Marina Schmidt, Autorin des Buches Ich war eine Zeugin Jehovas schildert im Gespräch mit infolink, wie sie selbst ihren Ausstieg erlebt hat und wie sie auf den Gedanken gekommen ist, ihre Erfahrungen literarisch aufzuarbeiten. Das Gespräch führte „solaris“.

Hand aufs Herz: Fast 20 Jahre nach Deinem Ausstieg aus der Sekte der Zeugen Jehovas, überkommt Dich noch manchmal die Angst vor Harmagedon?

Die Angst vor Harmagedon ist mir von allen Gefühlen, die ich damals zu meiner Zeugen-Jehovas-Zeit hatte, noch am lebhaftesten in Erinnerung. Sie verfolgte mich bis in meine Träume hinein und bestimmte letztendlich mein Handeln.

Seit dieser Zeit ist nun wirklich viel Wasser den Bach herunter gelaufen, und schon wenige Monate nach meinem Austritt war die Harmagedon-Angst nahezu verschwunden. Ein solches Dahinschlachten Ungläubiger, als welches Harmagedon mir immer beschrieben worden war, wurde für mich mehr und mehr unvereinbar mit der Vorstellung eines liebevollen Gottes. Im Laufe der Jahre lernte ich auf zahlreichen Reisen die verschiedensten Religionen und Kulturen hautnah kennen, und es ist für mich heute völlig undenkbar, dass all diese Menschen sterben sollten, weil sie angeblich Gott nicht auf die „richtige“ Weise anbeteten.

Wenn ich also nach meiner heutigen Angst vor Harmagedon gefragt werde, sage ich, dass ich zu 98% keine Angst habe. Die Existenz von wirklicher Liebe und Freiheit schließt die Existenz der Angst aus. Aber nun befindet sich ja meine Hand auf meinem Herzen, und wenn ich ganz, ganz tief hineinspüre, finde ich da noch die restlichen 2%. Ich kann genauso wenig absolut ausschließen, dass Gott in einem alles vernichtendem Racheakt die ach so verdorbene Menschheit von der wunderschönen Erdoberfläche vertilgen wird, wie ich mit Gewissheit ausschließen kann, dass der Mond aus grünem Käse ist (bin schließlich noch nie da gewesen). Ich denke, dass diese Restspuren von Angst ganz natürlich für mich als menschliches Wesen sind, und ich tendiere dazu, das noch nicht einmal als Angst zu bezeichnen. In diesem Sinne bin ich heute frei von Angst, einschließlich der Angst vor dem Tod, wodurch auch immer.

Was hat Dich eigentlich so viele Jahre nach Deinem Ausstieg dazu bewogen, ein Buch über Deine Zeit als Zeugin Jehovas zu schreiben?

Ein Buch über meine Zeit als Zeugin Jehovas wollte ich bereits ein Jahr nach meinem Ausstieg schreiben – und habe es auch. Das Manuskript liegt auf meinem Dachboden, es steckt voller Ironie, Anschuldigungen und Bitternis. Als ich es damals meinem Mann zum Testlesen gab, war seine Reaktion: „Das ist ein Aussteigerbuch wie jedes andere auch.“ Und damit hatte er ja so Recht! Dann habe ich meine beiden wunderhübschen Kinder bekommen, und die Zeit zum Schreiben wurde von ihnen absorbiert. Das führte dazu, dass Jahr um Jahr verstrich, und mit ihm der Zorn verrauchte, das Vergeben kam, das Verständnis wuchs, die persönliche Entwicklung fortschritt. Schließlich war es mein Ziel, ein Buch zu schaffen, das den gefühlsmäßigen Zugang in die Methoden der Indoktrination möglich machen sollte, sowohl für Menschen mit Vorwissen wie auch für Menschen, die der Materie fern waren. Dieses Buch schrieb ich 2003 – zwölf Jahre nach meinem Ausstieg. Ohne diesen zeitlichen Abstand wäre es vermutlich nicht geworden, wie es ist.

Sicherlich haben Dich nach der Veröffentlichung auch einige Reaktionen erreicht. Kannst Du uns ein paar besonders markante vorstellen?

