Es begann auf die übliche Weise. Ein junger Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens kommt in Kontakt mit den Zeugen Jehovas. Das junge Mädchen ist fasziniert von diesen Menschen, die so liebenswürdig sind und ganz nach den Lehren der Bibel leben. Schon bald besucht sie regelmäßig die Zusammenkünfte und verschlingt geradezu die Literatur, die vom Paradies auf Erden und den Anforderungen an einen „wahren Christen“ handelt.

Sie ist überzeugt davon, die „Wahrheit“ gefunden zu haben und richtet ihr gesamtes Leben danach aus.
Mit bewundernswerter Beobachtungsgabe schildert Martina Schmidt ihren schnellen, überzeugten Weg in die Sekte. Ihre erste Zusammenkunft. Ihr erster Kongress. Ihre erste Aufgabe in der „Theokratischen Predigtdienstschule“. Ihr erstes „Zeugnis“ von Tür zu Tür. Dem Insider begegnet dabei immer wieder die altvertraute Vorgehensweise, die von der Autorin genauso dargestellt wird, wie sie noch heute jeder „Interessierte“ erlebt.

Doch die Ernüchterung kam schnell. Schon bald nach ihrer Taufe erkennt die junge Frau, dass es eine Realität hinter der freundlichen Fassade gibt, die man bisher sorgsam vor ihr verborgen hat. Sie merkt, dass die Liebe, die sie am Anfang zu spüren glaubte, nur Mittel zum Zweck war. Sie erlebt ein Umfeld, das von menschlicher Kälte, unausgesprochenen Zwängen und der ständigen Angst vor Harmagedon geprägt ist. Sie realisiert, wie sie trotz aller Brüder und Schwestern zu einem einsamen Menschen geworden ist. Und dass sich ihr Leben zu einem endlosen Ritual verwandelt hat, das ihre gesamte Energie aufzehrt und keinerlei Freiräume kennt.

„Ich war eine Zeugin Jehovas“ ist das eindringliche „Protokoll einer Verführung“, das eigentlich jeder lesen sollte, bevor er sich mit den Zeugen Jehovas einlässt. Eine Episode aus dem Leben einer Frau, die schon nach wenigen Monaten erkannte, dass das Leben eines Zeugen Jehovas kein lebenswertes Leben ist. Ein Buch, bei dem auch so mancher Zeuge Jehovas im Stillen denken dürfte, dass genau so seine eigene Realität aussieht.

Eine lesenswerte Neuerscheinung zum Thema Zeugen Jehovas.

Ich war eine Zeugin Jehovas
Protokoll einer Verführung
Martina Schmidt
Gütersloher Verlagshaus, 2005
ISBN 3-579-06851-2


Ein Sklave Jehovas findet zur Freiheit

Es gibt zwei Möglichkeiten ein Zeuge Jehovas zu werden: entweder man wird hineingeboren oder durch Missionierung „gefischt“. Zu denen, die auf die letzte Weise den Weg in diese Sekte gefunden haben, gehört Martina Schmidt. Ihr kurzer, aber heftiger Lebensabschnitt in dieser umstrittenen Religionsorganisation schildert sie in dem autobiographischen Buch „Ich war eine Zeugin Jehovas. Protokoll einer Verführung“.

Aufgewachsen in der ländlichen Ostseeregion Schleswig-Holsteins kommt die 17jährige Martina Ende der 1980er Jahre in Kontakt mit Zeugen Jehovas, die im Predigtdienst bei ihr zu Hause vorsprechen. Die grüblerische Einzelgängerin ist von der neuen Religion sofort fasziniert und wie ein Löschblatt die Flüssigkeit aufsaugt, nimmt sie alle als „geistige Speise“ bezeichnete Zeugen-Literatur in sich auf und richtet ihr Leben danach aus. Teils wird sie von den Zeugen Jehovas durch Sympathiebeweise hineingezogen, teils zieht sie selber tatkräftig mit. Währenddessen entfremdet sie sich ihrer Familie und ihrem schulischen Umfeld. Das Tempo, mit der sich diese Veränderungen in Martinas Leben vollziehen, überrascht. Denn während andere Interessierte über Jahre hinweg das so genannte Bibelstudium der Zeugen Jehovas absolvieren, ohne eine abschließende Entscheidung zu treffen, geht Martina total in ihrer Euphorie auf und gibt sich schon nach wenigen Monaten durch die Taufe völlig der Sekte hin. Alles in ihrem Leben – Schule, Beruf, Familie – ordnet sie vorbehaltlos bis zur Selbstverleugnung ihrem neuen Glauben unter. Zunehmend unfähig, ihr Leben rational zu erfassen, sieht sie alles durch die religiöse Brille eingefärbt. Aber motiviert zu ihrem eifrigen Dienst als „Kampfhund für Jehova“ fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig glücklich. Doch so schnell wie sie hineingekommen ist, so schnell kommt sie wie durch eine Drehtür auch wieder hinaus.

