Wie komme ich dazu, mit „Zoom“ von Istvan Banyai, einem 1949 in Ungarn geborenen Graphiker, ausgerechnet ein Bilderbuch als Instrument der Aufklärung gegen die Manipulationstechniken von Sekten vorzustellen?

Die Antwort auf diese Frage beginnt mit der Not vieler Aussteiger zu erklären, wie sie ausgerechnet in die Fänge einer Sekte geraten konnten. „Es klang doch alles so logisch…“, das ist so ein häufig geäußerter Satz, um anderen begreiflich zu machen, was für einen selbst schwer verstehbar ist.

Die Argumente, dass wir uns in der Endzeit befinden… logisch!? Die Einwände gegen die Evolutionstheorie… plausibel!? So war für nicht wenige der Einstieg in eine Sekte wie den Zeugen Jehovas. Und hinterher kommen die Schuldgefühle, Verführern auf den Leim gegangen zu sein. Doch wie kann man Betreffenden vermitteln, dass sie hier einer Täuschung erlegen sind, die jeden Menschen treffen könnte?

Die Dinge sind nicht immer so, wie sie uns auf dem ersten Blick erscheinen. Nicht selten erliegen wir einer (Selbst)Täuschung, weil wir unseren Blick zu stark fokussieren auf das was vor uns ist und so die falschen Schlüsse ziehen. Einfach weil unserem Wahrnehmungsvermögen von vornherein Beschränkungen auferlegt ist, die wir aber durchaus überwinden können.

In dem Infolink-Seminar „Wie konnte ich bloß in eine Sekte geraten?“ vom Mai 2015 gab es für mich einen entscheidenden Augenblick der Erkenntnis, der den Schleier vor meinen Augen ein weites Stück wegschob. Dieter Rohmann, der Leiter des Seminars und einer der führenden psychologischen Therapeuten von Sektenaussteigern und ihren Angehörigen, hielt eine Übung ab, der die Bilder aus Istvan Banyais „Zoom“ zugrunde legen.

Banyais Bilderserie, die Dieter Rohmann an die Wand beamte, beginnt mit einem Zackenmuster, unter dem man sich unter Aufbietung der Phantasie alles Mögliche erklären kann. Blättert man eine Seite weiter, erkennt der Betrachter, daß diese gezackte Struktur der Kopfschmuck eines Hahns ist. Geht man über die nächste Seite noch weiter zurück, dann sieht man zwei Kinder, die vom Fenster aus diesen Hahn beobachten. Über die nächsten Seiten, und damit die Beobachtungsebenen weiter zurückverschiebend – also den Weitwinkel des Zooms erweiternd – kommt man auf immer neue, überraschende Einsichten, die dem Betrachter für jede Seite eine Neubewertung der beobachteten Situation abfordern. Dabei gelingt es Banyai, immer wieder neue überraschende Wendungen herbeizuführen.

Dieter Rohmann hatte dieselbe Übung schon einmal bei einer Gruppe „frischer“ Sektenaussteiger durchgeführt. Die Reaktionen fielen harsch aus, einige verließen gar empört den Raum. Einfach weil deren in Sektenstrukturen eingeübtes Denken auf Eindeutigkeiten getrimmt war, Ambivalenzen nicht ertragen, nicht zulassen konnte. Aber die Welt ist nun mal komplex, sie lässt sich nicht auf einen eindeutigen Nenner reduzieren. Vieles entzieht sich unserer Wahrnehmung und damit auch unserer vollständigen Kontrolle, so sehr wir uns verständlicherweise auch wünschen, diese zu behalten beziehungsweise der festen Überzeugung sind, diese inne zu haben.

Leben wir tatsächlich in einer „Endzeit“, in der sich die Verhältnisse „vom Schlimmen zum Schlimmeren“ verschärfen? Oder richten wir unseren Fokus zu stark auf die Gegenwart und projizieren unsere Idealvorstellungen auf eine Vergangenheit, die aber diesen Bildern keineswegs gerecht würde?

Verfügen wir als Laien tatsächlich über so viel Hintergrundwissen, um die Wahrheitsfrage über den Ursprung des Lebens zugunsten eines mythischen Erklärungsmodells beantworten zu können? Oder führt uns hier unser beschränkter Erfahrungshorizont zu falschen Trugschlüssen („Alles Dasein hat einen Urheber, oder nicht“)?

Die Dinge sind nicht immer so wie sie auf dem ersten Blick erscheinen… Manchmal muß man den Blickwinkel weiten. Wer dabei die Tiefenschärfe nicht verlieren will, muß Schritt für Schritt zurückgehen. Ein Weg, der sich zu gehen lohnt.

Das zu vermitteln, zu begreifen, dazu ist Istvan Banyais „Zoom“ ein geeignetes Instrument - ohne wortreiche Erklärung, ausschließlich durch die Kraft seiner geschickt arrangierten Bilder. Einfach weil seine Szenen vor allem so lebensnah und anschaulich sind. Hinzu kommt die ansprechende Ästhetik der im Retro-Style der 1950er Jahre gehaltenen Artworks, das das Bilderbuch auch zu einem optischen Genuß macht.

Istvan Banyai
Zoom
Verlag Sauerländer
ISBN 978-3-7373-6064-7
15,90 Euro