Hallo,

ich wurde 1980, als älteste Tochter, in eine Zeugen Jehovas Familie geboren, außer mir gab es noch zwei Geschwister.

Meine Großeltern lebten im selben Ort wie wir. Mein Großvater ist Ende der 60er Jahre in ein Hilfe-Not Gebiet gezogen und war nun in dieser Versammlung Vorsitz führender Aufseher. Er hatte kurz vor 1975 sein gesamtes Hab und Gut verkauft, das Haus und seine Lebensversicherung, und hat alles der Organisation gespendet. Danach musste er bis zu seinem Tod in seinem eigenen Haus Miete zahlen.

Meine Oma war 1914 geboren und sie glaubte bis zu ihrem Tod, dass sie das Ende noch erleben würde. Die gesamte Verwandtschaft väterlicherseits war bei den Zeugen Jehovas, die Verwandtschaft mütterlicherseits war ausgeschlossen.

Mein Vater war erst Dienstamtgehilfe, dann Ältester, meine Mutter ab und zu Hilfspionier. Ich konnte mit 4 "Mein Buch mit biblischen Geschichten" auswendig und bekam gute Bewertungen (auf dem Ratschlagzettel) in der theokratischen Predigtdienstschule, sobald ich lesen konnte. Wir waren die Vorzeige-Vorbild-Funktionsfamilie mit allem was dazugehört: Rute der Zucht...(In unserer Versammlung war es normal, dass Kleinkinder(!), wenn sie gequengelt haben, auf die Toiletten verfrachtet wurden, dann hörten alle ein klägliches Wimmern (sie wurden dort verprügelt, damit sie im Saal still seien), Angst vor Dämonen und Satan, mit zugehörigen Albträumen. Meine Schwester hatte schon mit 3 eine Psychose von diesen Horrorgeschichten. Die Angst sitzt ihr heute noch in den Knochen. Sie ist jetzt Pionierin.

Meine ersten Zweifel bekam ich mit 9 oder 10, als meine Eltern in unserem Kinderzimmer eine Säuberungsaktion durchführten und alle meine geliebten Michael Ende Bücher zerrissen, Grimms Märchen und diese Trolle mit den bunten Haaren, die damals alle Kinder hatten, in den Müll warfen. Heimlich behielt ich einen und versteckte ihn, um abzuwarten, auch mit Furcht, wann denn da nun die Dämonen rauskommen würden. Hatten doch meine Eltern selbst, es mir vorher erlaubt, diese Dinge zu haben. Eine extreme Schwester hatte meine Mutter auf unser dämonisches Spielzeug aufmerksam gemacht.

Mit 12 wartete ich nur noch darauf, endlich 14 und religionsfrei nach dem Gesetz zu werden, um dann endlich die Zeugen und nötigenfalls auch meine Familie zu verlassen.

Trotzdem wurde ich ungetaufte Verkündigerin und ging in den Predigtdienst, immer mit der Angst, Leute aus meiner Schule könnten mich sehen und der Angst, meine Widersprüche könnten auffallen und ich würde bestraft.

Ich begann ein Doppelleben und knüpfte erste Kontakte mit der Welt, schwänzte ab und an die Versammlung, indem ich mich krank stellte und, während alle in der Versammlung waren, in unseren örtlichen Jugendclub ging, um meinem weltlichen Leben zu fröhnen. Kurz vor Ende der Versammlung musste ich aber wieder im Bett liegen, um so zu tun, als würde ich schlafen. Es ging gut, meistens jedenfalls.

Mit 14 ging ich zu einem unserer Ältesten und teilte ihm mit, dass ich nicht mehr in den Predigtdienst gehen wolle, keinen Bericht abgeben würde und die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas verlassen würde. Das gab Ärger und Gespräche von allen Seiten. Ich musste mit den Ältesten reden, meine Oma weinte, ich breche ihr das Herz, und sie würde jede Nacht für mich die ganze Zeit nur beten. Meine Eltern versuchten über Sanktionen und Prügel, mein weltliches Leben und meinen schlechten Umgang einzuschränken, meine Verwandtschaft drohte mit Isolation. (Was sie auch durchzogen, habe seitdem alle nur noch auf Hochzeiten oder Beerdigungen gesehen.)

