „Harmagedon", in untrennbarer Verbindung zu bringen, dass wir es doch waren, wir, die Wachtturm-Bibel und Traktatgesellschaft, die sich jahrzehntelang abhetzte erdenweit zu proklamieren „dass die Generation jetzt lebender Menschen die das Jahr 1914 erlebte, keinesfalls sterben wird bevor sich diese Harmagedon- Gerichtsbotschaft an der Menschheit erfüllen wird", dass letztendlich wir es waren, wir, die breitgestreute Bruderschaft der Jehovas Zeugen, wir, die wir als Gesellschaft unseren Hauptsitz in den Vereinigten Staaten von Amerika haben, dass wir es waren, die sich in einer beispiellosen „Wettlauf-Daueraktion" abplackte um ohne jegliche Unterbrechung einen Hinweis darauf zu geben, dass heutzutage der „König des Nordens" der Ostblock, Russland, sei, und dass dieser „König" Zwietracht mit dem „König des Südens", Amerika, haben wird, ja dass beide Könige einen Krieg führen werden, der sicherlich in „Harmagedon", in die Vernichtung der ungehorsamen, gottlosen Menschen, übergehen wird.

Wir waren es doch, die keinesfalls mittels unserer Einsicht sondern vielmehr durch die „Zeit" geläutert wurden. Wir waren es doch, die sich selbst und bedingt dadurch, andere täuschten, die, zugegeben ohne besseren Wissens, „Irrlehren" verbreiteten, und das sowohl erdenweit, als auch über eine Zeitspanne, die Generationen beschäftigte. Irrlehren, deren Auswirkungen tatsächlich bis auf den heutigen Tag immer noch Generationen in seinen Bann ziehen. Das waren wir, jawohl, wir! Diese „Irrlehren", also „Lehren" die sich ganz offensichtlich aus einem „Irrtum" heraus ergaben, stapeln sich in unseren Archiven. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass sie dort unter einer anderen Überschrift abgelegt wurden. Wie auch immer. Es waren unsere Irrlehren. Waren, ja sind wir von daher Abtrünnige, und das, weil wir selbige demutsvoll beachteten?

Und da ist es wieder, jenes sichtliche Erstaunen, das sich an dem Mienenspiel meines Besuches ablesen lässt, ein Erstaunen, das wiederum erkennbar in einer Nachdenklichkeit mündet. Noch einmal scheint letzteres Zusammentreffen, aus meiner Sicht, bei Bruder M. P. länger nachzuwirken als bei Bruder M. M. ...

Bei M. M. hält der Zustand des ungewollten Nachdenkens nicht lange an, jedenfalls nicht momentan, nicht hier und nicht jetzt, er findet relativ schnell zurück zu seinem „Roten Faden".

M. M.: „Warum wartest du es nicht ab, bis Jehova die von dir genannten Probleme löst?"

P. O.: „Ich rege lediglich an, dass wir als Zeugen Jehovas mit ‚der’ sinnvollen Aufarbeitung der Problemstellungen beginnen sollten, deren Reformation uns seitens unseres Gottes ‚gestattet’ wird. Von ‚den’ Angelegenheiten spreche ich, deren folgerichtigen Erneuerung, deren zweckmäßiger Modulation, sich durchaus ‚innerhalb’ des uns von Jehova gegebenen Handlungsspielraums liegt. Die befriedigende Überarbeitung ‚unseres’ selbstauferlegten Wettlaufs, die dringende Reparatur ‚unserer’ Zeiteinteilung spreche ich an. Ich rede von einer unglücklichen Einteilung, von einer bedauerlichen Zuweisung die erwiesenermaßen dazu verurteilt ist, stets und ständig in einer grauen ‚Litanei der Wiederholung’ zu münden! Wir brauchen nicht ‚generell’ bezüglich ‚jeglicher’ Bedürftigkeit auf Jehovas Zugriff warten! Für gewisse Dummheiten müssen wir ‚selber’ gegenzeichnen! Ein funktionierendes Gehirn zu besitzen und es dennoch ‚nicht’ einzusetzen, halte ich für eine Gotteslästerung. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich jene Handlungsweise sogar als eine der größten Lästerung unseres Gottes bezeichnen lässt, als eine der umfangreichsten Schmähungen des uns von Gott gegebenen freien Willens! Wir sollten uns weder im Bagatellisieren noch im Ignorieren üben, sollten weder das ‚Verharmlosen’ mit weisem ‚Ruhebewahren’ noch das ‚Abwarten’ mit demutsvoller ‚Gottergebenheit’ verwechseln!")

