AUF WAHRHEIT PRÜFEN

Andere Religionen bewerten

Welches Vorgehen empfiehlt die Gesellschaft für jemanden, der findet, dass seine Religion nicht den Anforderungen aus Gotte Wort genügt? Die Erwachet!-Ausgabe vom 8. September 1987 enthält Artikel, an Lutheraner gerichtet und mit der Antwort für sie. Ein Artikel dreht sich um Zitate aus Predigten von Dietrich Bonhoeffer, einem protestantischen Theologen, der von den Nazis hingerichtet wurde. Der Artikel trifft einige gute Feststellungen zu missbilligten Ansichten der Bibel von einigen protestantischen Theologen und über andere Defizite in protestantischen Religionen. Sehen wir uns die Punkte aus den Artikeln auf den Seiten 8, 10 und 11 näher an.

Interessant sind die folgenden Auszüge aus Predigten. Der Leser frage sich: Was bedeutet ein Beherzigen dieser Worte für die lutherische Kirche? Für meine Kirche?

„Darum ist es wichtig..., dass es der Religion wesentlich nur auf eins ankommt, nämlich wahr zu sein.“ [Zitat Bonhoeffer] Das stimmt mit den Worten Jesu überein, der sagte: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4:24; siehe auch Johannes 8:32; 14:6; 16:13). Kann ich sicher sein, dass alles, was meine Kirche lehrt, wirklich wahr ist?

Dann hieß es unter der Überschrift „Persönlich etwas unternehmen, wenn die Kirche nichts tut?“ in dem Artikel weiter:

Falls jemand mit dem, was er sieht, nach einer ehrlichen Prüfung alles andere als zufrieden ist, ist es nicht damit getan, dass er sich über den Missstand beschwert. Ein Journalist, der die Worte Karl Barths kommentierte, wonach die Gläubigen selbst ja die Kirche seien, kam zu folgendem logischen Schluss: „Wer zur Kirche gehört, ist ... dafür verantwortlich, was die Kirche sagt und tut.“ Man sollte sich daher fragen: Bin ich bereit, die Verantwortung für alles mit zu übernehmen, was meine Kirche sagt und tut?...
Jemand könnte aufrichtig glauben, seine Kirche habe mit der falschen Religion, von der Gott sagt, er werde sie bald vernichten, nichts gemein. Aber man muss absolut sicher sein. Bist du dir so sicher?

Für Menschen anderer Religion wird absolute Wahrheit als Kriterium aufgestellt — alles sollte „wirklich wahr“ sein. Man sollte bezüglich der Religion „absolut sicher“ sein. Wenn man „alles andere als zufrieden“ ist mit dem, was man sieht, „ist es nicht damit getan, dass [man sich] beschwert“, weil man für „alles, was [seine] Kirche sagt und tut“, verantwortlich ist.

Die Gesellschaft bewerten

Nun drehe man die Sache um und stelle sich vor, was passierte, wenn ein aufrichtiger Zeuge diese Ermahnung auf seine eigene Religion anwenden wollte. Im Gegensatz zu der Person in obigem Artikel, die Kritik an seiner eigenen Religion übte, würde ein Zeuge deutlich davon abgehalten, dasselbe zu tun. Wenn er eindeutige Irrtümer, bibelwidrige Regeln und Glaubenssätze in seiner eigenen Religion erkennt, sollte er sich nicht beschweren, und ganz sicher nicht gehen, wie unterstellt wird, dass es obiger Lutheraner tun sollte. Statt dessen sollte er ruhig „warten, dass Jehova zu seiner Zeit die Dinge zurechtrückt.“ Was für Lutheraner gilt, ist zur selben Zeit falsch für Zeugen Jehovas! Und das Bemerkenswerte ist, dass die meisten Zeugen dieses zweierlei Maß nicht einmal sehen.

