Was ist von der Selbstdarstellung der Wachtturmgesellschaft über die Rolle der Zeugen Jehovas im Dritten Reich zu halten? Waren sie wirklich die einzige religiöse Gruppe, die geschlossen Widerstand gegen das Nazi-Regime geleistet hat, wie uns das von der WTG gesponserte Video "Standhaft trotz Verfolgung" glauben machen will?

Dr. Dietrich Hellmund aus Hamburg ist Theologe, evangelischer Pfarrer im Ruhestand und Autor von zahlreichen Veröffentlichungen unter anderem über das Thema Zeugen Jehovas. Er gilt als Kenner und kritiker dieser religiösen Gruppierung und war einer der ersten, der die Archive der Nazizeit durchforstete, um die Situation der Zeugen Jehovas während der Hitler-Diktatur zu dokumentieren.

Im Rahmen ihrer Tournee durch mehrere KZ-Gedenkstätten in ganz Deutschland lud die Wachtturm-Gesellschaft auch Dr. Hellmund ein, um ein Referat aus seiner Sicht vorzutragen und als kritischer Gesprächspartner an zwei Podiumsdiskussionen teilzunehmen. Wir meinen, das seine Ausführungen eine sehr objektive Darstellung der Situation und des Verhaltens der Zeugen Jehovas während der Nazizeit bilden und freuen uns über die Genehmigung, den Text des kompletten Referats hier zur Verfügung stellen zu dürfen.

Vortrag im Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Mein Vortrag steht unter dem Thema: kritische Reflexion über die Videodokumentation "Standhaft trotz Verfolgung – Propaganda oder zeitgeschichtliche Dokumentation"

Zunächst danke ich, daß ich hier stehen darf und als evangelischer Christ und Kirchenhistoriker mein Urteil abgeben darf zu dieser Information aus der Geschichte des Dritten Reiches. Das war nicht immer so, daß mein Urteil gefragt war. 1965, als ich anfing, mich für die Geschichte der Z.J in der NS-Zeit zu interessieren, hatte die WT- Gesellschaft in New York ebenso wie der Deutsche Zweig der Z.J. in Wiesbaden Dotzheim alles in ihren Möglichkeiten Stehende getan, um mich davon abzuhalten, Einblick in die Veröffentlichungen der WT- Gesellschaft zu nehmen – dabei ging es mir zunächst nur um Einsicht oder Ausleihe von Schrifttum, das die Gesellschaft Jahrzehnte früher selbst veröffentlichte. Diese Erfahrungen haben außer mir noch andere Autoren gemacht, die über die Zeugen Jehovas forschen wollten.

Wenn das heute so ist, daß ich hier reden und stehen darf, dann ist das vielleicht der Anfang zu Öffnung auch gegenüber einer Kritik von außen. Diese Kritik will und soll nicht ein Niedermachen einer entgegenstehenden Meinung sein, sondern ein nachdenklicher, helfender Beitrag zu Verstehen dessen, was damals in grausigen "tausend Jahren" geschehen ist – eine Zeit der Diktatur, in der fast alle schuldig und zweideutig geworden sind, die damals handeln, reden und schreiben konnten. Diesen Anfang zum gemeinsamen Erforschen und Deuten einer entsetzlichen Zeit begrüße ich ausdrücklich.

Ich rede hier, das sei gleich gesagt, als Christ, nicht nur als Historiker, der Vergangenheit aufhellen will, und ich nehme die Zeugen Jehovas wahr auch als Christen, bitte Sie, nehmen Sie mir das ab, beides. Auch das, was hier gesagt wird, muß einst verantwortet werden vor dem Richterstuhl Christi (Röm. 14)

So sehe ich mit Kummer und Bedrückung und tiefem Verstehen den Leidensweg vieler ZJ, die der unmenschliche Hitlerstaat in ein unglaubliches Leiden hineingezwungen hat. In meinem Buch über die Geschichte der ZJ habe ich so formuliert: "ZJ berichten in grauenhafter Ausführlichkeit von den unvorstellbaren Leiden im KZ, von Schikanen der Bewacher, von Hunger und Seuchen, vom Zernagtwerden durch Ratten, von der Verlausung, vom Sterben christlicher Dulder. Es ist unmöglich, dies ohne Anteilnahme und Mitleiden zu lesen.

