Um zu verstehen wie ich zu den Zeugen Jehovas kam, muss ich bei meinen Eltern bzw. meinem Vater anfangen.

Er hatte im Krieg als Kind und später als Soldat sehr schlimme Erlebnisse, verlor seinen Vater als er sechs Jahre alt war und verließ seine Heimat. Diese Dinge hatte er nie verkraftet und verarbeitet. Heute weiß ich, dass er wahrscheinlich psychisch krank war. In Deutschland heiratete er dann meine Mutter.

Er suchte nach dem Sinn des Lebens bzw. nach der wahren Religion. Die Kirchen und Religionen, die er bis dahin erlebte, waren für ihn alle Heuchler und er war sehr enttäuscht. Er wollte uns Kinder auch nicht taufen lassen.

Eines Tages kamen die Mormonen an unsere Tür. Was die ihm da erzählten, gefiel ihm. Uns wurde versprochen, dass wir Geld bekommen würden, damit wir nach Amerika fliegen können, um bei den Mormonen zu leben. Bevor es dazu kam klingelten die Zeugen Jehovas an unserer Tür. Sie hatten auf alle Fragen eine Antwort und mein Vater willigte in ein Heimbibelstudium ein. So wurde ich sozusagen fast in diese Religion hineingeboren und wuchs darin auf. 1971 ließen sich meine Eltern und mein ältester Bruder zusammen taufen. Dies wurde von meinem Vater so bestimmt.

Insgesamt sind wir acht Kinder, sechs Mädchen und zwei Jungen. Ich bin die Viertälteste.

Nun sollte man annehmen, dass die Erkenntnis die wahre Religion gefunden zu haben, meinen Vater dazu veranlassen würde einen anderen, nämlich einen besseren Menschen zu werden. Aber leider war es nicht so. Auf der einen Seite wurde er Zeuge Jehovas genannt, auf der anderen Seite misshandelte er uns seelisch und körperlich. Das ging hin nicht nur zu ständigen Morddrohungen, sondern auch durch die Brutalität und den Alkoholeinfluss fast hin bis zur Tötung. Alles bis ins Detail zu erzählen würde zu weit gehen. Jedenfalls war diese Situation für mich zum Schluss kaum noch auszuhalten. Ich war ein sehr sensibles Kind und litt unter den Ungerechtigkeiten und seelischen Misshandlungen meines Vaters mehr als unter den körperlichen Schlägen, denn diese spürt man irgendwann nicht mehr. Dies führte dazu, dass ich psychisch krank wurde. Ich war durch diese ständige Unterdrückung total eingeschüchtert und war nicht in der Lage mit Fremden zu kommunizieren geschweige den Kontakte zu knüpfen. Da ich mit niemand darüber reden konnte, dachte ich mir viele schöne Geschichten für mich aus, wo ich einen Vater hatte, der sich um mich kümmerte. Nachts im Bett erzählte ich einem Menschen, der mir in der Realität sympathisch war, in Gedanken alles was ich schlimmes erlebt habe. Ich hatte deshalb viele schlaflose Nächte. Doch es war keine Erleichterung für mich, denn ich habe ja nicht wirklich geredet. Von meiner Mutter konnte ich keine Hilfe erwarten. Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass mir das alles so zu schaffen macht und meinte, wenn ich so weiter mache lande ich im Irrenhaus. So fühlte ich mich ziemlich alleine gelassen.

Als ich in die Schule kam, sprach ich vier Jahre lang kein einziges Wort mit den Mitschülern oder Lehrern. Von einigen Schülern wurde ich deswegen verspottet und gequält oder geschlagen, andere hatten aber auch Mitleid. Doch ich wehrte mich nicht. Still und leise litt ich vor mich hin. Ich war deswegen ca. 2–3 Monate in der Kinderklinik in der Abteilung für psychisch Kranke und misshandelte Kinder, wo ich aber auch kein einziges Wort redete. Nachdem mein Vater darum gekämpft hatte, dass ich aus der Klinik entlassen werde, kam ich nach ca. einem Jahr in eine Schule für schwerhörige und sprachbehinderte Kinder. Dort redete ich das erstemal in meinem Leben mit den Schülern und Lehrern. Da war ich elf Jahre alt. So nach und nach überwand ich meine Schüchternheit und wurde von der Klasse akzeptiert. Da sich die Lehrer in dieser Schule besonders um jeden einzelnen kümmerten, hatte ich wenigstens dort so was ähnliches wie eine Ersatzfamilie. Obwohl es im Großen und Ganzen akzeptiert wurde, dass ich aufgrund meines Glaubens nicht alles mitmachen durfte, war es für mich nicht immer einfach.

Selbst nach meinem Klinikaufenthalt hörten die Misshandlungen meines Vaters immer noch nicht auf und dies, obwohl er sich Zeuge Jehovas nannte. Er hatte zwei Gesichter, führte also ein Doppelleben und keiner in der Versammlung wusste wie er wirklich war. Er war sehr scheinheilig. Bei den Ältesten machte er uns Kinder immer schlecht, fragte sich aber nicht, ob er nicht was falsch mache. Den Glauben benutzte er nur für seine Zwecke, er selbst lebte überhaupt nicht danach. Er ging so gut wie nie in den Predigtdienst, besuchte die Versammlungen unregelmäßig und schickte meine Mutter mit uns, in der Zwischenzeit acht Kinder, alleine in die Versammlung. Da wir eine große Familie waren und mein Vater nicht so gut verdiente, mussten wir immer eine Stunde zur Versammlung hinlaufen und dieselbe Strecke wieder zurück, egal wie alt wir waren. Nun sollte man meinen, dass meine Mutter große Schwierigkeiten hatte uns in der Versammlung ruhig zu halten, aber dem war nicht so. Da wir ja zu hause total eingeschüchtert wurden, saßen wir in der Versammlung zwei Stunden ohne Spielsachen oder Malzeug mucksmäuschenstill. Wir durften auch zwei Stunden lang nicht zur Toilette. Es war als Kind natürlich sehr langweilig, weil ich nicht verstand, was da oben von der Bühne erzählt wurde. Ich hab zwar zwischendurch versucht zu verstehen, was die da eigentlich sagen, aber ich verstand nur Bahnhof und Abfahrt. Aber eins hatte ich schon ganz früh eingetrichtert bekommen und auch verstanden, nämlich dass wir kurz vor Harmagedon stehen und es nicht mehr lange dauert, bis Gott die böse Menschenwelt vernichtet. Meine Mutter sagte immer zu uns, dass unsere jüngste Schwester ganz bestimmt nicht mehr in die Schule kommen würde, da bald das Ende kommt. Heute ist meine Schwester selbst Mutter von zwei Kindern und das Ende der Welt ist immer noch nicht da.