In der Praxis werden Zeugen, wenn man ihnen klare Irrtümer in den Lehren oder Regeln der Organisation zeigt, sich entweder weigern, sie anzuerkennen, oder sie werden ihre Bedeutung bestreiten. Sie streiten sie sogar vor sich selbst ab, um einem untragbaren inneren Konflikt zwischen dem zu entgehen, was sie tief im Innern als Wahrheit sehen, und dem, was sie gelehrt wurden. Das Leugnen geschieht automatisch und fast unbewusst, weil sie darauf seit den ersten Erfahrungen mit der Wachtturm-Gesellschaft geschult worden sind. Der Prozess erinnert stark an eine andere Art geistiger Verrenkung, die George Orwell in 1984 beschrieb:

Von einem Parteimitglied wird nicht nur verlangt, dass es die richtigen Ansichten, sondern auch, dass es die richtigen Instinkte hat. Viele der von ihm abgeforderten Überzeugungen und Verhaltensweisen werden nie direkt formuliert und könnten auch nicht formuliert werden, ohne die dem Engsoz innewohnenden Widersprüche aufzudecken. Ist das Parteimiglied von Natur aus orthodox (in Neusprech: ein Gutdenker), dann wird es in allen Lebenslagen ohne Nachdenken wissen, was der richtige Glaube oder die erwünschte Emotion ist. Doch auf alle Fälle macht eine in der Kindheit durchlaufene geistige Schulung, die ihr Zentrum in den Neusprechwörtern Delstop, Schwarzweiß und Doppeldenk hat, es unwillig und unfähig, über irgendein Thema gründlich nachzudenken...
Die erste und einfachste Stufe dieser Disziplin kann sogar schon kleinen Kindern beigebracht werden und heißt in Neusprech: Delstop. Delstop bezeichnet die Fähigkeit, geradezu instinktiv auf der Schwelle jedes riskanten Gedankens haltzumachen. Es schließt die Gabe mit ein, Analogien nicht zu begreifen, logische Fehler zu übersehen, die simpelsten Argument misszuverstehen, wenn sie Engsoz-feindlich sind, und von jedem Gedankengang, der in eine ketzerische Richtung führen könnte, gelangweilt und abgestoßen zu werden. Kurz gesagt, Delstop bedeutet schützende Dummheit. Aber Dummheit allein reicht nicht. Im Gegenteil, strikte Orthodoxie verlangt eine ebenso vollständige Kontrolle über die eigenen Denkvorgänge, wie sie ein Schlangenmensch über seinen Körper besitzt. Teil 2, Kapitel IX; Seiten 212-213, Ullstein, 1995

Es gab einmal einen Führer der koreanischen Vereinigungskirche des Reverend Sun Myung Mun, bekannter als „Munies“. Nachdem er die Kirche verlassen hatte, schrieb er ein Buch über seine Erfahrungen. Es heißt in dem Buch:

Ein weiteres Schlüsselelement der Gedankenkontrolle besteht darin, die Anhänger darauf zu trainieren, jegliche kritische Information über die Gruppe abzublocken. Die normalen Verteidigungsmechanismen des Individuums werden dahingehend verdreht, die neue Sektenidentität gegen die alte Identität zu verteidigen. Die erste Verteidigungslinie beinhaltet Leugnung („Was Sie behaupten, geschieht gar nicht“), Rationalisierung („Dies geschieht aus einem guten Grund“), Rechtfertigung („Dies geschieht, weil es geschehen soll“) und Wunschdenken im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ („Ich möchte, dass es stimmt, also stimmt es vielleicht wirklich“).
Wenn ein Sektenmitglied eine Information als Angriff auf den Sektenführer, die Lehre oder die Gruppe empfindet, dann geht sofort eine Mauer der Feindseligkeit hoch. Die Mitglieder werden darauf gedrillt, jede Kritik für unwahr zu halten...
Loyalität und Hingabe sind die am meisten geschätzten Gefühle. ... Die Mitglieder dürfen miteinander niemals über etwas sprechen, was den Führer, die Doktrin oder die Organisation kritisiert. [Sie] müssen sich gegenseitig bespitzeln und unschickliche Äußerungen oder Aktivitäten der Führung melden. ... Insbesondere sollen [sie] jeden Kontakt mit Ehemaligen oder Kritikern meiden. Steven Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten, Seiten 105, 106, 108, 110, Rohwolt, Reinbek 1993.

Passt diese Beschreibung nicht perfekt auf Jehovas Zeugen? Wenn Menschen die oben beschriebenen Verteidigungsmechanismen aufziehen, sind sie dann nicht unaufrichtig mit sich selbst? Und wenn man unaufrichtig mit sich selbst ist und sich weigert, sich die harten Tatsachen der Wirklichkeit anzuschauen, wie kann man dann aufrichtig gegenüber anderen sein? Wie kann man aufrichtig gegenüber Gott sein? Wie kann jemand behaupten, die Wahrheit zu lieben, wenn er seinen Verstand dazu gebrauchen kann, die Irrtümer anderer aufzudecken, aber unfähig ist, dasselbe bei sich selbst zu tun? Und doch zeigt die Erfahrung, dass dies genau der Weg ist, zu dem Jehovas Zeugen indoktriniert wurden.