Über die Zeitspanne einiger Sekunden herrscht eine betonte Stille im Gerichtssaal.

M. M.: „Was du, P. O., als eine graue ‚Litanei der Wiederholungen’ bezeichnest, das ist für viele andere eine Angelegenheit, auf die sie nicht verzichten möchten! Ich, zum Beispiel, ich wäre auf dich, P. O., sehr sauer, wenn aufgrund deiner Briefe auch nur ‚eine’ der anberaumten Versammlungen wegfallen würden! Ich brauche die Zusammenkünfte, ich gehe immer gerne in die Versammlung!"

Das zielt zwar an der eigentlichen Thematik in einem größeren Abstand vorbei, aber ich kann mich problemlos darauf einstellen. Kurz entschlossen wende ich mich Bruder M. P. zu.

P. O.: „Matthias, du hast dich bis jetzt ziemlich zurückgehalten. Es würde mich wirklich interessieren, worin deiner Meinung nach die Begründung liegt, dass sich beispielsweise am Sonntag stets wie offensichtlich die gesamte Bruderschaft freut, wenn es bekannt gemacht wird, dass der angekündigte Vortrag ausfällt?"

M. P.: „Ich kann nicht beurteilen ob es sich so verhält, ich glaube nicht dass du da Recht hast! Ich jedenfalls freue mich nicht über den Ausfall eines Vortrages! Ich bin der Meinung, dass du diesbezüglich hinterm Mond lebst, du weiß doch gar nicht mehr was bei uns los ist! Wie kannst du nur in dieser Weise über deine Brüder denken?

Was dann im Anschluss folgt, nämlich ein längeres Statement vom Ältesten M. P., will ich hier nicht unbedingt wiedergeben, auch nicht stichworthaltig, das wäre sicherlich unfair.

Allein die Tatsache sei hier kurz erwähnt, dass ihn während seiner gesamten Rede, vielmehr eine Predigt die ihm erkennbar in Ermangelung an gemeinverständlichen Argumenten nicht gerade leicht von den Lippen kommt, M. M. recht verunsichert von der Seite ansieht, und das in einer Weise, die mir zwangsweise ein inneres Lächeln abverlangt: Als mich im Sommer der Kreisaufseher G. M. besuchte, und zwar in Begleitung von M. M., da ergab sich eine fast identische Situation. Damals hielt mir M. M., nachdem er lange geschwiegen hatte und sich dann berufen fühlte, sich doch noch zu äußern, eine Mahnrede. Selbige wirkte ebenfalls auf mich nicht gerade authentisch, und an dem Mienenspiel von G. P. meinte ich es ablesen zu können, dass auch er in diese Richtung dachte.

Beide Auftritte sind, trotz der sich aufdrängenden Situationskomik, verhältnismäßig unglückliche Begebenheiten. Das habe ich meinen beiden Brüdern unmissverständlich, wie ich im Nachhinein hoffe, zu verstehen gegeben.

„Alles ist gesagt!", denke ich laut, „worüber sollten wir noch reden wollen?"