Bevor meine Eltern sich taufen ließen, kamen sonntags immer zwei Glaubensbrüder, die ein Heimbibelstudium mit meinen Eltern führten. Wir Kinder mussten uns immer dazu setzen, obwohl wir überhaupt nichts verstanden. Das war immer sehr langweilig und mich ärgerte besonders, dass ich vom Spielen weggeholt wurde. Trotz allem war das was mir erzählt wurde für mich die Realität, die absolute Wahrheit. Ja ich glaube deshalb, weil ich nichts anderes kannte bzw. mir die Welt als böse und von Satan beherrscht beschrieben wurde und das von Klein auf.

So war ich nicht nur aufgrund dessen, dass ich zuhause misshandelt wurde, sondern dass meine Eltern Zeugen Jehovas waren, in der Schule eine Außenseiterin. Ich durfte an keine Feste teilnehmen, durfte keine Weihnachtslieder singen oder Gedichte auswendig lernen oder den Nikolaus malen oder sonst was. Alles was die anderen Kinder durften, war mir verboten. Da kann ich mich noch ganz genau an eine Situation in der Schule erinnern. In der Singstunde als die Klasse ein Weihnachtslied nach dem anderen gesungen hatte, bin ich raus zur Toilette und hab mich da rumgedrückt bis die Stunde um war, nur damit ich diese heidnischen Lieder nicht hören musste, denn es war Sünde sich solche Lieder anzuhören. Es war schlimm für mich, aber es war normal für mich, da man ja als wahrer Christ leiden muss, wie einem immer wieder eingebläut wird. Was ich bis heute auch nicht vergessen hatte war eine Situation in der Schule als ich elf Jahre alt war. Die Lehrerin hatte für jedes Kind ein Weihnachtsgeschenk gemacht, doch ich lehnte meines entschieden ab. Da sie jeden Schüler gleich behandeln wollte, redete sie mit meinem Vater, ob ich nicht doch das Geschenk nehmen darf. Er erlaubte es zwar, aber mein Gewissen ließ es nicht zu. So redete die Lehrerin stundenlang auf mich ein, das Geschenk doch zu nehmen. Irgendwann gab ich dann zwar nach und nahm das Geschenk, aber ich hatte so ein schlechtes Gewissen dabei, dass ich es unter meinem Bett daheim jahrelang versteckte, ohne es anzurühren.

Im Kindergarten war kein einziges Kind von uns. Erstens hatte mein Vater ein kleines Einkommen, zweitens meinten meinen Eltern, wir wären genug Geschwister und bräuchten nicht in den Kindergarten. Außerdem würden wir früh genug mit schlechtem Umgang in der Schule konfrontiert werden.

Freundinnen hatte ich nicht, da ich einerseits nicht fähig dazu war, andererseits von meiner Mutter immer wieder zu hören bekam, dass Freundinnen alle falsch sind. Außerdem hätte ich ja genug Geschwister mit denen ich spielen kann und bräuchte deshalb keine Freundin. Meine Mutter ging nie von Haus zu Haus in den Predigtdienst, denn einerseits hatte sie durch die vielen Kinder überhaupt keine Zeit dazu, aber andererseits hätte sie nicht den Mut dazu gehabt. Aber darum hat sich in der Versammlung anscheinend niemand gekümmert. Da meine Eltern nicht in der Lage waren mit uns Kindern zu studieren, hat das eine Glaubensschwester gemacht, die sehr froh war, dass sie deshalb nicht in den Predigtdienst gehen musste. Sie konnte ja durch unsere große Familie viele Stunden auf den Berichtszettel schreiben. Meine Eltern waren keine vorbildlichen Zeugen Jehovas und ich dachte immer wir - unsere Familie - sind eine Ausnahme. In allen anderen Familien sieht es besser aus. Ja ich dachte immer die anderen sind glücklich, haben ein harmonisches Familienleben und überhaupt keine Probleme. Die Ältesten kamen mir, als ich Kind war, vor als wären sie vollkommen und hätten überhaupt keine Fehler und Schwächen. Sie waren für mich wie Halbgötter. Dass dies nur eine Scheinwelt war und jeder dem anderen nur etwas vorgespielt hat, auf die Idee kam ich als junger Mensch nicht. Erst später als ich älter wurde, merkte ich immer mehr, dass auch andere ihre Probleme hatten und nicht alles so toll ist, wie es scheint.