Glaube und Verständnis

Die folgenden Aussagen aus Wachtturmpublikationen sind ganz vernünftig und in Übereinstimmung mit der Vorstellung, dass Gott möchte, dass seine intelligenten Geschöpfe ihren Verstand, den er ihnen gab, auch gebrauchen. Aber welcher Gegensatz besteht zischen dem, was gesagt wird, und dem, was erwartet wird. Aus dem Wachtturm vom 1. April 1988, Seite 30:

Jehova erwartet keinen blinden Gehorsam. Er wünscht von uns nicht die Art von Gehorsam, den ein Zureiter oder Dompteur einem Tier mittels eines Zügels oder einer Peitsche abverlangt. Daher sagte er zu David: „Werdet nicht einem Ross oder Maultier ohne Verstand gleich, deren Lebhaftigkeit sogar mit Zaum oder Halfter gebändigt werden muss“ (Psalm 32:9). Jehova hat uns vielmehr mit Denk- und Unterscheidungsvermögen ausgestattet, so dass wir — gestützt auf unser Verständnis — es uns erwählen können, ihm zu gehorchen.
In der japanischen Sprache schließt die Bedeutung des Wortes kiku (hören) nicht nur zuhören und gehorchen ein, sondern auch die Beurteilung, ob etwas gut oder schlecht ist. Wenn jemand zu uns spricht, ist es angebracht, in diesem Sinne zuzuhören, so dass wir nicht aus reiner Leichtgläubigkeit gehorchen, sondern weil es unser Wunsch ist.

Obwohl die Gesellschaft Feststellung wie diese trifft, scheinen die meisten ihrer Schriften eher der Empfehlung des Religionsphilosophen St. Anselm (1033-1109) zu entsprechen:

Ich muss glauben, damit ich verstehen kann.

Der Ansatz eines anderen Religionsphilosophen, Peter Abelard (1079-1142), stimmt mehr mit Psalm 32:9 überein:

Ich muss verstehen, damit ich glauben kann.

Zweifeln führt zum Infragestellen, und durch Infragestellen können wir die Wahrheit erkennen. Das Buch „Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt“ (von den Zeugen als „Wahrheits-Buch“ bezeichnet), wandte dies auf Seite 13 auf Religionen an:

Wir müssen nicht nur prüfen, was wir persönlich glauben, sondern auch, was die Religionsgemeinschaft lehrt, der wir angehören mögen. Sind ihre Lehren voll und ganz im Einklang mit Gottes Wort, oder stützen sie sich auf die Überlieferungen von Menschen? Wenn wir die Wahrheit lieben, brauchen wir uns vor einer solchen Prüfung nicht zu fürchten. Jeder von uns sollte aufrichtig wünschen, Gottes Willen uns betreffend kennenzulernen und ihn dann zu tun.

In der Watchtower-Ausgabe vom 15. Dezember 1991[nicht in deutsch] hieß es auf der Rückseite in einer Anzeige für das Buch Die Suche der Menschheit nach Gott:

Die meisten Menschen kennen nur die Religion ihrer Eltern, und das oft auch nur oberflächlich. Aber sollte deine Religion einfach nur die sein, in die du hineingeboren wurdest, oder solltest du eine vernünftige Wahl treffen, nachdem du deine Religion mit anderen verglichen hast? Das 384-seitige Buch Die Suche der Menschheit nach Gott wird dir helfen, diesen Vergleich anzustellen.

Der Wachtturm vom 15. Juni 1985 gibt auf den Seiten 11 und 12 einen guten Rat für denkende Christen, den man auch für die Suche nach der wahren Erkenntnis ganz allgemein anwenden kann:

