Geschlagen, gedemütigt und entmündigt: Mit diesen Worten beschrieb der Focus im Mai 2012 die Lebensverhältnisse bei den Zwölf Stämmen, eine Sekte, die seit Jahren in den Schlagzeilen ist. Als Robert Pleyer vor mehr als zwanzig Jahren in diese Sekte aufgenommen wurde, fühlte sich das zunächst wie eine Befreiung an. Doch bald zeigte sich, in welche Abhängigkeiten er geraten war. Denn bei den Zwölf Stämmen gelten allein die Regeln der Sektenführer, die ihre Macht auf umfassende Kontrolle stützen.

Vor drei Jahren beschloss Robert Pleyer, die Gemeinschaft mit seinen Kindern zu verlassen. Nun schildert er zum ersten Mal in allen Einzelheiten sein Leben bei den Zwölf Stämmen: die gottgleiche Stellung der Ältesten, die Entmündigung der Frauen, die Gewalt an den Kindern. Sein Bericht offenbart das Unmenschliche einer Sekte, deren Mitglieder kein Privateigentum besitzen, für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten und Ärzte nur im äußersten Notfall aufsuchen dürfen.


"Gott will keine persönliche Freiheit"
Von Peacelines am 18. Februar 2018

Nach einer Reportage des Fernsehsenders RTL über die Erziehungspraktiken der Zwölf Stämme eskalierte 2013 der Konflikt zwischen dem deutschen Ableger der amerikanischen Sekte und den staatlichen Behörden. Die öffentliche Aufmerksamkeit war der damals in einem klosterähnlichen Anwesen im bayrischen Nördlingen angesiedelte evangelikale Sekte sicher. Was geht innerhalb der Mauern dieser abgeschotteten Gemeinschaft vor sich? Schockierende Antworten liefert Robert Pleyer, ein früheres Mitglied der Zwölf Stämme, in seinem biographischen Insiderbericht „Der Satan schläft nie“.

Pleyers Geschichte bestätigt vieles, was man über Sekten und ihre Mechanismen weiß. 1990 kam er als junger Mann inmitten einer Sinn- und Lebenskrise erstmals in Kontakt mit den Zwölf Stämmen, die in ihrem Gegenentwurf zu einer scheinbar korrupten Welt seinem jugendlich-naiven Idealismus eine geeignete Projektionsfläche boten. Pleyers Weg in die Sekte verläuft dabei nicht ohne Brüche, doch schließlich sagt er sich von seinem bisherigen Leben los.

Die Vereinnahmung durch die Sekte erfolgt allerdings nicht total, denn Pleyer kann sich durch den für ihn nicht auflösbaren Widerspruch zwischen seinen eigenen Bedürfnissen und den Ansprüchen der Zwölf Stämme einen Rest an Eigenständigkeit bewahren. Er eckt mit seinen „liberalen“ Ideen immer wieder an und muß sich dafür demütigenden Bußritualen unterziehen. Dennoch arbeitet er sich hoch, übernimmt verantwortungsvolle Aufgaben und wirkt sogar als Lehrer der großen Kinderschar der Zwölf Stämme.

Kinder nehmen bei den Zwölf Stämmen einen entscheidenden Stellenwert ein, denn: „Ohne die Kinder wäre das von den Erwachsenen angetriebene Experiment am Ende.“ Ein archaisch anmutendes Verständnis von Kinderreichtum wird – neben der Missionierung – als Wachstumsmotor der Gemeinschaft angesehen. Entsprechend hoch ist die Kinderzahl. Bei der Kindeserziehung orientiert sich die Sekte an alttestamentarischen Vorgaben. Vorherrschend ist die – gesetzlich verbotene! - buchstäbliche „Zucht mit der Rute“, die den absoluten Gehorsam der Kinder erzwingen soll. Staatliche Schulbildung wird abgelehnt. Stattdessen werden die Kinder so früh wie möglich als Arbeitskräfte in die Wirtschaftsbetriebe der Gemeinschaft eingebunden. Alles wird vermieden, was den Nachwuchs dazu befähigen könnte, später außerhalb der Zwölf Stämme eine eigenständige Existenz aufzubauen. Die Vorstellung von Kindern als entwicklungsbedürftige Individuen hat in deren religiösen Doktrinen keinen Platz. Das Ziel ist die vollkommene Unterordnung im Dienst der Sekte: „Gott will keine persönliche Freiheit“.

Die brutalen Erziehungsmethoden der Sekte, die Pleyer gegen sein Gewissen auch an seinen eigenen Kindern praktiziert, wecken bei ihm ernste Zweifel. Erst im zweiten Anlauf gelingt ihm 2011 der Ausstieg, allerdings um den Preis seiner Ehe, da seine nach der lebenslangen Indoktrination zu jeder Eigeninitiative unfähige Frau das neue Leben nicht verkraftet und in die Gemeinschaft zurückkehrt. Ihm hingegen gelingt der (Wieder-) Einstieg in ein bürgerliches Leben, mit einer neuen Partnerin, nachdem die Sektenführung ihm als „Abtrünnigen“ jeden Kontakt mit seiner Ehefrau unterbindet.

Als ihnen der Boden in Deutschland „zu heiß“ geworden ist, haben die Zwölf Stämme die Konsequenzen gezogen und sind in die Tschechei ausgewandert. Auf ihrer deutschen Webseite geben sie sich nicht viel Mühe, ihre Überzeugungen über die ihrer Ansicht nach gottgefällige Form der Kindeserziehung zu verschleiern: „Seitdem die Rute verboten wurde, ist die Hölle los“, lautet der vielsagende Titel eines ihrer Videos (abgerufen am 18.02.2018), in dem die Sekte ihre „guten“ Vorsätze darlegt. Vorsätze, die auch heute noch mitten im 21. Jahrhundert zahlreiche Kinder der Zwölf Stämme zu fremdbestimmten Sklaven eines archaisch anmutenden Kults erziehen.

Es gibt wohl kaum eine religiöse Sondergemeinschaft, die die ihr eigenen Sektenmerkmale so sehr auf die Spitze treibt wie die Zwölf Stämme. Dagegen sind selbst klassische Sekten wie die Zeugen Jehovas ein Hort an Individualität. Und noch eine unbefriedigende Erkenntnis läßt sich aus diesem Fall ziehen: Nicht nur im Islam, auch im Christentum ist trotz Aufklärung und Moderne nach wie vor der Humus für die Entstehung hochproblematischer religiöser Gemeinschaften vorhanden! Gesellschaftliche Wachsamkeit wird künftig auch in diese Richtung notwendig sein. Vor allem wenn eine Gruppierung so wie die Zwölf Stämme auf die Waffe der Demographie setzt.