Obwohl ich so misshandelt wurde oder vielleicht gerade deshalb und meine Eltern keine vorbildlichen Zeugen waren, war ich fest davon überzeugt, dass die Religion der Zeugen Jehovas die Wahrheit ist und hatte mir zum Ziel gesetzt in geistiger Hinsicht Fortschritte zu machen. Ohne von meinen Eltern aufgefordert zu werden, begann ich schon als Kind und Jugendliche regelmäßig die Versammlungen zu besuchen, so gut es ging mich auf das Buchstudium vorzubereiten und die Zeitschriften Wachtturm und Erwachet zu lesen. Ich hatte mich nach einer besseren Familie und einer besseren Welt gesehnt, ohne all dieses Elend was ich selbst miterlebt hatte und ohne dieses Leid auf der ganzen Welt. Diese Hoffnung, die mir dieser Glauben gab, dass es einmal ein ewiges Paradies auf Erden geben wird, wo Frieden herrschen wird, hat mich regelrecht in diese Religion getrieben. Andererseits aber auch die Angst, wenn ich diese Organisation verlasse, dass ich dann in Harmagedon sterben werde. Die Welt da draußen und die Religionen wurden mir auch so schlecht geschildert, dass ich dachte es gibt nichts besseres. Außerdem war das die einzige Religion, die mir auf alle meine Fragen so eindeutige Antworten geben konnte. Das konnte mir sonst niemand bieten.

Ich versuchte meine Schüchternheit zu überwinden und schaffte es mit 15 Jahren meine erste Antwort im Versammlungsbuchstudium zu geben. Später motivierte ich auch zwei meiner Geschwister Antworten zu geben, indem ich ihnen kleine Zettel schrieb, wo sie nur noch die Antworten ablesen mussten. Ich versuchte immer wieder meine jüngeren Geschwister anzutreiben, da einige doch sehr lasch waren.

Dann hatte ich mir als nächstes das Ziel gesetzt von Haus zu Haus zu gehen. Da ich aber sehr schüchtern war, bin ich jahrelang nur mitgegangen, ohne etwas zu sagen. Das einzige was ich fertig brachte war einen Einladungszettel abzugeben. Später hatte ich sogar den Mut bei einer Faltblattaktion alleine mit meiner jüngeren Schwester zu gehen, um diese Traktate abzugeben. Man musste ja nicht viel sagen . Ich wollte mich irgendwann mal taufen lassen, aber erst, wenn ich es schaffen würde ein eigenes Gebiet zu haben und mit den Leuten Gespräche zu führen. Doch ein Ältester versuchte mich dazu zu bringen mich schon vorher taufen zu lassen. Irgendwann gab ich dann nach und ließ mich mit ca. 18 Jahren taufen. Als ich getauft war, dachte ich: „Jetzt musst du dir ein eigenes Gebiet nehmen und mit den Leuten reden. Denn wenn ich das nicht mache, bin ich keine richtige Zeugin Jehovas bzw. keine Verkündigerin.“ Es kostete mir sehr viel Mut, doch ich hatte es geschafft. Die weiche Knie und die Angst im Nacken waren irgendwann nicht mehr so schlimm. Durch die regelmäßige Übung und die sogenannte theokratische Schulung in der Versammlung, war ich dann auch in der Lage Gespräche zu führen. Danach lernte ich Rückbesuche zu machen und später hatte ich sogar mehrere Bibelstudien.

Durch diesen Glauben und meine negativen Kindheitserlebnisse hatte ich in meinem späteren Leben riesengroße Probleme. Angefangen hat es damit, dass ich nicht wusste welchen Beruf ich lernen sollte oder, ob ich weiter zur Schule gehen sollte. Da ich gute Noten in der Schule hatte, rieten mir meine Lehrer dazu weiter zur Schule zu gehen, was ich dann auch tat. Doch durch meine Schüchternheit und ohne Selbstvertrauen, war ich nicht in der Lage mich gegen eine Mitschülerin zu wehren, die meine Hilflosigkeit erkannte und dies ausnutzte. Sie hetzte die ganze Klasse gegen mich auf. Man versuchte mich in den Papierkorb zu stecken. Vor lauter Angst bin ich von der Schule abgehauen und die Klasse rannte hinter mir her. Da der Unterricht aber weiterging mussten sie zurückkehren. Das war mein Glück. Wer weiß, was die noch alles mit mir gemacht hätten. Am nächsten Tag ging ich nicht mehr in diese Schule. Daheim versuchte ich es vor meinem Vater zu verheimlichen, bis es rauskam. Er wollte vor Gericht. Ich aber nicht. So brach ich diese Schule ab und war ein Jahr lang zuhause bevor ich vom Arbeitsamt einen Grundausbildungslehrgang für Büro- und Verwaltungstechnik angeboten bekam. Wie es zu meiner Berufswahl danach kam, das war so. Ich dachte bei mir: „Ein Beruf wo ich den ganzen Tag stehen muss oder Kunden bedienen muss, das will ich nicht und kann ich nicht. Außerdem hat man als Verkäuferin schlechte Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung. Als Kind hatte ich mir immer eine Schreibmaschine gewünscht, im Büro ist es schön ruhig (das ist für meine Nerven gut), die Arbeitszeit ist besser und die Bezahlung auch. Also gehe ich aufs Büro.“ Nachdem mir das Arbeitsamt eine Lehrstelle im Büro angeboten hatte, bewarb ich mich dort und wurde eingestellt. Jedoch hatte ich riesengroße Angst, dass ich die Probezeit nicht bestehe. Ich hatte gar keine Vorstellung, was mich da erwartet und stellte es mir ganz schwer vor. In meiner Ausbildung am Arbeitsplatz, in der Berufsschule war ich durch meine Verhaltensstörung und durch den Glauben eine Außenseiterin und musste dadurch sehr viel einstecken. Außerdem musste ich dadurch, dass sich meine Eltern nicht mit mir abgegeben hatten und ich keine richtige Erziehung genoss, viele Dinge, die für jeden Menschen normal sind erst viel später schmerzlich lernen. Ja ich musste auch lernen mich selbst zu lieben, was sehr viele Jahre in Anspruch nahm. Sogar heute habe ich damit hin und wieder meine Schwierigkeiten.