Doch es gab Hoffnung, mein kleiner Bruder begann auch zu rebellieren, was ich natürlich tatkräftig unterstützte und bei meiner Mutter regten sich erste Zweifel. Sie deckte mich sogar ein paar mal, als ich die Zusammenkunft schwänzen wollte. Später trennte sie sich von meinem Vater, weil sie einen Zahn "verloren" hatte (Danke Paulus!: "Die Frau sei dem Manne untertan, und sie ehre ... ihn." Damit wurde den Männern jahrhundertelang die Rechtfertigung zu Gewalt und Unterdrückung gegeben.)

Die ganze Situation eskalierte irgendwann in einem Selbstmordversuch von mir, weshalb ich für ein Jahr in eine Pflegefamilie gesteckt wurde (von Seiten des Jugendamtes, die mich vorher schon seit drei Jahren hängen gelassen hatten, obwohl erst ich, dann mein Bruder, sie richtig um Hilfe angefleht hatten. Ich hoffe dass die Jugendämter heute sensibilisierter für dieses Thema sind.)

Nachdem meine Mutter ausgeschlossen wurde, weil sie sich von meinem Vater getrennt hatte und in einer neuen Beziehung lebte, verlor mein Vater sein Amt als Ältester und begann auch ein Doppelleben. Er war Alkoholiker und hatte viele Freundinnen, so ganz untheokratisch.

Nach einem Jahr bei der Pflegefamilie kehrte ich nach Hause zurück, und wir lebten, wie mein Vater und meine Schwester es nannten, zwar unter einem Dach, aber nicht in geistiger Gemeinschaft. Ich durfte kochen, putzen, Wäsche waschen und die Hausaufgaben der Kleinen kontrollieren, seine Scheiß weißen Hemden für die Versammlung bügeln. Schließlich flog das Doppelleben meines Vaters auf, da er mit einer seiner Freundinnen unverheirateterweise zwei Kinder bekommen hatte. Er wurde ausgeschlossen, doch später, als er die Frau heiratete, wieder aufgenommen.

Ich brach zusammen. Wieder zwei Kinder mehr, die in diese Sekte hineingeboren wurden!

Ich verließ die Kleinstadt mit 18, als auch meine beiden anderen Geschwister ihre Schule abgeschlossen hatten und ging weit fort von diesem furchtbaren Ort. Ich musste erstmal alles ausprobieren, was bei den Zeugen Jehovas verboten war, es war nicht immer zu meinem Besten, aber wahrscheinlich wichtig. Mein kleiner "rebellischer" Bruder kam später hinterher und ist nie Zeuge Jehova geworden, was mich sehr glücklich macht.

Da die kleineren Geschwister noch in den Fängen der Zeugen waren, besuchte ich die Familie ab und zu, um den Kindern klarzumachen, dass sie auf mich zählen können, falls sie einmal da raus wollen.

Ich habe diese Seiten und die Selbsthilfegruppen erst viel später entdeckt, hatte mich doch aber nie getraut etwas zu schreiben, da ich Angst hatte, meine Familie könne es rausfinden, und mir den Umgang mit den Geschwistern verbieten, da ich von der Kategorie abtrünnig, in die Kategorie Gegnerin gewechselt wäre.

Doch einmal habe ich etwas geschrieben. Es gab auf dieser Seite eine Umfrage zum Thema "Suizid und Zeugen Jehovas", es wurden Daten gesammelt über Suizid bei Aussteigern. Da dies auf mich und auch meine Mutter zutraf, habe ich mich eingetragen.

Einige Jahre später bei einem Besuch zu Hause sprach mich mein Vater drauf an, was ich denn da schreiben würde über mich und die Mama. Und dass er wisse, dass ich mich auf Gegnerseiten rumtreibe. Obwohl ich es anonym geschrieben hatte, hatte er die Geschichte erkannt.

Ich habe solche Angst bekommen, dass ich erstmal Jahre brauchte, bis ich wieder auf diese Seite gehen konnte, so tief sitzt diese Angst, die uns eingbleut wurde.

