Es ist zunächst nicht einfach dieses Buch zu lesen, zwischen den Aufzeichnungen fehlen die deutliche Übergänge, die Gegenwart vermischt sich sowohl mit der Vergangenheit, wie auch mit den frei erfundenen Geschichten. Rilke schildert in seinem Roman die Identitätskrise eines sensiblen und der äußeren Welt völlig ausgelieferten Menschen.

Malte befindet sich in Paris, er kennt niemanden, seine tief empfundene Einsamkeit, die Fremdheit der neuen Umgebung wecken in ihm das Gefühl des Fremdwerdens der Wirklichkeit. Eine der durchgehenden Leitmotive ist die Ausdeutung des Masken, Verkleidungen und Rollenspiele, die er letztlich von den mit ihm im Bezug stehenden Personen als notwendig aufgedrängt bekommt.Die Möglichkeit, daß sich nichts unter dieser Maske befindet, versetzt ihn in starke Angstzustände. Er versucht eine Kontinuität in seinem Leben finden, fragt nach seinem Selbst.

Eine Möglichkeit des Herstellens dieser Kontinuität sind seine Kindheitserinnerungen. Malte erinnert sich z.B. an eine Szene in seiner Kindheit, in der er sich spielend in fremde Kleider vermummte, die allmählich die Macht über ihn bekamen. Er verwickelte sich in diese Äußerlichkeiten, die selbst auferlegte Maske dämpfte seine Stimme, niemand wußte jedoch die Situation richtig einzuschätzen, sie „standen da und lachten, mein Gott, sie konnten dastehen und lachen. Ich weinte, aber die Maske ließ die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete und hob meine Hände zu ihnen auf und flehte: Herausnehmen, wenn es geht, und behalten, aber sie hörten es nicht; ich hatte keine Stimme mehr.“ Als Kind wurde Malte ohnmächtig, er flüchtete in das "Nichtsein", was man als völliges Identitätsverlust deuten kann.

Rilke schließt seinen Roman mit einer Variante des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (da habe ich endlich die thematische Kurve hingekriegt!). Darin streift er noch einmal die ihn quälenden Themen. Der von den Erwartungen seiner Umgebung geplagte Sohn verläßt das Haus des Vaters, um der auf ihn gerichteten transitiven Liebe des Vaters zu entkommen. Nach einer langen Wanderung, die ihn zur möglichen Selbsterkenntnis, aber vor allem zur besagten Gelassenheit bringt, kehrt er nach Hause zurück (nicht unbedingt als einen Ansporn zur Wiederaufnahme deuten, bitte). Jetzt erkennt er die Lage und Absichten der anderen, findet sich damit ab, erlangt sein psychisches Gleichgewicht, erkennt seine innere Natur und lernt sie zu achten (meine positive Auslegung der Geschichte, in der Forschung wird auch der Gegenteil behauptet).

Ich las dieses Buch in der Phase meiner Ablösung von der WTG, und hatte zu der Zeit ebenfalls das Gefühl, mich wie in einer fremden Stadt zu bewegen, in der ich niemanden kannte. Ich war auf dem Weg zum Nullpunkt, ein Nichts, und dieses „Nichts fing an zu denken“. Das tat gut. Immerhin ein guter Anfang.

"Mouky"