Sie weisen es meist weit von sich, eine Sekte zu sein. Und sie haben auch nach dem Ausstieg nicht selten das Gefühl, die "Wahrheit" verlassen zu haben. Wie geht man am besten mit Menschen um, die einer Sekte wie den Zeugen Jehovas entronnen sind?

Randall Watters, ehemaliger Zeuge Jehovas und Herausgeber des Free Minds Journal gibt Auskunft in einem Interview.

Randall Watters

Eine neue Perspektive, Menschen aus Sekten zu befreien

Ein Gespräch mit Randall Watters, übersetzt von Herbert Raab

Was, so glauben Sie, ist die häufigste Barriere, mit Jehovas Zeugen Kontakt zu haben?

Das Verständnis des gesamten Sektenphänomens. Das Hauptproblem ist nicht, daß sie eine Gehirnwäsche hinter sich haben. Sie sind auch nicht von Dämonen besessen. Allgemein gesagt haben sie sich praktisch einem exklusiven Verein angeschlossen, zu dem als Teil der Initiation die Annahme eines besonderen Weltbildes gehört; einer Brille, durch die sie das Leben betrachten. Um zu diesem Verein zu gehören, sind sie gezwungen, jedes andere Modell der Wirklichkeit, dem sie zuvor vielleicht angehangen haben, aufzugeben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Eine Frau bemerkt, wie ihre neue Nachbarin herausgeputzt das Haus verläßt und die Kinder ihr gehorsam folgen. Es ist Sonntag, und irgendwo gehen sie hin, wahrscheinlich in die Kirche. Später spricht sie mit der neuen Nachbarin, die eine Zeugin Jehovas ist, beginnt eine Freundschaft und findet heraus, daß Jehovas Zeugen anscheinend die freundlichsten Leute sind, denen sie je begegnet ist. Kürzlich hat sie sich scheiden lassen und ist deshalb oft einsam, sie hat zwei Kinder und ihr fehlt die Richtung im Leben. Sie fühlt sich hilflos und verletzlich. Sie vergleicht ihr Leben mit dem der neuen Nachbarin, die zuversichtlich in die Zukunft schaut, viele angenehme Freunde, gut erzogene Kinder hat und scheinbar alle Antworten auf die Fragen des Lebens hat. Wer empfände nicht diesen Unterschied, wenn er sich in einer ganz ähnlichen Situation befindet?

Aber das ist nicht wirklich... Ich meine, es ist eine Sekte, und sie stehen unter Gedankenkontrolle!

Na ja, in einem sehr ursprünglichen Sinne stehen der Lebensstil in einer Sekte und das Weltbild für die Realität oder werden wenigstens Realität für sie. Wenn man die anfänglichen Zweifel und die logischen Einwände übersehen kann, "funktioniert" das System, zumindest für viele und eine Zeitlang.

Für Menschen in verzweifelten Situationen oder für Mutlose wirkt diese Art Erfolg wie eine starke Droge; so stark, daß sie jemanden dazu bringen kann, das neue Weltbild und das damit zusammenhängende Verhalten als brauchbare Lösung anzunehmen und Gegenbeweise schnell zu abzutun, um diese Droge wirken zu lassen

Wollen Sie sagen, sich einer Sekte anzuschließen, heißt drogensüchtig zu werden?

In gewissem Sinne ja. Gewöhnlich nimmt man Drogen oder Medikamente, um einen Schmerz (körperlich oder seelisch) leichter ertragbar zu machen, oder auch zum Vergnügen. Tatsächlich ist es so, daß Drogen, wenn sie hauptsächlich zum Spaß genommen werden, dazu neigen, weniger süchtig zu machen, als wenn man sie gegen Schmerzen einnimmt, weil man sich noch immer in relativ gesunder (oder zumindest stabiler) Geistesverfassung befindet, wenn man diese Erfahrung abbricht.

Dem stelle man eine Situation gegenüber, wo jemand in seinem Leben sehr unglücklich ist und bereit ist, fast alles zu tun, das "funktioniert", um dieses Unglücklichsein zu erleichtern oder zu verdecken.

