"Was, die Zeugen Jehovas gefährlich? Diese netten Leutchen, die da in den Fußgängerzonen der Städte ihre Heftchen anbieten? Die sollen gefährlich sein? Die tun doch keinem was. Ich habe sie immer als sehr zuvorkommend, freundlich und höflich kennengelernt, wenn sie mal an der Tür klingelten. Klar, ihre Besuche sind meist unangemeldet und zuweilen kommen sie zur falschen Zeit, nämlich am Samstag- oder Sonntagmorgen. Aber gefährlich? Nein, gefährlich sind sie nicht."

Sicher teilen viele diese Meinung. Denn tatsächlich benehmen sich die Zeugen Jehovas in der Regel vorbildlich. Auf ihren jährlichen Großveranstaltungen (Bezirkskongressen) haben Polizisten wenig zu tun. Und selbstverständlich begeht ein Zeuge Jehovas keine schweren Straftaten — jedenfalls nicht im Normalfall. Daher geht von ihnen im Allgemeinen keine Gefahr für andere aus.

Hier tappt man jedoch leicht in die Gedankenfalle dieser Glaubensgemeinschaft, wenn man nicht die Distanz wahrt. Denn das oben Beschriebene trifft auch auf mindestens 80% der Bürger in Europa und Deutschland zu. In der Regel verhalten sich die Leute regel- und gesetzeskonform — für sich genommen nichts Besonderes. Indem aber die Zeugen Jehovas auf ihr Wohlverhalten hinweisen und dies auf ihre Bibelgläubigkeit zurückführen, haben sie bereits den ersten Köder der Manipulation ausgelegt.

Ja, die Zeugen Jehovas sind friedliche Leute, aber das sind meine Nachbarn auch. Ja, die Zeugen Jehovas respektieren das Eigentum anderer, aber das tun meine Nachbarn auch. Ja, die Zeugen Jehovas leben ganz normal, friedlich und ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, aber das trifft ebenso auf meine Nachbarn zu.

Sind die Zeugen Jehovas ganz normale Leute? — Ja und nein. Ja in Bezug auf das oben Geschilderte. Nein in Bezug auf das, was ich im Folgenden näher beleuchten will.

Meine Arbeitsthese für diesen Essay lautet ja:
Sind die Zeugen Jehovas eine gefährliche Sekte?

Damit man diese Frage eindeutig beantworten kann, reichen die eingangs geschilderten Erfahrungen mit Anhängern dieser Glaubensgemeinschaft selbstverständlich nicht aus. Hier muss man nun den näheren Blick wagen, muss eine Innensicht versuchen.

​Wie könnte eine solche Betrachtung der Interna beginnen? Nun, ich denke, eine Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Schriftmaterial der Zeugen Jehovas könnte nützlich dabei sein, den Blick etwas zu schärfen.

Daher möchte ich den geneigten Leser einladen, mich auf einen Streifzug durch Schriften der Religionsgemeinschaft zu begleiten, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Diese Schriften sind nicht dazu bestimmt und konzipiert, neue Anhänger anzuwerben. Vielmehr sollen diese internen Texte den bereits Gläubigen enger an die Gemeinschaft binden und ihn mit dem Regelwerk und den Anforderungen der Religionsgemeinschaft vertraut machen.

Mein Streifzug geht durch die Ausgabe des Wachtturm mit Datum vom 15. Dezember 2009:

Alle Hände voll zu tun und trotzdem viel Freude im Dienst für Gott

Schon die Überschrift des nun folgenden Artikels verrät einiges über die innere Verfasstheit einer Gemeinschaft, deren Prinzip und Zweck die Einbindung des Gläubigen in das weltweite Missionierungswerk ist. Der gruppeninterne Zwang zur möglichst häufigen Teilnahme an dieser Aktivität wird hier etwas verharmlosend "Dienst für Gott" genannt. "Dienst für Gott" ist dabei nicht zu verwechseln mit dem im deutschen Sprachraum aus kirchlichem Kontext wohlvertrauten "Gottesdienst", der bekanntlich etwas ganz anderes meint.