Für jeden Autor sind die Leserreaktionen das eigentliche Gehalt und die größte Freude. Wenn ich Postkarten bekam von jungen Menschen, die alle den Tenor hatten „zur-zeit-studiere-ich-mit-den-zeugen-jehovas-und-jetzt-habe-ich-ihr-buch-gelesen“, war das für mich immer die größte Belohnung.

Dann gab es da auch eine Mutter, deren Tochter schon seit Jahren bei den Zeugen Jehovas war. Ihr hatte meine Geschichte das Verständnis für ihre Tochter ermöglicht und den Weg zur Akzeptanz geöffnet, die die Grundlage für jede Art der Veränderung ist.

Es gab natürlich auch kritische Meldungen, vor allem bei Lesungen, dass ich im Grunde doch gar nichts Schlimmes erlebt hätte (was in gewissem Sinne ja auch stimmt) und dass man eigentlich schon, salopp gesagt, „schön blöd“ sein müsse, um in eine Sekte hineinzurutschen (wo auch wieder etwas Wahres dran ist). Mit solchen Meinungen kann ich leben. Wo ich schon etwas dran zu kauen hatte, war die Äußerung in dieser Buchbesprechung beim Deutschlandradio, die mich als „misanthropisch“ und „seelisch nicht gesund“ bezeichnete und meinen Text „unbeholfen und voller Wiederholungen“ nannte. Da tröstet mich nur das alte Sprichwort: „Einen toten Hund tritt man nicht.“

Nicht zuletzt hat natürlich auch meine eigene Verwandtschaft das Buch mit großem Interesse verschlungen, und so wurde für meine eigene Familie erst Jahre nach meinem Austritt klar, was damals eigentlich abgelaufen war und warum ich auf diese Weise gehandelt hatte.

Vermutlich hast Du im Nachhinein oft reflektiert, was gerade Dich persönlich so besonders empfänglich gemacht für die Verführung durch die Sekte. Bist Du dabei zu allgemeinen Schlussfolgerungen gekommen, welcher Menschentyp hierfür besonders gefährdet ist? Oder kann es jeden treffen?

Diese Vermutung trifft natürlich zu. Nicht zuletzt das Niederschreiben meiner Geschichte ließ alle Emotionen wieder hochkommen, und auch mir stellte sich die Frage, wie das alles eigentlich passieren konnte.

Ich denke, was mich damals so empfänglich machte, war die Tatsache, dass ich ein suchender Mensch war, suchend nach den umfassenden Antworten auf die großen Fragen des Lebens - Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? – und da haben die Zeugen Jehovas zur richtigen Zeit an die richtige Tür geklopft (oder zur falschen Zeit an die falsche Tür, wie man es will), praktischerweise mit einer fertigen Antwort auf diese Fragen zur Hand. Es schien alles wie Puzzleteile zusammenzupassen.

Was ich lange nicht für mich beantworten konnte war die Frage, warum ich dieses Puzzle allerdings so einfach hinunterschlang. Wo war das kritische Hinterfragen geblieben, ich glaubte doch sonst auch nicht alles, was man mir einfach so erzählte. Die Antwort ist hier wohl in den feinen Mechanismen der Indoktrination zu finden. Mit dem Wunsch nach dem Paradies wurde zugleich auch die Angst vor Satan und Harmagedon eingepflanzt, und das gab der Sekte Macht über mich. Dass mir (scheinbar) Freundschaft angeboten wurde, hat meine Metamorphose in einen Sektenfanatiker damals natürlich nicht unwesentlich beschleunigt.

Grundsätzlich denke ich daher, dass es tatsächlich jeden treffen kann, wenn mehrere günstige Umstände zusammenkommen: Sinnsuche, soziale Isolation, der Wunsch nach einer besseren Welt, alles davon kann eine Rolle spielen. Ich vermute aber, dass aufrichtige, kompromisslose Menschen eher empfänglich sind als solche, die sich hauptsächlich um ihre eigenen kleinen Sorgen kümmern und ansonsten „den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“.

Was hätte Dich vor Deiner Taufe noch bremsen können? Ein Erfahrungsbericht, so wie Du ihn verfasst hast?

Ehrlich gesagt bezweifele ich, dass mich überhaupt irgendetwas hätte bremsen können. Ich hätte alles als Angriff der bösen Mächte auf meine Loyalität Jehova gegenüber verstanden und somit schlicht die Augen davor verschlossen.

