Sie brauchen allein die Diskussion auf dem Katholikentag vor einigen Wochen vergleichen mit dem, was es in einer solchen Gruppe gibt, über Themen 'Dürfen die Frauen Priester werden?' oder 'Kann man gemeinsam Abendmahl feiern?' Zwischen Katholiken und Protestanten wird gestritten. Es gibt abweichende Meinungen, es ist eine äusserst lebendige Diskussion. Und den Grad von Verpflichtung, von Nähe und Distanz zur Organisation, kann heutzutage jedenfalls doch das Mitglied ziemlich genau selber bestimmen. Und das macht den Unterschied aus.

Susanne Scharra: Ich habe eben gesagt: Es gibt schätzungsweise über 6'000 sektiererische Gruppierungen in Deutschland, die sind ein bisschen enger. Wir würden sagen, es gibt vielleicht nur 600 wirkliche Sekten. Aber dennoch: Wieso so viele?

Lutz Lemhöfer: Ja, ich denke wir sind in einer Gesellschaft, wo es keine klaren traditionellen Vorgaben mehr gibt oder wo sie zumindest nicht mehr wirksam sind. Der Einzelne ist bei der Heilssuche doch sehr auf sich selber angewiesen und sucht dann unterschiedlich. Und jeder, der einen Heilsweg anzubieten hat, hat sicherlich heutzutage mehr Chancen gehört zu werden und überhaupt mal auftreten zu können, als das in früheren Zeiten der Fall war; wenngleich es Sekten natürlich immer gegeben hat, die ganze Religionsgeschichte hindurch.

Susanne Scharra: Aber was ist das Ziel einer Sekte? Geht es da wirklich immer nur um eine bestimmte Heilslehre oder geht es auch um Macht und Geld?

Lutz Lemhöfer: Um Geld geht es nach meiner Überzeugung keineswegs immer. Das ist ein Vorurteil. Wer heute besonders gut Geld machen will, der hat, glaube ich, ganz andere Möglichkeiten. Aber die Macht spielt eine Rolle. Die Mischung aus Idealismus und Macht. Die Behauptung: Ich kann nicht nur mich selber sondern alle anderen, die ganze Welt, retten, und das ist zugleich meine Verpflichtung. Das ist ja eine fürsorgliche Form unglaublicher Machtausübung. Das ist den Leuten keineswegs immer bewusst. Die fühlen sich als Idealisten, kommen oft auch aus idealistischen Motiven da hinein. Aber natürlich ist das mit Macht und mit Steigerung des Ego verbunden. Das Ego wird zwar in der Gruppe klein, aber die Gruppe selber ist ja so wichtig; und dann partizipiere ich an deren Grösse. Das ist der Reiz.

Susanne Scharra: Herr Stoffel, haben Sie das genau so erlebt bei der Neuapostolischen Kirche, oder wie war das?

Dr. Olaf Stoffel: Also, ich habe beides erlebt: Macht und Geld. Also, es liessen sich die so genannten Apostel, die höheren Amtsträger, zelebrieren. Man hat sie verehrt wie manche Führer aus einer dunklen Zeit in der deutschen Geschichte. Es ging aber auch um's Geld, denn Zehn Prozent des Einkommens mussten geopfert werden, wenn man den Segen haben wollte. Und insofern kommt da sehr viel Geld zusammen, und das war es beides letztendlich: Geld und Macht.

Susanne Scharra: Wir haben eben auch die Angst angesprochen, die dort geschürt wurde, die Sie erlebt haben. Bei den 'Zeugen Jehovas' ist es ja so, dass viele an diese Heilslehre glauben und dass sie auch dafür zum Beispiel ihr Leben riskieren würden. Wenn ich das richtig verstanden habe verweigern ja viele in der Tat eine Bluttransfusion, die ihnen das Leben schenken würde. Wären Sie bereit gewesen, Ihr Leben für den Glauben an die Neuapostolische Kirche in ähnlicher Weise zu opfern?

Dr. Olaf Stoffel: Also, es gab Zeiten, in denen ich mich sehr identifiziert hatte mit dem neuapostolischen Glauben. Und ich wäre wahrscheinlich so weit gegangen, wenn der Führer der Neuapostolischen Kirche gesagt hätte, tut dieses oder jenes, dass ich dann, wie man so schön sagt, nachgefolgt wäre. Ich möchte dazu sagen, dass das neuapostolische Glaubenssystem vielleicht nicht ganz so eng ist wie das der 'Zeugen Jehova' und dass es, muss man auch fairerweise sagen, Tendenzen gibt zur Liberalisierung. Aber es ist noch sehr viel Enge da und auch sehr viel Angst, einfach von Gott verlassen zu werden.

Susanne Scharra: Wenn wir sagen, Sekten sind gefährlich, haben Sie die Gefahr, der Sie ausgesetzt waren, als solche empfunden?

Dr. Olaf Stoffel: Als ich im System drin war habe ich die Gefahr nicht empfunden. Ich hatte aber oft eine latente Angst, es könnte doch alles falsch sein, was ich glaube, und habe das immer wieder verdrängt, und bin dann auch psychosomatisch krank geworden. Also, die Seele hat dann Alarm geschlagen. Und irgendwann konnte ich diesen Prozess nicht mehr aufhalten. Aber ich wollte diesen Schutzraum festhalten, dass ich eben auserwählt sei vor Gott.

Susanne Scharra: Herr Lemhöfer, was sind denn die Gefahren, die Gefahren, wenn man sich in den Netzen einer Sekte verstrickt?