Wenn die Zeugen Jehovas vom "Dienst für Gott" sprechen, meinen sie damit alle Aktivitäten, die die Glaubensgemeinschaft dem Einzelnen zu tun auferlegt: Missionierung, Aufsuchen der Zusammenkunftsstätten, Beten, "Studieren" (kein Studium im herkömmlichen Sinn, sondern das kritiklose Lesen und Verinnerlichen der Schriften der Wachtturm-Gesellschaft (abgekürzt: WTG).

Der Zeiteinsatz eines Zeugen Jehovas variiert je nach Intellekt und Auffassungsgabe von einigen Minuten pro Woche bis zu mehreren Stunden. Bei alldem soll er "viel Freude" empfinden, denn schließlich, so das Mantra der Gemeinschaft, "macht der Dienst für Gott Freude und glücklich".

Jehova wünscht sich für dich ein Leben voller Freude. (Psalm 100, 2) Wahrscheinlich hast du im Dienst für ihn alle Hände voll zu tun, womöglich viel mehr als vor deiner Hingabe. Vielleicht weißt du wegen all der Anforderungen, die das Leben und der Dienst für Jehova mit sich bringen, jetzt auch gar nicht mehr, wo dir der Kopf steht. Eventuell hast du sogar mitunter ein schlechtes Gewissen, weil du nicht alles schaffst, was du dir vorgenommen hast. Wie kannst du da alles gut ausbalancieren und dir die "Freude Jehovas" erhalten? (Nehemia 8, 10)

"Jehova", das ist die von der Religionsgemeinschaft bevorzugte deutsche Transskription des hebräischen Tetragrammatons, JHWH, des Gottesnamens des AT. Die in Klammern gesetzte Bibelstelle sagt:

Dient dem Herrn mit Freude! Kommt vor sein Antlitz mit Jubel! (Psalm 100, 2)

Nun könnte es interessant sein, zu erforschen, was dieser Text im konkreten Fall wirklich meint bzw. in welchem allgemeinen und welchem historischen Kontext er zu betrachten wäre. Dies alles will ich hier nicht versuchen. Vielmehr möchte ich zeigen, in welchen Kontext die Religionsgemeinschaft den Psalm stellt.

Für den folgenden Artikel ihrer Schrift kommt es einzig auf das Wörtchen "dient" an. Weiter oben habe ich ja bereits erläutert, was dieser "Dienst" meint. Die geforderte Geisteshaltung, nämlich "Freude" und "Jubel" hatte ich ebenfalls erörtert.

Die Formulierung "Jehova wünscht..." heißt nichts anderes als: "Die Religionsgemeinschaft wünscht...", dass das Mitglied der Gruppe trotz der Anstrengungen glücklich und fröhlich sei.

Verräterisch die folgenden Zeilen:

Wahrscheinlich hast du im Dienst für ihn alle Hände voll zu tun, womöglich viel mehr als vor deiner Hingabe.

"Hingabe und Taufe", das für jeden Zeugen wichtigste Ritual seines Lebens. Mit dem Schritt des öffentlich Getauftwerdens vollzieht er den Bruch mit seinem vorherigen Leben. Von nun an gelten alle Energien, aller Lebensschwung, alle Ressourcen, die geistigen, seelischen und materiellen, einzig der Erfüllung der durch die Religionsgemeinschaft auferlegten Glaubenspflichten. Von diesen zu erfüllenden Glaubenspflichten erfährt der noch zu Bekehrende in der Kennenlernphase nichts oder es wird mit einem freundlichen Lächeln verharmlosend heruntergespielt. Erst wenn aus dem noch zu Bekehrenden durch seine Taufe ein festes Mitglied der "Diener Jehovas" geworden ist, macht man ihn mit dem "Kleingedruckten" des Vertrags bekannt, ab sofort ist von den "christlichen Verpflichtungen" die Rede. Und diese können, so gibt es die Religionsgemeinschaft in den internen Schriften unumwunden zu, so umfangreich sein, dass der Gläubige "alle Hände voll zu tun" hat.