Denn der Reiz des neuen vergeht und wird rasch zur Routine. Die endlosen Wiederholungen in den Versammlungen wirken monoton. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft erweist sich als keineswegs so familiär wie erwartet. Und die „freiwillige Pflicht“ des frustrierenden Predigtdienstes erweist sich als zermürbend. Schnell bekommt Martina hier die unerwartete Leistungskontrolle durch die Ältesten zu spüren, die ihr ein schlechtes Gewissen einreden: „Du bist nun ein Sklave Gottes und darfst nicht mehr einfach deinen eigenen Wünschen nachgehen ohne Rücksicht auf Jehova“. Widerworte wagt sie nicht, denn die Ältesten, so hat Martina gelernt, darf man trotz ihrer Unvollkommenheit nicht kritisieren. Martina fühlt sich zunehmend unfrei und ungerecht behandelt; ihre Wahrnehmung wird nun empfänglicher für die Brüche und Widersprüche in der angeblich allein seligmachenden Zeugen-Lehre. Erste Zweifel kommen auf, ob sie sich wirklich in der wahren Religion befindet.

Aber auch ihre für eine junge Frau vollkommen normale Sehnsucht nach Zuneigung und intimer Nähe durch einen liebenden Partner erweist sich für ihr Glaubensleben als besonders problematisch. Dem gegenüber stehen der Frauenüberschuss in den Versammlungen und der unmissverständliche Rat der Organisation, dem Dienst für Jehova den Vorrang vor der Ehe einzuräumen.

Doch Martina spürt, dass die Liebe zu Jehova kein gleichwertiger Ersatz für ihr natürliches Verlangen nach menschlicher Liebe sein kann. Und genau hier sitzt der Sprengsatz für ihr Leben als Zeugin Jehovas. Ausgerechnet ihre seltsame Liebe zu Fred, einem alten Sonderling und „Weltmenschen“, wird da zum Initialzünder, eine verbotene Liebe, die in den Augen der Zeugen Jehovas einem schweren Tabubruch gleichkommt. Schlagartig wird ihr bewusst, dass das Leben mit seinen zwischenmenschlichen Beziehungen viel zu komplex ist, um es in das rigide und starre Regelkorsett der Zeugen Jehovas mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken zu fassen.

In den sich nun überstürzenden Ereignissen zerbricht die Beziehung zu Fred. Aber auch ihr scheinbar so festes Glaubensgerüst liegt nun in Trümmern. Tief am Boden trotzt Martina ihrer Angst vor dem göttlichen Weltgericht Harmagedon und entschließt sich zu einem radikalen Schritt, dem Ausbruch aus dem goldenen Käfig der Sekte. Aber das bemerkenswerte ist: entgegen der Warnung der Organisation geht Martina daran nicht zugrunde, sondern entwickelt aus den schmerzlichen Erfahrungen neue Kraft und vor allem ein für sie bis dahin nie gekanntes Selbstbewusstsein und Freiheitsgefühl, ohne dabei in einer galligen Rhetorik mit Bitterkeit auf die Zeugen Jehovas herabzublicken.

Der auf Tagebucheinträgen basierende Erlebnisbericht führt den Leser dicht heran an das Geschehen, so dass er entsprechend des zeitlichen Verlaufs alles aus Martinas subjektiver Perspektive sieht. Daher wirken die ehrlichen Schilderungen in der Phase vor Martinas Taufe auch geradezu harmlos. Im Gegenteil, mag sich der unbedarfte Leser fragen, was ist denn eigentlich so schlimmes vorgefallen? Martina fühlt sich glücklich, findet bei den Zeugen Freunde und Anerkennung - wo ist das Problem? Doch erst in der aufwühlenden Zuspitzung zwischen Taufe und Ausstieg wird durchschaubar, welches Indoktrinationssystem der Bewusstseins- und Gedankenkontrolle über die ganze Zeit hinweg in Martina am Wirken war, um dieses scheinbare Glücksgefühl zu erzeugen.

Dämonisierende und schlampig recherchierte Sektenreports bewirken bei Interessierten, die sich dieser Sekte anschließen wollen, oftmals das Gegenteil dessen was beabsichtigt wurde. Martinas mutiger und offener Rückblick auf ihre Zeit als Zeugin Jehovas sollte jedoch jedem Interessierten vor seiner Taufe in die Hand gegeben werden, damit er weiß, worauf er sich einlässt. Denn schon für so manche hat sich das blumige Selbstverständnis dieser Organisation als Vorausschattung des irdischen Paradieses hinterher als marodes Luftschloss herausgestellt, in das einzuziehen man sich doch gerne erspart hätte.

Solaris - Buchrezension zu "Ich war eine Zeugin Jehovas"