Das ist der Augenblick, in dem ein Glaube die beste Droge sein KANN, weil ihre Wirkung nicht in dem Maße abnimmt wie richtige Drogen und man diese veränderte Geistesverfassung bei richtiger Programmierung fast unbegrenzt aufrechterhalten kann.
Wenn jemand, der unglücklich ist, einmal in den Genuß dieser "neuen" Weltsicht kommen konnte und den Unterschied sieht, wird er weniger von Logik und Objektivität beherrscht. Die "neue Lösung" der Probleme wird bereitwillig angenommen, oft werden Gegenbeweise im Laufe des Entscheidungsprozesses einfach abgetan.

Wenn der Kandidat entdeckt, daß er mit dieser neuen Geistesverfassung im Alltagsleben gut zurechtkommt und besonders, wenn er dabei nicht unter Schuldgefühlen zu leiden braucht, wie wenn man richtige Drogen nähme, gibt er das alte Weltbild mit seinem dazugehörigen Verhalten schnell auf. Die unglückliche frühere Welt mit seinen "Vertretern" (Christenheit, Angehörige, Arbeitskollegen), die den Leidensdruck bis dato nicht wirksam bekämpfen konnte, wird im Gegensatz hierzu nicht nur als weniger attraktiv, sondern vielleicht schon als dämonisch angesehen.

Wow! So schließen sie sich also deshalb gegen den vernünftigen Rat anderer Menschen einer Sekte an, weil sie auf scheinbar wunderbare Weise in der Lage ist, ihr Leben zum Besseren zu wenden, und das noch recht schnell. Es ist ein neues soziales Umfeld, das sich bei ihnen schnell auswirkt; wenn man so will, eine neue Familie, wohingegen die alte Familie und das alte Umfeld versagt haben. Damit sind sie nicht glücklich geworden.

Genau das. Die meisten Menschen, die Zeugen Jehovas geworden sind und mit denen ich in all den Jahren gesprochen habe (über ihren anfänglichen Kampf mit sich selbst, ob die Wachtturm-Gesellschaft die "Wahrheit" vertritt oder nicht), geben zu, daß ihnen viele Fragen bezüglich der WTG zu schaffen machten, aber die Zweifel wurden schnell zerstreut, sobald sie aktiv am Tätigkeitsprogramm der Zeugen teilnahmen, wo sie die Ergebnisse ihres neuen Lebenswegs sehen und erfahren konnten.

Wenn man auf einmal in der Lage ist, mit dem Rauchen aufzuhören oder keine Drogen mehr zu nehmen, sich die Gesundheit oder das äußere Erscheinungsbild ändert und man sich keine Sorgen über die Weltverhältnisse mehr zu machen braucht, kann man die Wachtturm-Kritiker leicht als "mürrische Gegner" abtun. Das gilt übrigens für alle Sekten.

Hat der Kandidat einmal eine Grenze überschritten und nimmt nun aktiv am Leben der Sekte teil, werden alle dem entgegenstehenden Informationen einfach abgetan. "Wer heilt, hat recht", ist das typische Empfinden. Sie möchten einfach, daß die neuen Dinge wahr sind! Der Gedanke ist auch wirklich anziehend, daß Gott (Jehova) den Menschen alle Antworten gegeben HAT, und daß er umsichtig genug ist, sie alle in ein hübsches, unschuldiges kleines Buch zu packen, das man leicht lesen und verstehen kann.

Und das Buch gibt es auch umsonst (ha ha)?

Nun, wenn nicht das Buch, dann doch mit Sicherheit das angebotene Heimbibelstudium, und da ist die eigentliche Macht hinter der Bekehrung vom eigenen Weltbild zur Vorstellungswelt der Sekte zu finden.

Um den Menschen bei der Entscheidung zwischen der "gefallenen Menschenwelt, die Gott nicht kennt", und der "Neuen-Welt-Gesellschaft der Zeugen Jehovas zu helfen, sind sich die Personen, die den Kandidaten unterweisen, sehr wohl dessen bewußt, daß ihre Sichtweise der Welt den Sinn des Kandidaten während der Anfangszeit voller Zweifel (man sagt auch Dissonanz)(1) soweit wie möglich einfangen muß, so daß die "richtige" Entscheidung getroffen wird.