Richtige Zukunftspläne hatte ich nie, da ich dachte es kommt bald Harmagedon, dann ist sowieso alles vergebens. So ließ ich mich mehr oder weniger treiben und überließ vieles dem Zufall. Ich dachte z. B.: „Entweder es findet mich ein Mann und ich heirate bevor das Ende kommt oder es ist Gottes Wille, dass ich allein bleibe und erst nach Harmagedon heirate. Dann soll es so sein.“ Doch besonders glücklich war ich bei diesem Gedanken nicht. Aber ich tat auch nichts dafür einen Glaubensbruder kennen zu lernen.

Es fiel mir auch sehr schwer Entscheidungen zu treffen. Ich hasste es regelrecht. Da war es einfach für mich, wenn jemand anderes die Entscheidungen für mich traf. Doch damit war ich nicht immer zufrieden.

Trotz der vielen Tiefen, die ich in meinem Leben durchgemacht hatte, habe ich weiter gekämpft, so gut ich konnte.

Nach meiner Ausbildung als Verlagskauffrau heiratete ich mit 21 Jahren. Mein Mann hatte einmal früher durch seinen Onkel Kontakt zu den Zeugen Jehovas. Nach einem selbst verschuldeten Vorfall, löste er die Verbindung zu dieser Religion. Er war jedoch kein getaufter Zeuge Jehovas. Durch mich nahm er den Kontakt wieder auf und ließ sich taufen. Das wurde natürlich nicht gern gesehen, da sich dieser Mensch ja im Glauben noch nicht bewährt hat und man nicht weiß, ob er das mir zuliebe gemacht hat. Selbstverständlich hatte auch ich Zweifel, aber das war das erstemal in meinem Leben, wo ich das Gefühl vermittelt bekam, wichtig zu sein, ja geliebt zu werden. Es war fast wie eine Flucht vor dem Elternhaus. Doch da ich sehr viele psychische Probleme hatte, war es für meinen Mann oft nicht leicht. Er musste sehr viel Geduld aufbringen. Ich hatte mich zwar sehr um ihn gesorgt und war immer für ihn da, doch nach sieben Jahren zerbrach unsere Ehe und er ließ sich aus der Versammlung ausschließen. Mein Mann hatte ein halbes Jahr lang ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Obwohl ich es von Anfang an ahnte, wollte ich es nicht wahr haben. Das was ich in dieser Zeit mit meinem Mann durchmachte, war so schlimm, dass ich nicht mehr leben wollte. Es würde viele Seiten füllen, wenn ich darauf einginge. Jedenfalls fiel ich in so schlimme Depressionen, dass ich eine große Todessehnsucht in mir verspürte. Alles war grau und schwarz, ich konnte nichts mehr essen und stand kurz vor der Magersucht. Ich wollte nur noch sterben. Doch ich gab mich nicht ganz auf. So suchte ich Hilfe bei meinem Arzt. Er verschrieb mir Tabletten gegen meine Depressionen und gab mir den Rat in eine psychosomatische Kur zu gehen. So kam es, dass ich acht Wochen in dieser Kur war, wo ich das erstemal in meinem Leben eine Gruppengesprächstherapie hatte. Das war das beste, was ich tun konnte. Danach ging es mir schon etwas besser. Am Heimatort begann ich dann, wie mir empfohlen wurde, eine ambulante Gesprächstherapie, obwohl die Wachtturmgesellschaft dies eher ablehnt. Sie haben nämlich angst, dass der Therapeut die Probleme auf den Glauben schiebt. Aus diesem Grunde hatte ich der Therapeutin verheimlicht, welcher Glaubensgemeinschaft ich angehöre. Außerdem wollte ich keinen Schmach auf Gottes Namen bringen. Denn Zeugen Jehovas dürfen doch nicht psychisch krank sein, da sie doch eine wunderbare Hoffnung haben. Außerdem, wenn sie erfährt, was ich daheim alles durchmachen musste, obwohl mein Vater ein Zeuge Jehovas war, dachte ich bei mir, das wirft ein schlechtes Licht auf die Glaubensgemeinschaft. Das kann ich nicht machen. Ich war ein ganzes Jahr lang krank geschrieben.

Einige Glaubensbrüder standen mir seelisch bei, andere halfen mir eine geeignete Wohnung zu finden. Sie halfen mir bei der Renovierung und ein Ehepaar bot mir auch an, sich einmal in der Woche regelmäßig mit ihnen und einigen anderen zu treffen, um sich für die Versammlung vorzubereiten und hinterher Gemeinschaft zu pflegen.

Doch jetzt hatte ich noch ganz andere Probleme zu bewältigen. Ich war das erstemal in meinem Leben alleine und ganz auf mich gestellt. Ich musste lernen alleine zu leben und dies auch auszuhalten bzw. alleine mit mir zu sein. Das war eine Zeit mit viele Tränen. Durch die Probleme in meiner Ehe und durch meine Unselbstständigkeit verlor ich meine Arbeitsstelle. So musste ich mir wieder eine Arbeit suchen. Doch ich hatte absolut kein Selbstvertrauen und hatte riesengroße Angst mich zu bewerben. Ja, ich fühlte mich total untauglich und dachte ich bin nichts und kann nichts. Zum Glück hatte die Arbeitsamtberaterin Verständnis für mich und schlug mir vor eine berufspraktische Weiterbildung zu machen. Das war so eine Art Übungsfirma, wo ich auf das Berufsleben vorbereitet wurde und die Angst ein wenig abbauen konnte. Ich bekam ein sehr gutes Zeugnis und fand dann auch eine Arbeitsstelle. Doch damit war das Problem nicht gelöst. Meine Zeugnisse waren immer gut. Es war für mich nicht schwer eine Arbeitsstelle zu finden. Aber es war für mich schwer diese Stelle zu halten. So verlor ich eine Stelle nach der anderen, war öfter arbeitslos und verstand die Welt nicht mehr.