Wenn überhaupt irgendetwas hätte helfen können, dann ein Buch wie dieses, aber auch nur im frühen Stadium der Anwerbung. Vielleicht hätte es mich trotzdem nicht von meinem Weg abhalten können, aber die inneren Widersprüche in dem, was ich hörte, was ich sah und was ich fühlte, wären vielleicht nicht so erfolgreich verdrängt worden.

Aber was helfen die ganzen „vielleicht“, ich hoffe, dass ich wenigstens heute dem einen oder anderen dadurch helfen kann, auch wenn mir damals wohl nicht mehr zu helfen war.

Welchen Rat kannst Du von solchen Situationen betroffenen Angehörigen geben?

Ich hatte an mir selbst erlebt, dass mich sämtliches Bedrängen durch meine Angehörigen nur noch tiefer in die Sekte hineingetrieben hat (und sei es nur, um ihnen zu beweisen, dass ich Recht hatte und sie nicht). Daher gebe ich Angehörigen immer folgenden Rat:

Versuchen Sie, den Verführten zu akzeptieren, genau so wie er ist. Verschaffen Sie sich alle Informationen über die Sekte, die Sie bekommen können, aber nicht um zu überzeugen, sondern um zu verstehen und Verständnis zeigen zu können. Machen Sie Ihrem Angehörigen immer wieder deutlich, dass Sie ihn immer noch lieben, dass Sie zuversichtlich sind, dass er seinen Weg finden wird, und dass Sie immer für ihn da sein werden. Letztendlich heißt es, Ruhe zu bewahren, denn es ist doch immer noch am wichtigsten, dass derjenige glücklich wird, wie auch immer er das erreichen will, und Fehler gehören zum Leben dazu.

Jedem Neuen wird in der Versammlung der Zeugen Jehovas erzählt, dass er hier wahre Liebe spüren könnte und dass er daran Jesu wahre Jünger erkennen sollte. Umso wichtiger ist es, dass wir als Außenstehende für eine liebevolle Atmosphäre sorgen, um die Behauptung der Zeugen Lügen zu strafen. Bedingungslose Liebe ist in den Reihen der Zeugen Jehovas so fern wie nirgendwo sonst.

Kommen wir auf den Umgang der Zeugen mit Ex-Brüdern zu sprechen. Der Pressesprecher der Zeugen Jehovas Bernd Klar hat hierzu einmal folgendes behauptet: „Der Regelfall ist so, wenn ich heute sagen würde, ich möchte kein Zeuge Jehovas mehr sein, aus dem Saal hier raus gehe, passiert mir überhaupt nichts. Meine Glaubensbrüder würden mit mir sprechen, die würden sicherlich mal vorbeikommen und fragen, warum ich kein Zeuge Jehovas mehr sein möchte.“ Du hast das allerdings anders erlebt. Deine Glaubensbrüder wollten nach Deinem Austritt nicht in einem Raum mit Dir zusammen sein. Wie erklärst Du Dir diese Diskrepanz zwischen offiziellen Anspruch der Zeugen Jehovas und dem tatsächlichen Verhalten ihrer Basis?

Zeugen Jehovas arbeiten gerne mit Halbwahrheiten, was sie anscheinend als weniger verurteilenswert als offene Lügen empfinden. Was hier angesprochen wird, ist eher schon eine Viertelwahrheit. Sicher ist es korrekt, dass dem Aussteiger im Vergleich zu anderen Sekten wie z. B. Scientology „überhaupt nichts“ passiert. Vermutlich kommt auch der eine oder andere Älteste mal vorbei und fragt, „warum ich kein Zeuge Jehovas mehr sein möchte“, immer mit Strategien im Hinterkopf, wie man den Abgefallenen doch noch in die Schafherde zurücktreiben könnte. Für alle anderen ehemaligen Glaubensgeschwister gilt jedoch die Anweisung, mit demjenigen „keinen Kontakt“ zu pflegen und ihm „nicht einmal einen Gruß“ zu entbieten, und jeder, der dagegen verstößt, macht sich der Untreue Jehova gegenüber schuldig. Dies ist das größte Druckmittel, dass die Sekte hat, um Zweifler bei der Stange zu halten: der Verlust der sozialen Kontakte.

