Also wo so ganz klar auch neben dieser Allwissenheit, die er besitzt, auch gleichzeitig unterschwellig dieses Bedrohliche rüberkommend, wenn er in der Richtung meint, ihr müsst euch gegen mich stellen: 'Passt nur auf, dass euch nichts passiert!' Ich weiss heute, dass ich teilweise auch jetzt noch so Phantasien habe: 'Oh Gott, was mache ich, wenn ich die Tür aufmache und draussen stehen alle möglichen Leute von Siebel?'

Susanne Scharra: Für manche war es schwer im Umgang mit dem Guru und seiner Gemeinde einen klaren Kopf zu behalten.

Wolfgang Schneider: Ich denke, dass es das Frappierende dabei ist, dass es wirklich schleichend passiert, dass man meint, klar im Kopf zu sein, dass man meint, ein kritischer Mensch zu sein und dabei nicht merkt, wie man zunehmend in so eine Abhängigkeit gerät.

Susanne Scharra: 'Siebel war für mich eine Droge', sagen manche, wenn sie versucht sich von ihm zu befreien. Elke Sieweking, die fünf Jahre lang Patientin bei ihm war, meint, es sei eine Umprogrammierung nötig gewesen, eine Entziehungskur, um Siebel als Halbgott in sich zu entmachten.

Elke Sieweking: Es war ein richtiger Entzug. Ich kann also die Ängste im Zusammenhang mit einer Sekte oder mit dem Austritt aus einer Sekte eigentlich nur beschreiben, dass sie sich eine neue Weltsicht erarbeiten müssen. Die Ängste davor sind gross, weil wir im Grunde genommen schwach und abhängig gewesen sind oder abhängig oft von einer Gemeinschaft. Es ist natürlich unwahrscheinlich schwer das Zutrauen zu haben auch alleine in der normalen Welt zurecht zu kommen.

Susanne Scharra: Olaf Stoffel, wenn Sie die Berichte der ehemaligen Siebel-Anhänger hören, wie schwer ist es, sich aus der psychischen Abhängigkeit zu befreien? Kommen bei Ihnen alte Geschichten auch wieder hoch? Wie war das? Sie haben schon erzählt: Sie waren Anhänger der Neuapostolischen Kirche, als Sie ausgestiegen sind. Wie sind Sie in der normalen Welt zurechtgekommen?

Dr. Olaf Stoffel: Am Anfang war es nicht einfach, denn ich hatte ja mein Sinngebäude verloren. Vorher war ich auserwählt, ein Gotteskind, zu Höherem berufen, und auf einmal war ich ein ganz normaler Mensch wie alle anderen Menschen auch auf dieser Erde. Ich musste mir sozusagen einen neuen Sinn suchen. Und ich schwamm in einem Ozean der Ungewissheit. Und das war am Anfang schmerzhaft, habe mich aber dazu gezwungen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, endlich erwachsen zu werden und ein Gottesbild zu entwickeln, das eben nicht mehr bedrohlich war.

Susanne Scharra: Wenn Sie sagen 'schmerzhaft', dann haben Sie das auch empfunden wie einen körperlichen Entzug?

Dr Olaf Stoffel: Ich habe es empfunden wie einen körperlichen aber vor allen Dingen auch wie einen seelischen Schmerz. Es war das Gefühl, dass nun alles über mir zusammenbricht, dass ich nichts mehr habe, an dem ich mich festhalten kann. Und dieser Prozess hat dazu geführt, dass ich mich mit mir auseinandergesetzt habe. Mir wurde klar, dass ich die Dinge in die Hand nehmen muss, auch mein Leben und auch meine Familie, und dass ich letztendlich selbst entscheiden muss wie mein Leben weiter geht, und dass ich diesen neuapostolischen Gott, der ein strafender Gott für mich war, dass ich den ablegen muss, um überleben zu können.

Susanne Scharra: Wie hat denn die Neuapostolische Kirche reagiert? Die konnten das ja nicht einfach hinnehmen. Das ist ja dann auch ein extremer Druck, dem solche Abtrünnigen ausgesetzt werden.

Dr. Olaf Stoffel: Also, es war so, dass man mich gemieden hat. Also, viele Mitglieder, die ich vorher betreut hatte, haben mich als nicht mehr existent betrachtet. Das war das eine, das andere war dann, dass man eben bestimmte Gerüchte gestreut hat über meine Person. Und da ich sehr schnell in die Öffentlichkeit gegangen bin, und wir haben dann auch eine Selbsthilfegruppe gegründet, war ich dann letztendlich der 'Feind Nummer eins'. Das ist bis heute im wesentlichen so geblieben.

Susanne Scharra: Wie war das mit Ihrer Familie? Ihre Kinder, Ihre Frau, die waren ja alle mit Mitglied der Kirche. Wie haben die das verkraftet?

Dr. Olaf Stoffel: Also, für meine Familie war es vielleicht noch ein Stückchen schmerzhafter als für mich. Meine Frau war von Geburt an in der Neuapostolischen Kirche gewesen, und das war noch mit viel mehr Ängsten verbunden gewesen sich loszulösen, als für mich. Für die Kinder war es ein neues, ungewohntes Umfeld, jetzt ausserhalb dieser Gemeinschaft zu sein. Aber im nachhinein war es doch eine Entlastung.