Ich suchte wieder verzweifelt Hilfe und so fand ich durch den berufsbegleitenden Dienst, psychosoziale Beratungsstelle und Bezuschussung vom Arbeitsamt eine Arbeit. Doch nach zwei Jahren wurde ich gemobbt und stand wieder auf der Straße. Ich verfiel wieder in tiefe Depressionen und kam in eine psychosomatische Klinik. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten und Rückschlägen schaffte ich es schließlich eine ABM-Stelle zu bekommen. Das war im Jahre 1996. Mit Hilfe des Arbeitsamtes wurde mir die Stelle verlängert und irgendwann übernahm mich die Firma in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis ohne jegliche Bezuschussung. Heute bin ich immer noch dort beschäftigt, hätte die Stelle aber beinahe verloren. Warum? Nachdem ich zehn Jahre alleine gelebt hatte, schaffte ich es eines Tages nicht mehr der Versuchung zu widerstehen mit einem Mann auszugehen, der nicht dieser Glaubensgemeinschaft angehörte. Das ist nämlich verboten und eine Sünde. Ja, es wird einem gelehrt, dass man nur im Herrn heiraten darf, d.h. nur einen Zeugen Jehovas, da ja alle anderen Menschen keine wahre Christen sind.

Warum habe ich keinen Zeugen Jehovas geheiratet? Dafür gibt es viele Gründe. Erstens sind die Frauen in dieser Glaubensgemeinschaft in der Mehrzahl, zweitens wird im allgemeinen bei den Z.J. sehr jung geheiratet und drittens gibt es nur einen einzigen Scheidungsgrund, also kaum eine Chance jemand passendes zu finden. Da ich wusste, dass das nicht richtig ist was ich da mache, bin ich zu den Ältesten gegangen und habe mich selbst verpetzt. Natürlich bekam ich den Rat die Beziehung zu beenden. Mir wurde auch gesagt, dass ich von so einem Menschen Aids bekommen könnte, dass er mich eines Tages fallen lassen würde wie eine heiße Kartoffel usw. Ich versuchte natürlich immer wieder die Beziehung zu beenden, obwohl ich es in meinem Herzen gar nicht wollte. Es war nur der Verstand bzw. das was von mir verlangt wurde. Ich versuchte treu das einzuhalten, was Gott von mir verlangte, ohne zu wissen, dass das eigentlich die WTG so verlangte.

Doch leider kam ich nie so richtig von ihm los. So kam ich immer mehr in Konflikt. Ich suchte wieder Hilfe bei den Ältesten, doch anstatt Hilfe und Verständnis zu bekommen musste ich vor ein Rechtskomitee von drei Männern. Es war eine geheime Sitzung ohne Zeugen und ohne Verteidigung und ohne jeglichen Beistand. Ich wurde über sehr intime Bereiche ausgefragt, es wurden Bibelstellen vorgelesen und nachdem ich hinaus geschickt wurde, damit sich diese drei Männer beraten können, wurde das Urteil verkündet. Es war sehr schrecklich für mich. Ich kam mir vor, wie ein kleines Kind, das ungehorsam war und eine Strafe verdiente. Vor lauter Angst bekam ich den Mund nicht auf, doch ich flehte diese Männer an mich nicht aus der Versammlung auszuschließen, da ich Angst hätte ich würde es nicht mehr schaffen zurückzukommen. Ausgeschlossen zu werden hätte ja bedeutet, total isoliert zu sein. Keiner hätte mit mir reden oder Gemeinschaft pflegen dürfen. Außerhalb der Z.J. hatte ich ja niemanden, da es ja nicht erlaubt war, Freundschaft zu pflegen mit der Welt. Also hätte ich eine ganz lange Zeit durch einen langen schwarzen Tunnel gehen müssen, bis ich es vielleicht wieder schaffen würde in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Das Urteil wurde gefällt. Ich wurde öffentlich vor der ganzen Versammlung von der Bühne aus zurechtgewiesen. Das war einer der schlimmsten Demütigungen, die ich in meinem Leben über mich ergehen lassen musste. Nach dieser Zurechtweisung fühlte ich mich in der Versammlung nicht mehr so besonders wohl. Den Ältesten konnte ich nicht mehr in die Augen schauen.

Plötzlich bereute ich es, dass ich jemals zu den Ältesten ging, um mich zu verraten. So gut wie niemand bot mir Hilfe oder Zuneigung an. Ich war gebrandmarkt und ich spürte, dass dieser Makel mein ganzes Leben nicht mehr von mir verschwinden wird. Wenn jemand eine öffentliche Zurechtweisung bekommt, wird er von der Versammlung plötzlich mit ganz anderen Augen gesehen. Man hat keine reine Weste mehr. Diese Komiteeverhandlung hatte ich dreimal in kurzer Zeit mitgemacht.

Doch mein Problem war damit nicht beseitigt. Nach sechs Wochen Trennung von meinem Freund, die längste die ich bisher schaffte, hielt ich es nicht mehr aus und so traf ich mich wieder mit ihm. Doch dieses mal ging ich nicht zu den Ältesten, denn das hätte mit Sicherheit meinen Ausschluss bedeutet. Also fing ich an ein Doppelleben zu führen. Es war schrecklich und schön zugleich. Einerseits war es schön für mich endlich wieder einen Partner zu haben, andererseits war es mir von der WTG-Lehre nicht gegönnt. Der Druck, das schlechte Gewissen, das hin- und hergerissen sein, die Angst ich kann meinem Freund nicht trauen, da ja alle Weltmenschen schlecht sind, die Angst erwischt zu werden, in Harmagedon sterben zu müssen und vieles mehr, hatte dazu geführt, dass sich das negativ auf meine Arbeitsleistung auswirkte.