Nach außen kann sich die Wachtturmgesellschaft so natürlich nicht darstellen, weil ihre Identität dann offenbar würde. Also geben sie sich als harmlose Religionsgemeinschaft wie jede andere, aber da ich sowohl einen Austritt aus einer harmlosen (der evangelischen) wie auch einen Austritt aus einer weniger harmlosen Religionsgemeinschaft hinter mich gebracht habe, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass das zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind. Übrigens war es auch problemlos, in die evangelische Kirche wieder aufgenommen zu werden, was bei den Zeugen Jehovas ja auch nicht so ohne weiteres geht.

Das tatsächliche Verhalten der Basis in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ist Anlass zahlloser menschlicher Tragödien, die uns in den Erzählungen anderer ehemaliger Zeugen Jehovas begegnen. Nicht jeder hatte das große Glück wie ich, nach dem Ausstieg eine Familie zu haben, die einen auffängt, und auf falsche Freundschaften einfach pfeifen zu können.

2005 haben die Zeugen Jehovas nach einem langwierigen Gerichtsprozess mit der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts einen gewaltigen juristischen Sieg errungen. Ist das ein Beweis dafür, dass diese Religionsorganisation inzwischen harmlos geworden ist oder zeigt das nur, dass das Rechtssystem in unserem Land im Umgang mit solchen Gruppen überfordert ist?

Ich will fair bleiben: Ich bin seit 1991 kein Zeuge Jehovas mehr, und ich kann aus eigener Erfahrung nichts mehr zu dem Thema beisteuern, inwiefern die Zeugen Jehovas nun harmloser als früher geworden sein könnten. Nur noch sehr selten gerät mir mal ein „Wachtturm“ zwischen die Finger, aber beim oberflächlichen Durchblättern schien es doch alles noch beim alten geblieben zu sein. In einigen Dingen wie z. B. Teilnahme an Wahlen, Ausüben des Klassensprecheramtes und ähnlichem könnte ich mir eine Lockerung der Regeln zugunsten eines günstigeren äußeren Erscheinungsbildes vorstellen, aber ich vermute, dass der innere Druck auf die Entscheidungsfindung der Mitglieder nicht weniger geworden ist, in dem Sinne „du weißt, was Jehova von dir erwartet“.

Das Rechtssystem in unserem Land hat im Umgang mit solchen Gruppen keinen großen Spielraum. Was im Verborgenen geschieht, bleibt im Verborgenen und kann bei der Urteilsfindung keine Rolle spielen. Im Grunde müsste der zuständige Richter sich mal für einige Jahre inkognito in ein Bibelstudium und in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas einführen lassen (wenn er sich traut), um den Unterschied zwischen offizieller und inoffizieller Lehre mal live und in Farbe zu erleben.

Die Erfahrungsberichte von Aussteigern wie Dir wurden ja in der richterlichen Urteilsfindung ausdrücklich ausgeschlossen. Wie wirkt das auf Dich?

Ja, das fand ich schon ein wenig seltsam. Die Begründung des Gerichts war, dass in Aussteigerberichten keine positiven Argumente zu erwarten sein könnten, sonst wären die Aussteiger ja nicht ausgestiegen. Warum in Aussteigerberichten mehr Unwahrheiten enthalten sein sollten als in der Selbstdarstellung der Wachtturmgesellschaft, leuchtet mir nicht ein. Wo anders als in Aussteigerberichten soll ich denn die schlimmen Dinge erfahren können, die so unter der Decke passieren. Wenn eine Ehefrau sich scheiden lässt und sie ihren Mann wegen seelischer Grausamkeit während all ihrer Ehejahre verklagen will, kann ihre Aussage doch auch nicht mit der Begründung „die kann ja nichts Positives über ihren Mann sagen, sonst wäre sie ja noch bei ihm“ zu den Akten gelegt werden. Aber deutsche Gerichte sind ja für so mancherlei Merkwürdigkeiten bekannt. Ich kann nur hoffen, dass irgendwann noch mal ein fähiger Anwalt die richtigen Argumente einbringt.


Das Netzwerk Sektenausstieg bedankt sich bei Martina Schmidt für die freundliche Genehmigung, dieses Interview hier veröffentlichen zu dürfen. (Dieser Artikel steht nicht unter unserer Creative Commons-Lizenz; vielmehr liegen alle Rechte bei Martina Schmidt.)