Man läßt den Kandidaten schon früh im Indoktrinationsprozeß durch folgende "Brillengläser" schauen:

'Dies ist das richtige Weltbild; alle anderen Sichtweisen führen in die Irre und sind sogar dämonisch (man jage dem Kandidaten gehörige ANGST ein).'

'Satan ist sehr wütend, daß ihnen die "Wahrheit" über den Weg gekommen ist; er wird ALLES MÖGLICHEversuchen, sie von diesen wunderbaren Verheißungen Jesu abzuhalten (nochmals eine gehörige Portion Angst einjagen). Er wird deine Angehörigen und Freunde, den Lebensgefährten und die Eltern zu benutzen versuchen, dich abwendig zu machen.'

'Verbringe soweit nur möglich deine ganze freie Zeit mit uns. Das ist ein Schutz vor dem Einfluß des Bösen und wird dir helfen, deinen festen Platz in der WAHRHEIT zu finden.'

Einen Moment mal ... Benutzen Christen nicht manchmal diese Technik, um Leute zu bekehren?

Einige ja, aber ich glaube, das schafft mehr Unglück und Schaden, weil es ein Bild von Gott zeichnet, als ob er irgendein Politiker sei, der jemanden für sich einnehmen will, indem er mit Angst indoktriniert und zur Eile antreibt - das sind seine wichtigsten Techniken. Das sind Techniken, die nur von Unsicheren und Machtlosen angewandt werden und sicher nicht einem allweisen, allwissenden Schöpfer, der sein Volk liebt, angemessen sind.

Wenn Leute auf diese Weise bekehrt werden, ist ihre Sichtweise von Gott sicher entstellt und ungesund und kann nicht einmal für den Dienst Jesu und der Apostel stehen. Solch ein Vorgehen kann nur Furcht, Argwohn und Mißtrauen bei all denen hervorbringen, die eine gesundere Lebenseinstellung haben. Solche Leute predigen gern über das Höllenfeuer, über die ausgeklügelten und verschwörerischen Werke Satans und den bevorstehenden Untergang der Welt, wobei sie mit jedem Schritt, den sie tun, versuchen, dunkle Wolken über den Köpfen derer aufziehen zu lassen, die das Evangelium über den Christus sonst als gute Botschaft ansähen, die Freude, Befreiung und Erlösung bringt. Sekten behaupten zwar, es sei eine gute Botschaft, aber bei ihnen ist es eher eine schlechte Botschaft.

Mir ist schleierhaft, warum diese Art der Evangelisation in den Kirchen so oft toleriert wird, da diese begrenzte Sichtweise der Macht und der Liebe Gottes so leicht von Zuhörern aufgenommen wird. Jesus richtete seine Strafpredigten an die Verlorenen, nicht an mögliche Bekehrte. Zwar wird der Heilige Geist auch verurteilen, doch das Evangelium handelt vor allem von Leben, Befreiung und Sieg.

Man kann dieses Phänomen auch bei vielen sogenannten "Befreiungs"-Diensten beobachten, die behaupten, Christen könnten Dämonen haben oder "dämonisiert" sein, und die die Freude des Gläubigen in Christus schnell in Furcht und Argwohn verwandeln, so daß er immer nach hinten blickt. Wir sollten keine Rückspiegel brauchen. Wo steht das in der Bibel?

Ist dann nicht die kritische Periode ihrer Indoktrination, wo man sie drängt, alle Zusammenkünfte zu besuchen (Ansprachen für die Öffentlichkeit, Wachtturm-Studium und die Buchstudien am Dienstagabend) und auch ihr "Heimbibelstudium" fortzusetzen, die wichtigste Zeit, ihnen die Beweise für die Unredlichkeit und die fehlerhafte Argumentation der Wachtturm-Gesellschaft zu zeigen?

Ja, aber vergessen Sie nicht, was wir gerade besprochen haben. Wenn sie Sie als Teil der alten Welt betrachten, jenes alten "Systems", das für sie nicht mehr funktioniert, und sie sehen Jehovas Zeugen als etwas an, das für sie (bis jetzt) tatsächlich funktioniert, tragen Sie vielleicht noch zu ihrer Indoktrination bei!