Ich zog mich immer mehr in mich und meine Welt zurück und war nicht mehr in der Lage meine Außenwelt zu registrieren. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich werde genau in der Mitte in zwei Stücke gerissen. Auf der einen Seite genoss ich es mit meinem Freund zusammenzusein und wollte ihn auf keinem Fall verlieren, aber gleichzeitig überlegte ich immer, wie ich es schaffen könnte von ihm loszukommen. Das war so paradox, da muss man ja krank werden. Ich bekam fast einen Nervenzusammenbruch.

Mein Arbeitgeber blieb das irgendwann nicht verborgen und so gab er mir den Rat in Kur zu gehen, eine Psychotherapie zu machen und hoffentlich wieder erholt und arbeitsfähig zurückzukehren. Er sah sich jedoch gezwungen mir die qualifizierte und verantwortliche Arbeit abzunehmen, das waren Buchhaltungsarbeiten, und mir die Arbeitsstelle für ein Jahr zu befristen. Außerdem wurde mir die Arbeitszeit auf 70% reduziert. Bei allem habe ich natürlich nicht erwähnt, was das für eine psychische Belastung für mein Freund war. Entgegengesetzt der Meinung, die die Ältesten hatten, war er immer wieder bereit mir eine Chance zu geben und er war bereit, wegen der Sekte viele schlimme Erlebnisse auf sich zu nehmen. Ja er hatte trotz allem nie versucht mich von den Z.J. zu trennen. Obwohl er vieles nicht verstand, hatte er nichts dagegen, dass ich weiterhin überzeugt von diesem Glauben war. Das einzigste was er sich von mir gewünscht hatte war, dass ich mich kritisch mit meinem Glauben auseinandersetzen sollte. Doch ich wusste nicht wie das gehen sollte. Jedenfalls konnte das alles nicht so weitergehen und so kam ich wieder in eine psychosomatische Klinik.

Dort verschwieg ich, dass ich eine Zeugin Jehovas war, wieder aus denselben Gründen, die ich schon am Anfang erwähnte. So konnte mir dort natürlich nicht wirklich geholfen werden. Ich wurde so depressiv, dass ich Tabletten nehmen musste. Selbst während des Klinikaufenthaltes und der weiten Entfernung von meinem Freund hörten die Probleme nicht auf. Die Diskussionen wurden telefonisch geführt und so war die Beziehung einmal beendet, dann wieder nicht und so weiter. An den Wochenenden war ich immer zu Hause und wurde eines Tages mit meinem Freund gesehen. Durch das Drängen meines Freundes schaffte ich es dann einen Ältesten anzurufen, um ihn zu sagen, dass ich mich entschieden hätte meinen Freund zu heiraten und, dass sich bitte niemand in meinen privaten Angelegenheiten einmischen sollte.

Dies hatte ich dann noch mal schriftlich bestätigt. Ich schrieb danach noch einen zweiten Brief an die Ältesten, dass ich mich gezwungen sehe mich von der zugeteilten Versammlung für unbestimmte Zeit zurückzuziehen und eine andere Versammlung zu besuchen, dass ich keinerlei Kontakt von den Ältesten wünsche und sie mich in Ruhe lassen sollen. Falls sie sich nicht daran halten würden, würde ich mich gezwungen sehen einen Rechtsanwalt einzuschalten. Doch ein Ältester hielt sich nicht daran und besaß die Unverschämtheit, als ich wieder arbeiten ging, mich im Geschäft anzurufen. Das erstemal in meinem Leben schaffte ich es meine Meinung zu sagen und wütend den Telefonhörer aufzuknallen.

Da mein Problem nicht so leicht zu lösen war, wurde mir natürlich geraten ambulant weiterzumachen und mir einen Therapeuten zu suchen, was ich auch tat. Doch nun nahm ich mir vor ganz offen und ehrlich zu sein und dem Therapeuten zu sagen, dass ich eine Zeugin Jehovas bin. Das kostete mir sehr viel Mut. Doch erstens dachte ich, dass er mir nur dann helfen kann, wenn ich nichts verheimliche und zweitens wollte ich wissen, ob die WTG wirklich recht hat, dass er meine Probleme auf den Glauben schiebt. Es gab dann auch tatsächlich Phasen, wo ich das Gefühl hatte er will mich wegziehen vom „wahren Glauben“. In diesen Augenblicken war ich nahe daran die Therapie abzubrechen, aber ich hielt durch. Dann fragte ich ihn direkt, ob er meinte meine Religion wäre schuld daran, dass ich krank geworden wäre. Er hatte so geschickt geantwortet, dass die Antwort für mich zufriedenstellend war.

Durch die Therapie wurde ich offener. Mein Therapeut riet mir mich außerhalb des Glaubenssystems zu informieren, da ich mich sonst im Kreis drehen würde. Er meinte ich solle mich mit ehemaligen Z.J. unterhalten, was sie für Erfahrungen gemacht haben und wie es ihnen jetzt damit geht. Das war natürlich eine sehr heikle Sache für mich, da es ja bei den Z.J. eine riesengroße Sünde vor Gott ist mit Ehemaligen, d.h. Abtrünnigen zu reden und so zögerte ich zunächst. Doch ich war in einer Situation, wo es weder vorwärts noch rückwärts ging. Ich steckte fest. Ich ging in die Versammlung meiner Schwester, die selbst sehr schwach im Glauben war, vermied aber soweit es ging jegliche Kontaktaufnahme, um unangenehme Fragen aus dem Wege zu gehen.