Ich nehme mir als einer, dessen "kritische Reflexion" vom Veranstalter gefordert ist, das Recht, diese Dokumentation kritisch zu hinterfragen. Ich tue das mit diesen Feststellungen und belege sie:

Sieben Thesen zum Video-Film der Zeugen Jehovas: "Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime

These 1)

Bereits vor 1933 hat sich die WTG in eine ausgesprochene Konfliktlage gegenüber Staat und Kirchen gebracht.

These 2)

In der Anfangszeit des Dritten Reiches hat die WTG, also die Leitung der ZJ, eine Anpassung an das Dritte Reich gesucht und den sich abzeichnenden Konflikt so entschärfen wollen.

These 3)

In die Verfolgung der ZJ wurden auch von der WTG abgesplitterte Glaubensgemeinschaften hineingezogen, die nichts mit ihnen zu tun habe wollten (Tagesanbruch, Kirche des Reiches Gottes)

These 4)

Eine mildere, verständnisvollere Beurteilung der "kompromißwilligen" ZJ tut not.

These 5)

Die Zurücknahme von irrigen Einschätzungen der Ideologie des Dritten Reiches tut not. So spricht zum Beispiel "Zum Predigtdienst befähigt" von "katholischem Faschismus".

These 6)

Noch längst nicht reden alle verfügbaren Quellen: Die WTG sollte ihre Archive öffnen

These 7)

Auch falsche nachträgliche Bewertungen über Vorgänge der NS-Zeit sind zu revidieren unter Benennung der Irrtümer (z.B. antisemitische Einschätzungen)

Zu These 2:

In der Anfangszeit des Dritten Reiches hat die WTG, also die Leitung der Zeugen Jejovas, eine Anpassung an die herrschende Ideologie versucht und so den sich abzeichnenden Konflikt entschärfen wollen.

Das wird in der Dokumentation "Standhaft Trotz Verfolgung" nicht gesagt, obwohl sie die Resolution vom 25.06.1933 erwähnt. Willy Pohl sagte in "Standhaft trotz Verfolgung" zu der Aktion vom 25. Juni 1933:

In dieser Erklärung legten wir dar, daß wir keinerlei politische Ziele hätten, daß wir rein religiös tätig wären und wir doch entsprechend den Erklärungen in dem Parteiprogramm und auch von Regierungsvertretern die Freiheit des Glaubens in Anspruch nehmen möchten und deshalb diese Lage der teilweisen Verbote untersucht und aufgehoben werden sollte.

Mein Verständnis der Resolution ist völlig anders. Ich lese sie als Kompromißversuch mit dem Ziel, Koexistenz zu erträglichen Bedingungen auszuhandeln. Das haben damals nicht nur die ZJ versucht. Zu Ihrer eigenen Urteilsbildung verlese ich einige Sätze aus dem Begleittext der WTG zu diesem Dokument an den "sehr verehrten Herrn Reichskanzler"

Zitat I

Das Brooklyner Präsidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Masse deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen. Diese zwei Zeitschriften "The Watch Tower" und "Bible Student," waren die beiden einzigen Zeitschriften Amerikas, die eine Kriegspropaganda gegen Deutschland verweigerten und darum während das Krieges in Amerika auch verboten und unterdrückt wurden.

In gleicher Weise hat sich das Präsidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten nicht nur geweigert, an der Greuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigefügten Erklärung unterstrichen wird durch den Hinweis, daß die Kreise, welche diese Greuelpropaganda in Amerika leiteten (Geschäftsjuden und Katholiken), dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Präsidiums sind.

Zitat II

Auf der Konferenz wurde festgestellt, daß in dem Verhältnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Beziehung des Deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen, sondern daß im Gegenteil bezüglich der rein religiösen, unpolitischen Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher  zu sagen ist, daß diese in völliger Übereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung das Deutschen Reiches sind.