Inzwischen ist es mir (fast) egal, wenn mein Vater das hier liest. Ich hoffe es sogar für ihn, es kann nur bedeuten, dass er auch Zweifel hat.

Als ich zuletzt bei meiner Familie war wurde ich auch schon gar nicht mehr alleine an die Kinder rangelassen, diese furchtbare Schwester die "mit ihnen studiert" war ständig um sie herum, und hat noch die Frechheit besessen, mich anzupredigen.

Und jetzt möchte ich noch etwas zu der Verlogenheit einiger Zeugen Jehovas schreiben: Viele führen ein Doppelleben, im Laufe der Jahre als Abtrünnige haben so einige mir ihre Geschichtchen erzählt. Es gibt Brüder und Schwestern die rauchen, gehen in Discos(!), haben weltliche Freunde, einige haben schon seit Jahren Beziehungen außerhalb ihrer Ehen im Geheimen. Ein Ältester hat junge Frauen, Schwestern, nach der Zusammenkunft im Königreichssaal sexuell belästigt, was nur zur Folge hatte, dass die Schwestern sich vor einem Rechtskomittee rechtfertigen mussten, warum sie sich denn so aufreizend benommen hätten! Älteste die Vergewaltigungsopfern nur den Mund ausspülen und sie danach unter Druck setzen nichts davon zu erzählen, das könne man ja Bruder sowieso nicht antun.

Ich erwarte von niemand, sich an die lebensfeindlichen Regeln dieser Sekte zu halten, es ist eigentlich unmöglich. Das Widerliche dabei ist nur, dass genau jene Personen über andere richten und sie mit genau den Gesetzen ausschließen, die sie selbst nicht einhalten.

Der Allerschlimmste aber war mein Opa, dieser hochangesehene Zeuge, hohes Tier bei den Ältesten. Die Leute haben ihm ihre Kinder mit in den Predigtdienst gegeben, damit sie was von ihm lernen sollten. In allen Komitteefällen war er der Strengste, hat mit dem Zollstock die Röcke der Schwestern nachgemessen, dass sie in seiner Versammlung nur keine Sünde verursachen, weil die Röcke zu kurz sind.

Dieser vorbildliche Christ hat jahrelang alle Kinder in der Familie, auch mich, sexuell missbraucht. Ich habe Angst, dass es noch weitere Kreise gezogen hat und noch mehr Kinder außerhalb der Familie betroffen sind.

Er hat uns Angst gemacht mit den Dämonen und uns die Schuld an der Sünde gegeben.

Durch ihre Geheimhaltungsregeln an die Ältesten schafft die Wachtturmgesellschaft Freiräume für solche Täter, die unbehelligt jahrelang ihr Treiben fortsetzen können.

Ich bin nicht mehr religiös, das Christentum lehne ich sogar auf das schärfste ab, (ist mir zu frauenfeindlich [Eva= Sünde] und antisemitisch [Juden=MessiasMörder/Verräter]) aber genauso lehne ich alle anderen Religionen ab. Für mich sind es Möglichkeiten, die Verantwortung abzugeben, die Verantwortung über unser Jetzt, unser Sein und Handeln. Für die Mächtigen eine Möglichkeit zu unterdrücken, Geld zu verdienen und Menschen in sinnlose Kriege zu führen.

Vielleicht bin ich Atheistin oder Pantheistin, wer weiß das alles schon so genau? Die furchtbare Phase der sozialen Isolation habe ich schon lange (zum Glück!) überstanden und habe hier ein tolles soziales Umfeld, auf das ich mich verlassen kann. Es war nicht einfach, über die Ängste hinwegzukommen, und die Krisen und Depressionen und schlechten Tage lauern hinter jeder Ecke und erwischen mich auch immer wieder, die werd' ich nie los. Das einzige Licht, dem ich jetzt noch hinterherjage, gibt es beim Fotografieren.

Danke für die Geduld, diesen langen Text durchzulesen, mir kam er ewig vor, habe auch 13 Jahre gebraucht ihn zu schreiben.

Alles Liebe für euch und viel Kraft, hinauszugehen!