Mir ging es jedes Mal schlecht, wenn ich dort hörte, dass wir kurz vor Harmagedon stehen und wir noch so viel wie möglich in den Predigtdienst gehen sollen, um die Menschen zu retten. Ich dachte dann, hoffentlich kommt Harmagedon nicht so schnell. Ich muss doch vorher noch meine Verhältnisse in Ordnung bringen, sonst sterbe ich. Krampfhaft überlegte ich, wie ich meinen Freund dazu bringen könnte, mich endlich zu heiraten, damit ich einigermaßen rein vor Gott dastehe. Ich hoffte, dass er barmherzig mit mir sein würde und Verständnis hätte, dass sich so schwach bin und es nicht schaffe mit meinem Freund, der ja ein Weltmensch ist, Schluss zu machen. Doch mein Freund sah keinen Grund überstürzt zu heiraten, ohne sich genau zu kennen. Also blieb mein Problem bestehen. Ich wusste, so geht es nicht weiter. Es muss irgendwas passieren oder ich muss etwas wagen, was nicht erlaubt ist.

Wie der Zufall will - oder war es ein Engel - traf ich meine jüngste Schwester, die sich als Kind schon von dieser Religion löste und mit der ich u.a. aus diesem Grund keinen Kontakt mehr hatte. Ich dachte, das ist doch die Gelegenheit. Das erstemal in meinem Leben war ich offen ihr gegenüber und fragte, was sie dazu bewogen hat die Z.J. zu verlassen. Sie erzählte mir, wie sie das Ganze empfunden hatte und dass sie das alles noch nicht verarbeitet hat. Sie hätte gelesen, dass ein Treffen einer Selbsthilfegruppe für Aussteiger von Sekten stattfindet und, ob ich da mitkommen wolle. Dort würden ehemalige Z.J. da sein und ich könnte ganz unverbindlich nach ihren Erfahrungen fragen. Es könnte aber auch sein, dass Älteste von der Versammlung dort stehen oder sich verstecken, um zu sehen, wer hingeht. Deshalb sollte ich mir genau überlegen, ob ich mit will.

Ich hatte zwar große Angst, aber ich sagte zu ihr, dass ich unbedingt mit will, weil ich sowieso nicht weiterkomme. Ich muss es jetzt wissen. Als ich dorthin ging, hoffte ich, Jehova Gott hätte Verständnis für mich und würde mich deswegen nicht verwerfen. Ich war sehr skeptisch und vorsichtig. Tatsächlich waren dort Ehemalige aus meiner Versammlung. Als die Vorstellungsrunde begann, nahm ich mir vor nichts zu sagen, doch ich änderte kurzfristig meine Meinung. Ich dachte, mir kann nur geholfen werden, wenn die Leute wissen wer ich bin und welche Probleme ich habe. Das war eine gute Entscheidung. Ich brach dann zwar während meiner Erzählung in Tränen aus und dann auch meine Schwester, aber dann kam sofort ein ehemaliger Kreisaufseher auf mich zu, gab mir verschiedene Informationen zum Lesen und erklärte mir, dass verschiedene Lehren nicht biblisch seien.

Das wollte ich natürlich ganz genau wissen. Doch ich war noch etwas geteilt. Auf der einen Seite war ich sehr skeptisch und ein bisschen ärgerlich, wie gegen die Z.J. geredet wurde, auf der anderen Seite hatte ich das erstemal das Gefühl, dass hier Menschen sind, die mich verstehen und mich nicht verurteilen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Ich begann ganz begierig die Informationen zu lesen, den ehemaligen Kreisaufseher anzurufen, ihn und seine Frau so schnell wie möglich zu besuchen und innerhalb kurzer Zeit mit meiner anderen Schwester ganz vorsichtig darüber zu reden. Nach diesem Treffen hörte ich sofort auf die Zusammenkünfte der Z.J. zu besuchen, denn ich wollte mir die Auszeit geben, um mich endlich kritisch mit meinem Glauben auseinander zusetzen.

Seit dem ersten Besuch in der Aussteigergruppe ist mehr als ein Jahr vergangen und ich lese immer noch Bücher über Sekten allgemein und J.Z. speziell. Ich war sehr schnell bereit die Öffentlichkeit zu informieren, indem ich von meiner Erfahrung erzählte. Doch wie erging es mir, nachdem ich immer mehr erkannte, dass ich lebenslang einem Irrtum verfallen war? Es war eine Mischung aus Befreiung und Orientierungslosigkeit. Es war so, als ob der Boden unter meinen Füßen weggezogen würde und ich fragte mich, wenn das alles falsch war, was ist dann richtig? Was soll ich noch glauben? Bis heute habe ich keine absolute Antwort. Es wird sie auch wahrscheinlich nicht geben. Mir bleibt nichts anderes übrig als mich damit abzufinden und zu hoffen, dass ich eines Tages die Antwort bekomme. Doch, eins ist sicher, obwohl das so ist, möchte ich meine Freiheit nie wieder aufgeben, um mich einer Sekte auszuliefern und abhängig zu machen. Ja, es ist zwar nicht leicht all die ehemaligen Glaubensbrüder aufzugeben, die man mochte, doch mir bleibt keine Wahl.

Jetzt lebe ich sehr zurückgezogen, ohne Freundeskreis, ohne Verwandten, außer mein Freund, meine Schwester und ihre Familie. Die Gefahr der Isolation und Vereinsamung ist sehr groß, da sich die sozialen Kontakte bzw. engere Beziehung auf ein paar wenige Menschen beschränken. Einmal im Monat bin ich bei dem Aussteigertreff und kenne dadurch nette Menschen, mit denen ich ab und zu Kontakt habe. Doch engere Kontakte zu finden ist sehr schwer, vor allen Dingen außerhalb der Gruppe. Da spielen bestimmt mehrere Faktoren eine Rolle. Auf jeden Fall habe ich noch einen langen Weg vor mir und ich hoffe, dass ich es schaffen werde einmal ein ganz normales Leben zu führen.

