Zuerst kamen die üblichen Warnungen. Als auch den alten Herren in der Wachtturm-Zentrale allmählich bewußt wurde, daß sich mit dem Internet ein neues Medium entwickelt hatte, das die unbegrenzte - und vor allen anonyme - Kommunikation unter den Menschen ermöglichte, setzte man zunächst auf die üblichen Warnungen.

Das Netz sei voll von wertlosen Informationen und vor allem Pornografie, hieß es und außerdem bestünde für einen "wahren Christen" (WT-Codewort für einen Zeugen Jehovas) allergrößte Gefahr, beim Chat im weltweiten Netz mit "Abtrünnigen" in Kontakt zu kommen. Also solle man besser die Finger davon lassen.

Doch die Zeiten ändern sich und damit - wie schon oft - auch die offiziellen Verlautbarungen aus Brooklyn. Bereits seit Anfang des Jahres betreibt die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) eine eigene Internet Site. Gleichzeitig änderte sich auch unmerklich die Sprachregelung zu diesem neuen Medium. Plötzlich waren auch positive Töne zu lesen. Allerdings wußten die meisten Zeugen Jehovas noch immer nicht, daß "die Gesellschaft" (so heißt die WTG in Zeugenkreisen) selbst im verteufelten Internet vertreten war.

Der Königreichsdienst (internes Nachrichtenblatt für Zeugen Jehovas) vom November 1997 läßt endlich die Katze aus dem Sack:

Die gute Botschaft im Internet

In unserem technologischen Zeitalter informieren sich manche Menschen durch elektronische Medien, auch durch das Internet. Deswegen hat die Gesellschaft im Internet einige genaue Informationen über die Glaubensansichten und die Tätigkeit von Jehovas Zeugen bereitgestellt.

Unter unserer Internet-Web-Site http://www.watchtower.org findet man ausgewählte Traktate, Broschüren sowie Wachtturm- und Erwachet!-Artikel in Deutsch, Chinesisch (mit vereinfachten Schriftzeichen), Englisch, Russisch, Spanisch und einigen weiteren Sprachen. Die Veröffentlichungen auf dieser Web-Site sind bereits über die Versammlungen erhältlich und werden im Dienst verwendet. Der Zweck unserer Web-Site besteht nicht darin, neue Publikationen zu veröffentlichen, sondern auf elektronischem Wege Informationen für die Allgemeinheit bereitzustellen. Es ist nicht notwendig, daß Einzelpersonen Internet-Seiten über Jehovas Zeugen, unsere Tätigkeit oder unsere Glaubensansichten vorbereiten. Unsere offizielle Web-Site enthält genaue Informationen für alle, die sie haben möchten.

Unsere Web-Site bietet zwar keine Möglichkeit, elektronische Post zu versenden, hat jedoch eine Liste mit den Postadressen von Zweigen in der ganzen Welt. So können Interessenten schreiben, um weitere Informationen zu erhalten oder sich von Zeugen am Ort helfen zu lassen. Fühlt euch frei, die Internet-Adresse allen mitzuteilen, die vielleicht geneigt sind, die biblische Wahrheit durch dieses Medium kennenzulernen. (Unser Königreichsdienst, November 1997)

Wer mit dem internen Sprachgebrauch der ZJs vertraut ist, wird sicher sofort gemerkt haben, was die eigentliche Botschaft hinter diesem Artikel ist. Nicht, daß die WTG eine eigene Webadresse hat, denn das ist jedem Internet-Nutzer sowieso längst bekannt. Doch neben dieser "offiziellen" Website gibt es mittlerweile eine Vielzahl privater Adressen einzelner Zeugen Jehovas, die ebenfalls das Netz nutzen, um für ihre Religion zu werben. Diesen wird jetzt gesagt, das was sie täten, sei eigentlich "nicht erforderlich".

Das heißt, wer eine eigene Website zum Thema Zeugen Jehovas betreibt, handelt ab sofort gegen den Rat des "treuen und verständigen Sklaven".

In dieses Bild paßt auch die Tatsache, daß zahlreichen amerikanischen Betreibern von pro-ZJ Websites, Mailing Lists und Newsgroups nahegelegt wurde, ihre Aktivitäten einzustellen. Mit Erfolg, denn die besonders aktiven unter ihnen haben sich mittlerweile mit fadenscheinigen Begründungen und den Hinweis auf "eingehende Gespräche mit den Ältesten" aus der Internet-Szene verabschiedet.

Bemerkenswert ist auch, daß sich die WTG im Internet präsentiert, aber keine medienadequate Möglichkeit der Kommunikation anbietet. Wer etwas will, soll sich gefälligst an das nächste Zweigbüro wenden - mit Name und Adresse, damit man ihm sofort jemand ins Haus schicken kann. Eine eigene eMail-Adresse hätte schließlich zur Folge, daß man mit der Öffentlichkeit und - noch schlimmer - mit Gegnern kommunizieren müßte. Und Kommunikation war im WT-Konzert schon immer eine Einbahnstraße.

So ist das eben mit der "Freiheit der Söhne Gottes" im "geistigen Paradies".