Zitat III

Endlich bekundete diese Konferenz der fünftausend Delegierten, daß die Bibelforscher bzw. die Watch-Tower-Organisation eintritt für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit des Staates sowie für die Förderung der vorerwähnten, auf religiösem Gebiet liegenden hohen Ideale der nationalen Regierung. Um hiervon vor allen Dingen dem Herrn Reichskanzler als dem Führer des Volkes und den übrigen hohen Regierungsbeamten des Deutschen Reiches und der Länder Kenntnis zu geben, wurde das vorstehend kurz Gesagte in anliegender Erklärung ausführlich niedergelegt. (Ergänzung Hellmund: Alle Zitate nach dem von Günter Pape in: "Die Wahrheit über Jehovas Zeugen" S.137 veröffentlichten Text, Hellmund, Kritische Reflexion S.4)

Diese Resolution ist m.E. alles andere als ein "Protest gegen die Hitlerregierung wegen ihrer anmaßenden Einmischung in das Zeugniswerk der Gesellschaft". Auch wenn es hier "nur" um den Begleittext zu der Resolution geht, nicht um die Resolution selber, ist beides zusammen (es wurde ja auch zusammen verschickt) alles andere als ein flammender Protest - so deutet es ein Geschichtswerk der Zeugen Jehovas (Vorhaben S.130).

Anmerkung:

Sprecher vom Informationsdienst der Zeugen Jehovas betonten in der nachfolgenden Diskussion mit Nachdruck, das sei der Begleitbrief gewesen und nicht die Resolution selber. Ich bestätigte den Sachverhalt gern und habe ihn auch in diesen Text eingearbeitet. Aber der Haken ist, daß damit der eigentliche, von mir gemeinte Sachverhalt nicht vom Tisch ist: Gerade der Vergleich beider Texte zeigt, daß die Führung der Zeugen Jehovas im Umgang mit den Mächtigen eine andere Sprache spricht als gegenüber der Basis, die natürlich den Inhalt des Begleitschreibens gar nicht zur Kenntnis bekam. Zusätzlich ist zu bedenken, daß dies Begleitschreiben, das ja zunächst und vielleicht nur gelesen wurde, die Resolution selber auslegt.

Für mich ist die Resolution ein Dokument der Anpassung und Anbiederung. Sie ist außerdem ein Beleg dafür, daß Frau Dr. King nicht recht hat, wenn sie auf dem Klappentext des Videos so zitiert wird: "... daß Jehovas Zeugen Stellung bezogen haben, und das von Anfang an, mit einer Stimme und mit ungeheurem Mut". Mit ungeheurem Mut - ja. Mit einer Stimme? Ich weiß nicht recht.

Zu These 3:

In die Verfolgung der Zeugen Jehovas wurden auch von der WTG abgesplitterte Glaubensgemeinschaften hineingezogen, die mit Rutherford nichts mehr zu tun haben wollten.

Nur kurz: Gemeint sind Splittergruppen wie die Kirche des Reiches Gottes, der Tagesanbruch und die Freie Bibelgemeinde (Freie Bibelforscher). Auch sie haben ihre Märtyrer, obwohl ihr Glaubensgut nicht so konfliktgeladen war wie im Falle der Zeugen Jehovas (Ablehnung von Wehrdienst und Hitlergruß z.B.) Aber ihre Verfolger behandelten sie wie Bibelforscher, wie die Zeugen Jehovas, ohne einen Unterschied zu machen. Die DDR behielt übrigens die Verbote bei. Mitgefangen - mitgehangen (Anmerkung: Die ZJ legen großen Wert darauf klarzustellen, daß sie wegen ihrer Besonderheiten die Einzigen waren, die als eigene Glaubensgemeinschaft in den KZ ein besonders Kennzeichen hatten, ein violettes Stoffdreieck auf der KZ-Uniform. Die Kriminellen trugen etwa ein solchen Dreieck in grün, die "Politischen" in rot. Evangelische Christen im KZ (wie Niemöller, Lilje, Bonhoeffer) wurden den Politischen zugerechnet und trugen das rote Dreieck. Dieser Sachverhalt dürfte bedeuten, daß auch die Häftlinge der "Freien Bibelforscher" das violette Abzeichen bekamen und daß somit die ZJ doch nicht als einzige Glaubensgemeinschaft diese Markierung hatten. Dieser Sachverhalt muß noch genau recherchiert werden. Aber, sollte sich der Sachverhalt bestätigen: diese Anderen wären dann nur eine zahlenmäßig ganz kleine Randerscheinung).

