Individualität, Skepsis und Toleranz sind nicht gerade die Werte, die fundamentalistische Religionen gezielt hervorzubringen trachten. Stattdessen wird das Leben der Gläubigen durch eine strenge Dogmatik bis in die persönlichsten Lebensbereiche geregelt und der eigenen Entscheidungsfreiheit entzogen.
Eine der Religionen, die in dieses Muster passen, ist die Sekte der Zeugen Jehovas. Ihr gehört die 15jährige Hannah an, die über ihr pubertäres sexuelles Erwachen in Konflikt mit ihrem Glauben gerät, der passenderweise die menschliche Sexualität ohnehin in lebensfremde Taburegeln fasst. Je mehr Hannahs Freiheitsdrang an die Grenzen ihres Glaubens drängt, desto mehr erfährt sie von der Seite ihrer Familienangehörigen und Glaubensbrüder massive physische und psychische Gewalt. Was nehmen sich Menschen nicht alles heraus, wenn sie glauben, die Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Hinzu kommt die unerträgliche Angst, die Gunst Jehovas zu verlieren und am Ende in Harmagedon, der Endschlacht Gottes, das Leben. Hannahs innere Widersprüche nehmen derart extreme Ausprägungen an, daß sie schließlich den – letztlich nicht ausgeführten - Freitod sucht.
Jana Frey ist es meisterlich gelungen, Hannahs Reifeprozeß vom angepassten Sektenkind zur nach persönlicher Freiheit strebenden Jugendlichen anschaulich und plausibel darzustellen. Hannahs Schicksal läßt den Leser nicht kalt, sondern mitfühlen. Religion kann für Jugendliche durchaus eine Lebenshilfe sein und sie davor bewahren, in schwierigen Lebenssituationen abzurutschen. Für Hannah jedoch, die kein Einzelfall ist, geraten die irdischen Vorausschattungen des künftigen Paradieses zur Ursache für seelische Höllenqual.
Doch auf der anderen Seite muß man der Autorin vorhalten, daß sie zugunsten des Spannungsbogens auf Überzeichnungen zurückgreift, die auf Kosten der Glaubwürdigkeit gehen. Denn immerhin sind bei den Zeugen Jehovas öffentliche Bloßstellungen von "Missetätern" durch quasi-stalinistische Tribunale alles andere als üblich. Der sekteninterne Sanktionsmechanismus läuft viel subtiler ab und ist für ein Jugendbuch somit auch schwerer darstellbar. Es wundert mich sehr, daß die Sekte hier nicht interveniert hat, denn diese Vorgehensweise scheint mir zumindestens juristisch angreifbar, zumal Frau Freys Geschichte auf einen authentischen Fall zurückgreift.
Ein nicht unerheblicher Mangel im Detail ist die Darstellung des "Bruder" Jochen als Pfeifenraucher. Der Konsum von Tabak und ähnlichen Rauschmitteln ist bei den Zeugen Jehovas als Verunreinigung des Körpers streng verpönt und wird sogar mit Ausschluß geahndet. Ebenso ist dem Rezensenten kein Fall bekannt, wo ZJ-Kinder aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen durften. Das mag im Einzelfall vorkommen, ist aber nicht die Regel.
So macht sich Frau Frey angreifbar, weil Zeugen Jehovas dadurch diese Geschichte gemäß ihrem eigenen seltsamen Weltbild sofort als verleumderischen "Angriff Satans" verwerfen können, der sie nur in ihrer unangemessenen Opferrolle bestätigt. Und an den Zeugen Jehovas interessierte Personen werden so weniger Zweifel an der Sekte selbst geweckt als an den Motiven ihrer Kritiker.
Es hätte die Geschichte somit nur aufgewertet, wenn sich Frau Frey stärker an die Tatsachen gehalten hätte. Die zahllosen Aussteigerberichte gerade auch von jugendlichen Zeugen Jehovas lassen auch so schon die tiefen menschlichen Abgründe innerhalb dieser Sekte erahnen.
Das Netzwerk Sektenausstieg e.V. dankt dem User "solaris" für die freundliche Erlaubnis,seine Rezension hier veröffentlichen zu dürfen.