Dinge, die für andere normal sind, fallen mir manchmal ganz schön schwer, so z.B. jemandem zum Geburtstag zu gratulieren. Es war natürlich bei den Z.J. einfacher Kontakte zu knüpfen, da man sich ja dreimal in der Woche traf und auch miteinander in den Predigtdienst ging. Doch für tiefe Freundschaften blieb kaum Zeit, wenn man alles tausendprozentig machen wollte. Außerdem waren diese Freundschaften nur so lange gut, wie man ein vorbildlicher Z.J. war. Sobald man schwach wurde im Glauben, wurde man eher gemieden und als keine positive Gesellschaft betrachtet. Also versuchte man so gut wie es ging zu funktionieren und den Schein zu wahren.

Außerhalb dieser Religionsgemeinschaft ist es nicht so leicht sich zurechtzufinden. Während ich noch bei den Z.J. war, merkte ich, dass ich oft nicht wusste um was es geht, wenn sie die sogenannten Weltmenschen unterhielten. Wenn mal eine Betriebsfeier stattfand, ging ich zwar hin, aber ich fühlte mich selten wohl. Ich dachte immer, dass alles was die Arbeitskollegen reden so nutzlos, leer, überflüssig und unwichtig, ja sogar schlecht sei. Es gibt doch wichtigeres im Leben, dachte ich und war froh, wenn ich nach Hause gehen konnte.

Ich war am liebsten mit meinen Glaubensbrüder zusammen und wenn ich auf Kongresse war, wünschte ich mir, dass sie nie aufhören würden. Nur in dieser Welt der Z.J. fühlte ich mich wohl und wünschte mir, dass diese schlechte, böse Welt bald beseitigt wird und nur noch gute, gerechtigkeitsliebende, ehrliche Menschen auf der Erde sein werden, die glücklich miteinander leben. In der Zwischenzeit habe ich erkannt, dass nicht alle Menschen schlecht sind und dass es sich lohnt solche Menschen kennen zu lernen. Natürlich verurteile ich vieles was in der Welt geschieht, doch ich verurteile jetzt auch die WTG bzw. leitende Körperschaft, denn sie hat viel Blutschuld auf sich geladen und ist verantwortlich für viele Menschen, die durch dieses System krank wurden.

Ich glaube nicht mehr daran, dass sie der Kanal Gottes sind und seinen Segen haben. Jetzt würde ich mich nie mehr darin wohl fühlen, denn sie sind Heuchler in meinen Augen, die Opfer suchen, um an ihre Ziele zu gelangen. Sie können mir auch keine Angst mehr machen, dass ich in Harmagedon sterben werde, weil ich ihre Organisation verlassen habe. Dass es mir jetzt besser geht und ich keine Angst und kein schlechtes Gewissen mehr habe, verdanke ich zum einen meinem Therapeuten, der Ausstiegsgruppe und natürlich auch meinem Freund und mir selbst, da ich bereit war etwas dafür zu tun.

Natürlich lebe ich im Augenblick in einer sehr kleinen Welt, doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die mal größer wird. Durch die vielen negative Erlebnisse, die ich machte, weiß ich, dass es immer irgendwie weitergeht, auch, wenn es nicht immer leicht ist. Ich möchte alles dafür tun, um auch anderen, soweit es in meiner Möglichkeit steht, zu helfen gesund aus einer Sekte auszusteigen. Natürlich würde ich mich freuen, wenn ehemalige Glaubenbrüder, die ich mochte aussteigen würde. Ich weiß aber auch, dass es nicht leicht, wenn nicht sogar unmöglich ist, jemand rauszuholen, der sehr überzeugt ist. Deshalb verschwende ich nicht damit meine Zeit und Kraft, sondern konzentriere mich auf diejenigen, die zweifeln sich nicht mehr wohlfühlen. Das gibt mir wenigsten das Gefühl ein bisschen nützlich zu sein.

Immer wieder sehe ich auf der Straße Z.J. von meiner ehemals zugehörigen Versammlung und es ist mir sehr unangenehm. Ich hoffe immer, dass sie mich nicht sehen und wechsle wenn möglich die Straßenseite. Ausgeschlossen bin ich zwar nicht, jedoch aber höchstwahrscheinlich „bezeichnet“, was für die anderen bedeutet, dass sie mit mir keinen privaten Umgang pflegen sollten, was sie auch tun. Denn kein einziger meldet sich bei mir, um sich nach meinem Wohlergehen zu erkundigen oder nach meinen Gründen zu fragen, warum ich nicht mehr in die Versammlung komme. Im Gegenteil, es sind falsche Gerüchte über mich im Umlauf, die dafür sorgen, dass sich keiner bei mir meldet. Doch eines weiß ich. Ich bin kein schlechterer Mensch geworden, weil ich nicht mehr Z.J. bin, wie immer wieder von der WTG behauptet wird. Die WTG sagt, dass alle, die die Organisation verlassen, vom schlechten zum schlimmeren schreiten werden und dass sieben Dämonen in sie einkehren, so dass sie einen zügellosen Wandel führen würden.

Jetzt bin ich zwar nicht mehr in dieser Sekte, doch ich habe keine konkreten Zukunftspläne. Es fällt mir nach wie vor schwer zu wissen, was ich will bzw. was ich im Leben erreichen will. Ich habe nicht viel Ahnung von Politik. Das hat mich früher nicht besonders interessiert, da ich ja nicht wählen durfte bzw. dachte es kommt bald Gottes Regierung. Also ist das Zeitverschwendung. Jetzt kann ich wählen und bin sehr verunsichert. Ich bin dabei meinem Weg zu finden und bin noch auf der Suche.