Sie stellen für sie vielleicht einen Teil der Welt dar, dem sie zu entkommen suchen. Wenn sie mit den Kirchen oder anderen Christen schlechte Erfahrungen gemacht haben und Sie als Teil dieses Systems einordnen, werden Sie sie anwidern - egal welche Gegenbeweise sie vielleicht hervorziehen.

Wenn Sie zu diesem alten sozialen System gehören, das dazu beigetragen hat, daß sie unglücklich und bekümmert waren, stehen SIE leicht stellvertretend für das, was sie abschütteln möchten! In einem solchen Fall würden Sie ihrem Entfremdungsprozeß sogar noch nachhelfen.

Das erinnert mich an folgendes: Als ich mit dem Haus-zu-Haus-Dienst anfing und andere Christen mich buchstäblich von ihremGrundstück jagten, bestätigte das in mir nur, daß wir die WAHRHEIT hatten und sie nicht.

Eine Anzahl aktiver Zeugen, mit denen ich gesprochen habe, sagen, daß sie WIRKLICH alles geprüft haben, bevor sie sich entschlossen, Zeugen zu werden. Sie sagen, sie hätten den Wachtturm genau untersucht, ehe sie sich fest banden. Doch was Sie sagen, ist, daß sie tatsächlich unter eine Art Zauberspruch gerieten; eine Art Gedankenkontrolle, an der sie nicht schuld sind; eine größere Macht, der sie nicht widerstehen konnten.

Nein, ich glaube, damit mißversteht man das Sektenphänomen (Aufbau eines Scheingegners). Moderne Sekten betreiben keine Gehirnwäsche. Sie bieten ein Modell der Wirklichkeit an, das für eine Anzahl von Menschen zu funktionieren scheint. Praktisch sagen sie: "Schließ dich uns an. Das funktioniert!" Man schaut sich um und sieht all die offensichtlich glücklichen, lächelnden Gesichter und sagt sich: Ja, ich glaube, das funktioniert wirklich. Das muß die Wahrheit sein!"

Nun begeht man den entscheidenden Fehler, ihnen auf dieser Grundlage zu vertrauen. Man ist getäuscht worden, ihnen zu vertrauen, ohne ihre Geschichte oder ihre Wahrhaftigkeit, andere zu vertreten, zu untersuchen - oder ob ihre Bekehrungstechniken moralisch einwandfrei sind.

Man ist geneigter, ihnen zu glauben als der Encyclopedia Britannica oder den frühen Kirchenvätern oder Exmitgliedern ihres "Vereins", weil niemand von diesen sich ihr Vertrauen erworben haben.

Das ist so, als würde ein neuer Nachbar einen zu sich einladen und mit seiner Gastfreundschaft und Großzügigkeit einen großen Eindruck machen, und dann findet man sich mitten in einer Diskussion über Dinge, von denen man nichts weiß. Man ist viel geneigter, dem Nachbarn zu glauben, weil er sich schon unser Vertrauen erworben hat.

Wenn nun ein Fremder hereinkäme und versuchte, alles zu widerlegen, würde man ihn nicht gerade mit offenen Armen aufnehmen. Sie und ich sind wie Fremde für sie. Warum sollten sie uns glauben?

Sekten gehen noch einen Schritt weiter: Sie konditionieren Menschen, NIEMANDEM SONST Glauben zu schenken und jagen ihnen Furcht und Argwohn wie starke Drogen ein. Wer sagt, er habe alles "genau geprüft", ehe er Mitglied wurde, hat gewöhnlich schon den Versuch unternommen, einiges zu prüfen, aber vor die Wahl gestellt, der Wachtturm-Gesellschaft oder irgendeinem Abtrünnigen zu glauben, haben sie sich natürlich für die Wachtturm-Gesellschaft entschieden, die sich bisher als so liebenswürdig gezeigt hat.

Ich habe das durchgemacht, ebenso meine Familie. Meine Schwester und mein Schwager, die ich zu den Zeugen bekehren wollte, hatten sogar eine lutherische Kirche besucht, wo die Trinitätslehre gelehrt und fast jede Woche gegen die Zeugen gepredigt wird, aber die Änderungen, die sie an mir bemerkten, machten sie für alle vernünftigen Argumente blind, mit denen ihr Pastor ihnen zu zeigen versuchte, daß die Wachtturm-Gesellschaft unrecht hat.