M. M. scheint sich doch ein klein wenig mehr zu ärgern, als er es sich vorgenommen hatte. Das provoziert zu haben, schreibe ich mir nicht auf die Fahne. Dennoch, im Hinblick auf unsere gemeinsamen Bemühungen, kein befriedigendes Ergebnis.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass das nun folgende Wortwechsel-Protokoll, und das gilt sicherlich für jegliches der in diesem Skript angeführten Gesprächsprotokolle, lediglich dazu dienen kann, die „Inhalte" der Gesprächsebenen wiederzugeben. Es ist mir zwar unmöglich, mich auf jedes einzelne der gesprochenen Worte sowie die genaue Reihenfolge, in der sie Erwähnung wurden, zu erinnern, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich sehr wohl in der Lage bin die reale „Botschaft" der Wortwahl, ihren Extrakt, genauestens aufzuzeigen. Dessen ungeachtet bin ich mir allerdings ebenso sicher, dass ich die weitaus meisten der hier angeführten Zitate zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift noch erstaunlich gut in Erinnerung hatte, und ich sie demzufolge auch brauchbar wie annähernd wortgetreu wiedergebe.

M. M.: „Wenn du weiterhin derartige Meinungen vertrittst und künftig versuchen solltest, die Brüder für deine Ansichten zu gewinnen, dann werden sich die Ältesten der Versammlung mit dir beschäftigen müssen!"

P. O.: „Was meinst du, M., wenn du sagst, ‚dann werden sich die Ältesten mit dir beschäftigen müssen’, was genau habe ich darunter zu verstehen?"

M. M.: „Ich möchte das jetzt nicht weiter vertiefen! Ich will mich nicht auf diesem Niveau unterhalten!"

P. O.: „Ich verstehe noch immer nicht, M., was willst du mir denn mit deiner Aussage ‚dann werden sich die Ältesten mit dir beschäftigen müssen’ signalisieren. Willst du damit andeuten, dass ich dann mit einem ‚Ausschluss’ rechnen muss?"

M. M. dann mit offenkundigem Unbehagen und nach auffallend längerem Zögern, währenddessen er mehrmalig wie umständlich seine Sitzposition korrigiert:

„Das habe ich nicht gesagt!"

P. O.: „Ja aber was hast du denn sagen wollen? Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe! Es kann doch nicht so schwer sein, die von dir soeben geäußerte Ankündigung, deine gerade eben gezielt an mich gerichteten Worte, deine Botschaft an mich hinreichend verständlich zu erläutern. Wie versteht sich das rein Inhaltliche deiner Äußerung? Bist du sicher, M., dass du mir nicht mit einem Ausschluss aus unserer Religionsgemeinschaft drohen wolltest? Verstehen sich deine Worte nicht als eine Warnung? Du kannst es mir frei heraus sagen, wenn es sich tatsächlich so verhält, ich bin sicher, dass ich das von dir verlangen darf! Ich muss und will dich richtig verstehen!"

M. M. wieder mit bemerkbarer Beklommenheit und nach wiederholter Korrektur seiner Sitzposition:

„Solltest du deine Meinung nicht grundlegend ändern, dann kann es sein, dass die Brüder der Versammlung sich von dir distanzieren werden, das habe ich mit meinen Worten gemeint!"

Ich bin jetzt ziemlich sicher, dass sich der Älteste M. M. mit der besagten Formulierung ‚zu weit aus dem Fenster gelehnt’ hat. Zwar empfinde ich mein permanentes Nachhaken selbst schon als recht unangenehm, bin mir aber der Tatsache bewusst, dass ich auf einer Aufklärung gerade dieser Anmerkung unbedingt, hier und jetzt bestehen muss.