Zu These 4:

Eine mildere, verständnisvollere Beurteilung der kompromißwilligen ZJ und der sogenannten "Versager" tut Not.

Zwei Zeugen Jehovas werden in der "Dokumentation" nicht genannt, die in dieser Zeit besondere Verantwortung übernommen haben: Balzereit und Frost.

Paul Balzereit wurde 1920 Leiter des deutschen Zweiges, 1933 Präsident der deutschen WTG und vertrat damals wie auch Präsident Rutherford die Politik der Anpassung und Kompromißbereitschaft. Das setzte er in der Wilmersdorfer Erklärung fort, die die Anwesenden billigten. Ins Ausland entkommen, organisierte er die illegale Weiterarbeit von Prag aus. Er wurde im Mai 1935 verhaftet, dann aber noch im Gefängnis von Rutherford abgesetzt, weil ihm Balzereits Verhalten im Prozeß nicht gefiel. Er hatte auch eine Verpflichtung unterschrieben, wurde aber trotzdem erst 1938 aus dem KZ entlassen.

Balzereit hat sich m.E. um die WTG verdient gemacht, er verdient Besseres als diese Behandlung durch Rutherford.

Dies Verständnis hat auch Erich Frost verdient, Zweigdiener nach 1945. Im WT behauptete er, während seiner Verhaftung 1937 habe er unter Folterungen und Quälereien der SS schweigen können und kein für die Polizei wichtiges Wissen verraten. Er habe Leben und Freiheit der Brüder schonen können. Nach dem Kriege aufgefundene Vernehmungsprotokolle lassen aber erkennen, Frost hat Treffpunkte und Aufgaben seiner acht Bezirksdiener verraten, einem davon, Karl Siebeneichler, kostete das das Leben im KZ Sachsenhausen.

Auch Frost verdient aufgrund seiner vielen Verdienste um die WTG nicht Verachtung, sondern aus Verstehen geborenes Mitleid. Wer ist unter uns, der sagen könnte: Ich kann der Folter der Gestapo widerstehen!? Hier haben wir mit dem Fall Frost im übrigen das Zeugnis eines Zeitzeugen. Als historisches Dokument hat es ausgedient. Wer legt die Hand dafür ins Feuer, daß das der einzige Einzelfall ist!?

Anmerkung zum Fall Frost:

Im nachfolgenden privaten Gespräch gab mir jemand vom Informationsdienst der Zeugen Jehovas zu überlegen, daß die Vernehmungsprotokolle der Gestapo tatsächlich eine Fälschung der STASI sein könnten. Die meines Wissens nicht beweisbare oder bewiesene Möglichkeit hat einiges für sich. Denn mein Gewährsmann, der mir diese Gestapo-Protokolle zeigte, bekam sie anonym zugeschickt. Vielleicht auch die Redaktion des SPIEGEL, die als erste diesen Sachverhalt veröffentlichte.

Das gilt nun auch für die nicht wenigen, namenlosen Zeugen Jehovas, die lange Zeit treu bekannt, dann aber, z.B. durch eine Unterschrift, dem Druck nachgegeben haben. Eltern etwa, die vor der Einweisung ins KZ standen, aber bei gleichzeitigem Entzug des Rechts, eigene Kinder zu erziehen! Die eigenen Kinder, zwangsadoptiert von NS-Eltern - eine grausige Vorstellung. Haben Sie doch mehr Verständnis für diese schwach gewordenen Eltern! Was ist ein Glaubenszeugnis nach außen wert, wenn ich es eigenen Kindern nicht mehr sagen kann?! Hier gab es nicht die Entscheidung zwischen Gut und Böse - die fällt leicht - sondern zwischen Schlecht und Noch-Schlechter. Beide Verhaltensweisen lassen sich biblisch begründen! Hier entscheidet nach meinem Bibelverständnis nur das Gewissen des Betroffenen, hier kann keine Glaubensgemeinschaft Denken und Entscheiden abnehmen.