Taten (in Form persönlicher Veränderungen) sprechen lauter als Worte, aber nicht alle Veränderungen im Verhalten sprechen für wahres Christentum.

Es ist ein Unterschied, ob ich Fakten objektiv oder subjektiv betrachte. Objektiv bedeutet fair, weil man alle Beweise ohne Vorurteil (ohne voreilige Schlußfolgerungen) prüft, wohingegen subjektiv bedeutet, daß man die Fakten, die man sich näher ansehen will, zuvor schon ausgewählt hat und/ oder man auf ein bestimmtes Resultat schon seelisch vorbereitet ist.

In einem Gerichtsverfahren beispielsweise werden bestimmte Juristen zu gewissen Prozessen nicht zugelassen, weil die Möglichkeit besteht, daß sie für oder gegen einen Beklagten voreingenommen sind. So ist es auch im Zusammenhang mit Jehovas Zeugen: wenn man psychisch oder sozial bereits aus der Gemeinschaft mit ihnen "profitiert", d.h. man besucht die Zusammenkünfte, hat unter ihnen neue Freunde gefunden, geht von Haus zu Haus usw., ist man wahrscheinlich weniger fair, wenn man alle Beweise abwägen soll, die die Wachtturm-Gesellschaft belasten.

Jeder, der auch nur die Hälfte aller erreichbaren negativen Informationen über die Wachtturm-Gesellschaft objektiv prüft, wird wohl kaum ein Zeuge Jehovas werden wollen. So sind die Kadidaten also zum Teil selbst für ihre Selbsttäuschung verantwortlich, weil sie nicht objektiv sind, obwohl sich nur wenige dieses Fehlers bewußt sind. Sie MÖCHTEN GERN, daß sie Recht behalten; sie WOLLEN glauben, daß Gott alle Antworten parat hat und daß diese Leute sein Volk sind. So spielen sie das Schlechte herunter und stellen das Gute in hellem Licht dar (natürlich mit der Hilfe der Zeugen!).

Was ist mit denen, die in diesen Glauben hineingeboren wurden?

Wer als Zeuge Jehovas geboren oder früh erzogen wurde, ist schon von Anfang an sehr davon überzeugt, daß dies die einzig wahre Religion ist, und jeder Zweifel wird mit Sünde oder mit persönlichem Stolz gleichgesetzt. Möglicherweise haben diese Personen nicht einmal andere Sichtweisen in Betracht gezogen, was die Wahrhaftigkeit der Wachtturm-Gesellschaft angeht. Das hängt davon ab, inwieweit sie von der Welt draußen isoliert waren. Sie haben keine andere Sichtweise der Realität, die sie zum Vergleich heranziehen können.

Eltern sind recht wirkungsvoll darin, das Denken ihrer Kinder im Hinblick darauf zu kontrollieren, welche Gedanken erwünscht und welche unerwünscht sind. Dasselbe gilt für Gefühle. "Korrektes" Verhalten wird gelehrt, unerwünschte Verhaltensweisen werden verhindert. Gewöhnlich wird die Auswahl des Lesestoffes sorgfältig überwacht. Dies ist "Gedankenkontrolle", ob man es nun für angebracht hält, daß Eltern darauf zurückgreifen, oder nicht.

Ein Jugendlicher, der innerhalb der Wachtturm-Organisation aufwächst, muß schon auf intelligente Weise die Sichtweisen anderer in Betracht ziehen, ehe er das Ausmaß an Vorurteilen aufgrund der eigenen Indoktrination zu verstehen beginnen könnte. Dies geschieht gewöhnlich in den Teenagerjahren - mit dem Ergebnis, daß viele Kinder sich von der Wachtturm-Bewegung abwenden.

Was Sie sagen, hört sich richtig an, aber ich sehe keinen großen Unterschied zwischen ihrer Art, Druck auszuüben, und derjenigen, auf die viele andere Christen in ihren Familien zurückgreifen.

Das stimmt. Aber dafür mache ich nicht unbedingt die Bibel oder die Kirchen verantwortlich. Ich denke, das ist ein zutiefst menschlicher Fehler, wenn wir Gott seine eigenen Schlachten gewinnen lassen möchten. Tief im Innersten haben wir vielleicht Angst, das, was wir glauben, sei DOCH NICHT richtig oder zumindest sind die Beweise, die für den Glauben sprechen, doch nicht so stark, wie wir meinen.