Bemerkenswert ist auch, wenn die Religionsgemeinschaft vom "schlechten Gewissen" redet, das einen plagt, wenn man sein Pensum nicht schafft. Hier wird mit den am schlechtesten zu durchschauenden Mitteln der Manipulation gearbeitet. Doch nicht die Gemeinschaft verursacht das schlechte Gewissen, es ist der Gläubige selbst, der inzwischen ihre Ziele derart verinnerlicht hat, dass seine eigenen Überlegungen in ihm das schlechte Gewissen verursachen.

Aber glücklicherweise ist "Jehova" zur Stelle und befreit etwa den Gläubigen von der zu schweren Last? Nein, selbstverständlich nicht: "Jehova schenkt Freude" am Dienst.

Da wir in Krisenzeiten leben und jeder so sein Päckchen zu tragen hat, darf man nichts dem Zufall überlassen. Ein Ratschlag, den Jehova den Apostel Paulus aufschreiben ließ, ist da besonders aktuell: "Wacht ... streng darüber, wie ihr wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise, indem ihr die gelegene Zeit für euch auskauft, weil die Tage böse sind." (Epheser 5, 15,16)

Ein wirklich kluger Rat! Wie kannst du die Messlatte für dich realistisch anlegen und den Spagat schaffen zwischen persönlichem Studium, Familie, Predigtdienst, Arbeit und was sonst noch so ansteht?

"Jehova ließ den Apostel Paulus" obigen Vers aufschreiben. Nach Lesart der Religionsgemeinschaft ist damit die "gelegene Zeit des Dienstes" gemeint, die es "auszukaufen" gilt.

Einen Bibelvers aus seinem sinnhaften und historischen Kontext herauszubrechen, um die eigene Auslegung und die eigene Theologie zu stützen, ist typisch für die "Apologeten" der Religionsgemeinschaft. In ihren Schriften begegnet man durchgehend dieser "zeitlosen" Auslegung.

Kannst du dich noch an das freudige Gefühl bei deiner Hingabe und Taufe erinnern? Woher kam diese Freude? Von all dem, was du in einem intensiven Studium so alles über Jehova und sein Vorhaben gelernt und verstanden hast. War das nicht die Mühe mehr als wert? Dein Leben hat sich dadurch definitiv zum Besseren gewendet.

Damit dir die Freude nicht abhanden kommt, musst du ihr immer wieder neue Impulse geben. Falls du nur mit Müh und Not Zeit fürs Bibellesen und -studium findest, nimm doch einmal deinen Zeitplan unter die Lupe.

All die Anstrengungen, all die Mühen, all die aufgewendete Zeit sind es wert, da man so viel von "Jehova" erhalten hat. Und wenn es zu viel wird, hat die Religionsgemeinschaft das passende Rezept:

Jeden Tag nur ein paar Minuten zu studieren und die Gedanken zu verinnerlichen, bringt dich Jehova schon um einiges näher! Und damit steigt unter Garantie auch deine Freude.

Oft kann man sich Zeit für wichtige Sachen von weniger wichtigen abzweigen. Überleg doch einmal, wie lange du mit Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Musik oder Hobbys verbringst. Das alles kann durchaus Spaß machen, aber nur, wenn die wirklich wichtigen Sachen dabei nicht zu kurz kommen. (1. Timotheus 4, 8 ) Falls du merkst, dass es bei dir mit der Zeiteinteilung etwas hapert, musst du genau da den Hebel ansetzen.

Hier ein Tipp von Adam, verheiratet, Vater von drei Kindern und Ältester: "Ich versuche, mir mein Leben nicht zu verkomplizieren mit Hobbys und Sachen, die nur Zeit fressen. Das heißt nicht, dass ich mir nichts gönne, aber Entspannung, die nicht viel Aufwand erfordert, ist mir einfach am liebsten."

Es kann deine Freude auch weiter steigern und dir helfen, guter Dinge zu sein, wenn du darüber nachdenkst, was dir deine Entscheidungen bereits Gutes gebracht haben. Mariusz, ein Ältester mit drei Kindern, erzählt zum Beispiel, wie sehr die Entscheidung, die Bibel zu studieren, sein Leben bereichert hat: "Ich sehe die Zukunft jetzt mit anderen Augen. Ich hab zwar nach wie vor Probleme, von denen oft nur Jehova weiß. Aber er hilft mir und so kann ich optimistisch nach vorn schauen."