Mich bewegt ein Schicksal, daß mir vor einigen Tagen auf der KZ-Gedenkstätte Wewelsburg zugetragen wurde. In einem Schreiben an die WTG des Herrn Eduard Winkler vom 18.Sep.1995 wird es geschildert:

Da ist ein politischer Häftling in einem Arbeitskommando des KZ, zu dem auch einige Zeugen Jehovas gehören. Es war wieder einmal 20.April, "Führers Geburtstag" Aus diesem festlichen Anlaß besserte die SS die äußerst knappe Verpflegung etwas auf. Für jeden ein Stück Blutwurst! Die Zeugen Jehovas verweigerten gegenüber der SS wegen Hitlers Geburtstag und weil es Blutwurst war die Annahme dieses Festessens (für Lagerverhältnisse). Die SS-Bewacher gerieten in Wut. Das ganze Essen wurde dem ganzen Kommando, also nicht nur den Zeugen Jehovas, mehrere Tage lang weggenommen und Schweinen verfüttert.

Es litten unter dieser Glaubensentscheidung auch die vielen, die diese Glaubens- und Gewissensentscheidung gar nicht teilten.

War das weise, war das christlich, war das Nächstenliebe - fragten sich die "Politischen" und die Kriminellen? Wenn man Blutwurst nicht essen will, hätte man sie doch uns, den Mithäftlingen, geben können. Wo bleibt die Nächstenliebe? Hier werden andere Politische - ohnehin am Rande des Hungertodes - ohne jede Rücksicht in noch größere Not gebracht!

Damit wir uns verstehen: Mir geht es um die Außenwirkung der "Standhaftigkeit trotz Verfolgung". Wenn Christsein im KZ so vertreten wird, mit dieser ebenso verhängnisvollen wie ungewollten Nebenwirkung, machen wir für Außenstehende unsere Nächsten- und Gottesliebe völlig unglaubwürdig. In diesem der WTG an sich bekannten Vorgang und seiner Weglassung zeigt sich auch ganz deutlich eine Tendenz dieser filmischen Dokumentation: Sie ist sicher kein Propaganda-Film aber für mich eine geschickt dokumentierte Apologie - eine Verteidigungsschrift, ein Verteidigungsfilm.

Zu These 5:

Die Zurücknahme von irrigen Einschätzungen der Ideologie des Dritten Reiches tut not.

Zum Beispiel reden WT-Veröffentlichungen "von einer grausamen Behandlung der Zeugen Jehovas durch die römisch-katholische Hierarchie und ihre Verbündeten in Deutschland" oder so: "Die Hitlerregierung, die von Seiten der römisch-katholischen Hierarchie unterstützt und beeinflußt wird..." In Wahrheit war der Nationalsozialismus eine ganz eigene diktatorische Ideologie, ein Personenkult reinsten Wassers, die Gott-ähnliche Verehrung eines an die Macht gelangten Psychopathen. "Heil Hitler" - das sagt schon alles!

Zu These 6:

Noch längst nicht reden alle verfügbaren Quellen. Die WTG sollte ihre Archive öffnen.

Noch immer ist die Geschichte der Zeugen Jehovas im Dritten Reich nur teilweise erforscht.

Noch immer kennen wir nicht alle Akten, die das Dritte Reich hinterlassen hat (Thema: Beutekunst der Russen), noch immer kennen wir aber auch nicht die Überlegungen und Denkmodelle, die die WT-Gesellschaft in New York, vor allem aber ihr Präsident Rutherford, durchgeplant und versucht haben.

Kurz gesagt: Die Leitende Körperschaft der ZJ ist aufgefordert, 60-70 Jahre nach den Ereignissen ihre Archive in New York zu öffnen und ihre Protokolle und Akten der historischen Erforschung zugängig zu machen. Schließlich dürfte aufgrund dieses zeitlichen Abstandes auch kein Verantwortlicher mehr leben, der damals mit entschieden hat oder über den entschieden wurde.

Also: Ich bitte die WTG: Öffnen Sie ihre Archive!

Zu These 7:

Auch falsche nachträgliche Bewertungen über Vorgänge der NS-Zeit sind zu revidieren unter Benennung der Irrtümer (z.B. antisemitische Einschätzungen)

Die, die noch stärker gelitten haben als die ZJ, sind die Juden. Für sie gab es nur ein Urteil: Die "Endlösung", das meint die Judenausrottung aus rassischen Gründen. Unter ausdrücklicher Kenntnis dieser Umstände schreibt das Zeugen-Jehovas-Buch "GOTT BLEIBT WAHRHAFTIG" (englische Ausgabe 1946, deutsch 1948) über die Juden:

Viele ihrer Leiden haben sie sich durch ihre Geschäftemacherei und ihr rebellisches Handeln zugezogen" (S.224).