So verbieten wir es uns selbst, Zweifel an unserem eigenen Weltbild zu hegen. Wenn wir schon so empfinden, möchten wir unsere Kinder nicht auch noch dazu ermutigen! Ich muß mich fragen: "Bin ich bereit, zu neuen Schlußfolgerungen zu kommen, wenn die Beweise meinen Glauben nicht stützen?" Traue ich meiner Eingebung und meiner eigenen Wahrnehmung mehr als dem Dogmatismus aufgrund von Furcht und dem Druck anderer?

Damit steht man vor einer schweren Entscheidung. Manchmal sind wir nicht bereit hinzunehmen, daß es nicht auf alle Lebensfragen auch Antworten gibt; so halten wir uns lieber vom Rand des "Abgrunds" entfernt und denken lieber nicht weiter nach.

Anders als die meisten Christen muß ich mich ständig an diesem Rand bewegen, wenn ich mich mit Sekten befasse und ihre logischen und geschichtlichen Fehlschlüsse aufzeige.

Wenn man mit dem Glauben anderer ehrlich umgeht, muß man erst einmal ehrlich mit sich selbst sein. Es gibt einige Dinge, für die man nicht gleich eine Antwort parat hat. Oder will ich einfach so tun, als hätte ich sie doch, damit andere mir noch mehr vertrauen? Es wäre unmoralisch, wenn ich das täte.

So kämpfe ich gelegentlich mit Gott über diesen Punkt. Die Lehren Christi "funktionieren" in meinem Leben in manch faßbarer Weise, darunter sind Antworten auf meine Gebete und wie Gott mir gnädig ist und über mich wacht. Aber worin unterscheide ich mich dann von den Zeugen Jehovas oder den Mormonen, bei denen ihre eigene Religion auch "funktioniert"?

Ich denke, die Antwort liegt darin, wie wir Gott betrachten und seine Gnade verstehen (1. Johannes 4:16-19). Ich glaube schon seit jeher, daß die Wahrheit sich bewähren wird. Die Wahrheit muß keine Prüfung fürchten. Sie fürchtet weder die Wissenschaft noch die Kritik. Sie fürchtet sich auch nicht vor Menschen. Die Wahrheit ruht in Gott, und Gott muß groß genug sein, solche Stürme zu überstehen. Wenn Sie schon seit Jahren Christ sind, wissen Sie, was ich meine. Im Endeffekt fürchten sich die meisten von ihnen nicht. Sie wissen, daß Gott da ist und daß er einen Ort für Sie bereitet hat. Leben Sie in dieser Hoffnung, und lassen Sie zu, daß Sie die Furcht besiegen. Das ist das Wunderbare am Christentum.

Sekten sind andererseits paranoisch. Sie widersetzen sich einer Prüfung oder Kritik. Sie lassen sich nicht auf öffentliche Debatten ein, weil sie fürchten, daß dort "schmutzige Wäsche gewaschen" wird und ihre schäbigen Vorgehensweisen an den Pranger gestellt werden. Sie haben ihr eigenes kollektives Ich: man kann ihnen zu nahe treten, sie sind stolz, sie erheben einen Ausschließlichkeitsanspruch.

Sie sind SUPERCLUBS; soziale Kliquen, die sich selbst zu wichtig genommen haben mit ihren Ritualen. Man kann sie nicht als Einzelperson ausleben; sie sind nur "wahr", wenn sie im Kollektiv gelebt werden, ihre Wirklichkeit zerfällt in der Isolation. Anders als im Christentum benötigen Sektensysteme die beständige Bestätigung als "Wahrheit". Andererseits ist das Christentum kein organisiertes "System". Es hängt an einer Person, die die Zeiten überdauert.


Randall Watters ist ehemaliger Zeuge Jehovas und war bis in die achtziger Jahre Mitarbeiter in der WT-Weltzentrale in Broolyn, New York. Er gibt unter anderem das "Free Minds Journal", eine amerikanische Zeitschrift zur Sektenaufklärung, heraus und arbeitet im Rahmen des internationalen Netzwerks ehemaliger Zeugen Jehovas.