Probleme, die ob der Überbelastung durch die ständige Dienstbereitschaft oder den permanenten Leistungs-Gruppendruck entstehen, macht der Gläubige mit sich und "Jehova" aus; andere, vor allem eventuell geschulte Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzte, aber auch die eigenen Glaubensgenossen müssen und sollen nichts davon wissen. So befindet sich der Zeuge Jehovas, der seinen Glauben ernst nimmt, in einem zunehmenden Dilemma:

Die Gemeinschaft hat die Losung ausgegeben, "der Dienst für Jehova" mache Freude. Tut er das aus irgendeinem Grunde nicht oder nicht mehr, liegt das allein an der Einstellung oder dem erschlaffenden Glauben des Einzelnen. Der Glaube an die "belebende, glückverheißende" Wirkung des ständigen Dienstes kann nur durch die Wiederaufnahme eben jenes Dienstes wiedererlangt werden.

Das Patentrezept für die durch dieses Hamsterrad hervorgerufenen Probleme heißt:

Unermüdlicher Dienst für Gott, Studium (was das bedeutet, hatte ich gleich zu Beginn dieser Schrift erläutert) und inbrünstiges Gebet zu Gott "Jehova", die Freude am Dienst wiederzubeleben.

All dieser "Dienst für Jehova" — Missionieren von Haus zu Haus, sogar im Ausland, beinah tägliche Bibelstunden, alljährliche Großveranstaltungen, Bau neuer Versammlungsstätten, Druckereien, Wohn- und Verwaltungskomplexe der verschiedenen Filialen der Wachtturm-Gesellschaft — geschieht zu "Gottes Lohn". Materieller Nutznießer dieser ganzen Aktivitäten ist die Wachtturm-Gesellschaft; einzig der ideelle Wert der Glaubenserhebung und -festigung bleibt den Gläubigen als Vermächtnis.

  • Kein Wunder, dass so viele diesem permanenten Leistungs- und Gesinnungsdruck nicht mehr gewachsen sind und ausscheren.
  • Kein Wunder, dass viele, bevor sie endgültig ausscheren, vorher den Umweg über verschiedene medizinisch-therapeutische Fakultäten und Institutionen nehmen, um ihrer an diesem Druck krank gewordenen Seele Hilfe zukommen zu lassen.
  • Kein Wunder, dass viele bei Gleichgesinnten und Leidensgenossen Trost, Anerkennung und die berühmte Schulter zum Anlehnen suchen.
  • Kein Wunder schließlich, dass viele von ihnen auf dieser Website und dem dazu gehörenden Forum "landen", die ein Tummelplatz für viele an ihrem ernsthaften Glaubensbemühen Gescheiterten sind.

Dort erfahren sie, mitunter nach Jahren des einsamen, stillen Leidens, zum ersten Mal echte Anteilnahme und ehrlich gemeinten Zuspruch, dort "dürfen" sie auf Mitgefühl hoffen.

Eine Glaubensgemeinschaft, die solches "Strandgut" verletzter Seelen produziert, darf mit Fug und Recht als gefährlich bezeichnet werden. Und zwar auch deshalb, weil sie ihre Anhänger auf die oben beschriebene Art und Weise indoktriniert, sie manipuliert und für ihre eigenen Zwecke benutzt. Sie straft ihre "Abtrünnigen", die "Leistungsverweigerer", mit sozialer Isolation, um sie wieder auf Linie zu bringen. Deshalb verdient sie die Bezeichnung "totalitär".

Dies alles gehört dazu, will man sich dem Phänomen jener doch hauptsächlich aus mangelndem Interesse zu Unrecht als verschroben angesehenen Glaubensgemeinschaft nähern.

Mein Fazit

  • Nein, die Zeugen Jehovas sind keine harmlose, unbedeutende Gruppe etwas verschrobener Bibelgläubiger.
  • Ja, die Zeugen Jehovas sind eine gefährliche Sekte, die man nicht unterschätzen sollte.