Dieser Satz nach dem Holocaust! Das ist dann viel zu wenig, wenn in der (wohl erzwungenen) Zweitauflage dieses Buches dieser Satz von den Herausgebern stillschweigend weggelassen wird. Das ist viel zu wenig.

Hier tut die Geschichtsschreibung der ZJ denen, die mit den ZJ im KZ gesessen haben, schweres Unrecht. Das sollte man 5o Jahre danach offen aussprechen und als Schuld bekennen! So hat es in notwendigerweise meine eigene (evangelische) Kirche in Gestalt des Stuttgarter Schuldbekenntnisses getan. (bei vergleichbaren Äußerungen und Versäumnissen).

Anmerkung:

In der nachfolgenden Diskussion auf dem Podium hat mich das Schweigen der beiden am Gespräch beteiligten Juden zu diesem antisemitischen Satz sehr erstaunt! Denn mit Referaten waren vertreten und bei meinem Referat auch anwesend Frau Dr. Sybil Milton vom United States Holocaust Memorial Museum aus Washington (DC) und Herr Prof. Dr. Henry Friedlander, City University of New York).

Ich komme zum Schluß und zitierte einige Sätze aus meinem 1972 veröffentlichten Buch über die "Geschichte der Zeugen Jehovas", Sätze, mit denen ich den Bericht über das Leiden der ZJ im Dritten Reich beschließe:

Ihre im KZ bewiesene Glaubenstreue sicherte ihnen außer der allgemeinen Bewunderung auch Sondervergünstigungen von Seiten der SS. Sie galten als willig, ehrlich, zuverlässig und leicht zu lenken. Sabotageakte waren von ihrer Seite her auch in den Rüstungsbetrieben nicht zu befürchten. So wurden sie oft in den Haushalten der Bewacher als billige, gern verwendete, zuverlässige Arbeitskräfte benutzt.

In dieser Sondervergünstigung liegt das Geheimnis der hohen Überlebensziffer. Denn diese Kalfaktorenposten in den Wohnungen der SS-Offiziere bedeuteten vielfach wesentlich leichtere Arbeitsbedingungen als üblich und ab und zu eine kleine Sonderration an Lebensmitteln. So kann die Statistik trotz der hohen Sterbequote im KZ "nur" höchstens 2000 tote Zeugen Jehovas verzeichnen. Und das bei einer seit 1934 eingekerkerten Gruppe! Die Überlebensquote der Juden etwa ist wesentlich kleiner. Und dabei wurde deren Verfolgung erst mit der "Kristallnacht" akut. Die unendlichen Leiden der Zeugen Jehovas im KZ sollen durch diese Feststellungen nicht bestritten werden. Sie waren so groß, daß in den Augen vieler das Urteil galt: "Nach den übereinstimmenden Aussagen von Mitgefangenen erfuhren die Zeugen Jehovas in den Lagern die schlimmste Behandlung" (Nr. 534). Das ist die Meinung eines Augenzeugen. Sie ist verständlich, aber falsch. Es hat nie einen Ausrottungsbefehl für Zeugen Jehovas gegeben, wie er etwa für Juden, Sinti und Roma und Geisteskranke vorlag. Es gab Millionen, denen es noch schlimmer ergangen ist und die ein noch größeres Martyrium berichten könnten, wenn diese Zeugenschar nicht für immer stumm wäre. Diese Millionen sind vergast, ein Schicksal, das fast allen Zeugen Jehovas erspart blieb. Wir verschließen uns allerdings die Augen vor dem entscheidenden Tatbestand, wenn wir die rettende Bewahrung so vieler Zeugen Jehovas auf kleinere Vergünstigungen und nicht erlassene Vernichtungsbefehle zurückführen. Es ist Gott der Herr, der diese Zeugen Jehovas bewahrt hat. Es ist Jesus Christus, der sich zu den seinen bekennt. Zu allen seinen Christen. Ich füge hinzu: Gleichgültig, in welcher Glaubensgemeinschaft sie sind.