P. O.: „Das durchschaue ich nicht, M., deine von mir immer noch nicht verstandene Aussage lautete doch ‚dann werden sich die Ältesten mit dir beschäftigen müssen’, ‚beschäftigen’, M., ‚beschäftigen’! Wenn du nun aber sagst ‚dann kann es sein, dass die Brüder der Versammlung sich von dir distanzieren werden’, ‚distanzieren’, ja dann sind das doch gegensätzliche Aussagen, wie sie widersprüchlicher wirklich nicht sein können! Oder siehst du das anders? M., kann es sein, dass du im Begriff bist, deine Wortwahl im Nachhinein zu revidieren, und das, obwohl sie genauestens den Sachverhalt widerspiegelt? Bist du sicher, M., dass du dir jetzt nicht selber etwas vormachst? Entspricht die zuletzt von dir abgegebene Erklärung bezüglich deiner von mir unverstandenen Aussage der Wahrheit, entspricht sie wirklich deiner Meinung? Ich sage dir hiermit offen, dass ich das nicht glauben kann! Ich gehe vielmehr davon aus, dass du momentan nicht ganz ehrlich bist, nicht zu dir und somit auch nicht zu mir! Ferner wird mir leider zunehmend deutlich, dass weder du, noch die gesamte Ältestenschaft es in Erwägung zieht, auch nur ‚im Geringsten’ auf meine Einsprüche näher einzugehen! Ihr gebt mir und meinen Ideen ‚nicht die kleinste’ Chance, auf eine zuverlässige, reelle Bewährungsprobe! Geahnt habe ich es bereits, das schon, und obwohl ich schon mehrfach darauf hinwies, konnte ich es mir in allerletzter Konsequenz nicht so recht vorstellen!"

Belanglose Bemerkungen seitens meines Besuches, lösen übergangslos ein betretenes Schweigen ab.

P. O.: „Noch mal, M., wir haben dieselbe Hoffnung, basierend auf ein und derselben Religion! Auch ich bin auf meinen Glauben angewiesen, auch ich will und werde ihn nicht relativieren! Ich möchte mithelfen, und zwar in Gemeinschaft mit meinen Glaubensbrüdern, das zu reformieren, was einer dringenden Reform bedarf, einzig und allein auf dem Vorsatz ruhen meine Beanstandungen, eine zugegeben relativ ungewöhnliche, aber dennoch konstruktive Kritik! Beenden wir das Gespräch doch mit diesem Gedanken. Wir sollten das Gespräch jetzt abbrechen. Belassen wir es besser dabei. Mir scheint, dass das, was wir uns heute gegenseitig sagen wollten, auch gesagt und ausreichend dargelegt wurde. Ich weiß eure Bemühungen zu schätzen, und bin davon überzeugt, dass ihr letztendlich nichts anderes als eure Pflicht zu tun gedenkt. Ich danke euch für die Zeit die ihr euch für mich nahmt, ich danke euch für euren Besuch!"

Schweigen. Gegenseitiges ‚in die Runde’ sehen. Es kommt mir vor, als würde M. M. der Abschluss nicht gefallen, als hätte er einen ganz anderen Satzbau für das Ende der Gesprächsrunde vorgesehen.

M. M.: „Gut, belassen wir es bei dem Gedanken. Aber wir könnten es auch bei dem Hinweis belassen, dass du dich noch einmal selber eingehend mit dem Grundgedanken der Bibelstellen beschäftigst, die wir soeben mit dir zusammen besprachen!"

Das Gespräch findet damit erwartungsgemäß schnell sein Ende. Es herrscht, wie ebenfalls zu erwarten, eine gelockerte Atmosphäre. Noch einmal bedanke ich mich für den Besuch der beiden Ältesten. Wir reichen uns die Hände und verabschieden uns dann recht schnell.

Meine eigentliche Frage an M., nämlich ob die Ältestenschaft in Selters die Versammlung beauftragt hatte, mich hinsichtlich meines letzten Briefes an ‚Jerusalem’ aufzusuchen, blieb also unbeantwortet, und somit ist es weiterhin ungewiss, ob ich überhaupt noch seitens der Gesellschaft eine Antwort auf meine Zeilen erwarten kann oder nicht.

Zum Abschluss ein Zitat, das ich in diesen Tagen rein zufällig in einem kleinen Kurierblatt las, und von dem ich annehme, dass es sich recht unkompliziert mit meiner momentanen Gedankenlandschaft vereinigen wird:

Tradition ist nicht das Bewahren von Asche, sondern das Schüren der Flamme.

Jean Jaurès, franz. Philosoph, 1858-1914