In Sprüche 2:4, 5 heißt es: „Wenn du ... wie nach verborgenen Schätzen ständig danach forschst, dann wirst du ... die wahre Erkenntnis Gottes finden.“ Im Kontext wird von der Notwendigkeit gesprochen, nach Jehovas „Reden“, „Geboten“ und „Weisheit“ zu forschen sowie nach „Unterscheidungsvermögen“ und „Verständnis“. Nach Schätzen zu suchen erfordert Anstrengung und Ausdauer. Viel Schürfarbeit ist dazu nötig. Ebenso verhält es sich mit der Suche nach der ‘wahren Erkenntnis Gottes’, nach „Unterscheidungsvermögen“ und „Verständnis“. Auch das erfordert viel Schürfarbeit, d.h., man muss unter die Oberfläche dringen ... Wir sollten wirklich dankbar sein für die geistige Schürfarbeit, die die „Sklaven“klasse bewältigt, um die „verborgenen Tiefen der Vorsätze Gottes“ für uns immer verständlicher zu machen ... Doch das enthebt den einzelnen Christen nicht der Pflicht, tief im Wort Gottes zu schürfen, um die ganze Tiefe der erklärten Gedanken auszuschöpfen. Dazu gehört, dass man die angegebenen Schriftstellen nachschlägt. Es bedeutet, dass man die Fußnoten in den Wachtturm-Artikeln liest, von denen einige den Leser auf eine ältere Publikation verweisen, die eine bestimmte Schriftstelle oder Prophezeiung noch umfassender erklärt. Es erfordert, dass man tiefer schürft und sich bemüht, diese ältere Publikation herauszusuchen, und dann den Stoff auf den angegebenen Seiten studiert.

Wer diesen Worten Glauben schenkt, sollte keine Angst haben, Vorstellungen zu untersuchen, die vielleicht dem widersprechen, was die Gesellschaft zu gewissen Dingen sagt. Man sollte auch nicht dem Beispiel des US-Kongresses folgen, der Gesetze erlässt, die alle befolgen müssen, sich selbst aber oft von diesen Gesetzen ausnimmt, weil sie lästig sind. Ein rotes Warnlicht sollte aufleuchten, wenn man Worte wie diese hört:

Wenn wir über Gesetz reden, dann reden wir über Organisation. Wir müssen ganzherzig nach dem Gesetz suchen. Jehova gibt einzelnen keine Auslegung (der Bibel). Wir brauchen einen Führer, den ‘treuen und verständigen Sklaven’. Wir sollten keine Gruppen bilden, um Ansichten anders als die des ‘treuen und verständigen Sklaven’ zu erörtern. Wir müssen die Quelle der Belehrung anerkennen. Wir müssen wie Esel sein, demütig, an der Krippe bleiben; dann werden wir nicht vergiftet. Lloyd Barry, Glied der leitenden Körperschaft, am 29. Mai 1980, in einer Ansprache vor den Ältesten der Bethelfamilie
Wer zu ‘Abtrünnigkeit’ neigt, verschaffe sich ein Hobby und halte sich selbst beschäftigt, um den Sinn abzulenken. Er betreibe kein tiefschürfendes Bibelstudium, um die Bedeutung von Bibelstellen auszumachen. Karl Klein, Glied der leitenden Körperschaft, am 30. April 1980, in einer Ansprache vor der Bethelfamilie

Widersprechen diese Worte nicht direkt den Gedanken Jehovas aus Psalm 32:9? Widersprechen sie nicht dem Geist Jehovas, der sagt, man solle in seinem Wort suchen, um Verständnis zu erlangen? Wenn ein Widerspruch besteht, auf wen sollte man dann hören — auf Jehova oder auf die leitende Körperschaft? Josua sagte: „Ich aber und mein Haus, wir wollen Jehova dienen.“

Niemand sollte zu jenen gehören wollen, die Jean-Paul Sartre als solche bezeichnete, die,...

...da sie Angst vor Argumenten haben ... einen Lebensstil führen wollen, in dem Argumentieren und Forschen eine untergeordnete Rolle spielen, wo niemand etwas sucht außer dem, was man bereits gefunden hat. Walter Kaufman, Existentialism, Religion, and Death: Thirteen Essays, New American Library, New York, 1976.

Karl Klein sagte: „Er betreibe kein tiefschürfendes Bibelstudium, um die Bedeutung von Bibelstellen auszumachen.“ Das gemahnt uns an ein weiteres Zitat aus Orwells 1984:

Er sieht zu klar und redet zu unverblümt. Die Partei mag solche Leute nicht. Teil 1, Kapitel V; Seite 57, Ullstein, 1995

Die Wachtturm-Gesellschaft rückt ständig die Organisation in den Mittelpunkt, und das ist zu einem ihrer herausragendsten Charakteristika geworden. Alles im Leben der Mitglieder muss sich den Wünschen der Organisation unterordnen. Ein britischer Parlamentarier fand ein paar ausgezeichnete Worte über Leute, die Organisationen allzu ergeben sind. Der Artikel wird im folgenden vollständig wiedergegeben.