Begonnen hat mein Leben als ZJ (Zeuge Jehovas) eigentlich schon lange vor meiner Geburt.

Begonnen hat es eigentlich zu dem Zeitpunkt, als mein Großvater mütterlicherseits, ein 1902 geborener Mann namens Ernst Wauer (vormals von Auer, stammend aus ostpreußischem Landadel, 8. Kind in der Familie) Jurist mit eigener Kanzlei, von Berlin nach Dresden verzogen, auf einer Dienstreise im Jahr 1935 Kontakt mit den „ernsten Bibelforschern“ bekam und bald darauf selber einer wurde.

Meine Mutter war damals 7 Jahre alt, und meine Großmutter war bald darauf auf sich allein gestellt, da die Aktivität meines Großvaters für die WTG (Wachtturm- Gesellschaft) sehr zeitaufwendig und dazu noch konspirativ war. Dies führte zur Verhaftung und anschließender Haft (Zuchthaus Bautzen, danach KZ Sachsenhausen und Neuengamme) und zur Zwangs- Scheidung meiner Großeltern. Die Einzelheiten seiner Lebensgeschichte ist Veröffentlichungen im „Wachtturm“ vom 1.8.1991 und in einschlägiger Geschichtsforschung (Gebhard, Garbe ecc.) zu entnehmen.

Meine Großmutter heiratete darauf hin ein zweites Mal, verstarb dann kurz darauf, und so wuchs meine Mutter zusammen mit Ihrem Bruder bei einem Stiefvater auf.

Meinen Großvater hielt sie für tot. Sie selbst wurde Ringführerin im BdM, der Mädchenorganisation der Hitlerjugend.

Als der Krieg vorüber war, kam auch mein Großvater aus dem KZ frei, und übernahm sogleich hohe Funktionen innerhalb der WTG in Berlin und Magdeburg. Meine Mutter, nunmehr allein gelassen, erfuhr vom Leben ihres Vaters durch Bibelforscher in Dresden, die meinen Großvater kannten, und auf den ihnen vertrauten aber seltenen Nachnamen stießen. Dies führte dazu, daß meine Mutter nach Berlin zu meinem Großvater zog und dort „bekehrt“ wurde. Sie arbeitete dort als Sprechstundenhilfe bei einem Heilpraktiker der ZJ, einem H. Schumann, der auch schon andererseits ausführlich beschrieben wurde. Dies führte geradezu zwangsläufig dazu, daß meine Mutter englisch lernen mußte, um als Tochter des „großen Bruder Wauer“ auf die Gilead- Schule für Missionare nach USA zu gehen. Sie begleitete meinen Großvater 1953 zum internationalen Kongreß nach New York, der dort wohl auch eine kurze Ansprache auf englisch hielt, obwohl sein Englisch miserabel war. Meine Mutter blieb dann gleich dort. Die Gilead- Schule befand sich seinerzeit auf der Kingdom- Farm auf Long Island, etwas außerhalb von NY. Leiter der Schule war damals Maxwell Friend.

Dort war es, daß sie meinen Vater kennenlernte, da sie die gleiche „Klasse“ besuchten. Bruder Knorr, damals Präsident der WTG, der sich immer selbst um die Gilead- Schüler kümmerte, war doch die Gilead–Schule sein „Kind“, machte sie persönlich miteinander bekannt („Dear Sister Wauer, may I introduce to You another brother from Germany?“). Das war fürs Leben!

Mein Vater stammt aus dem Erzgebirge, war 1928 geboren, bei Ende des Krieges also 16 und Luftwaffen- Flugschüler in Magdeburg. Nach der Kapitulation setzt er sich nach Westen ab und blieb in Stuttgart hängen. Entwurzelt und nur mit dem Nötigsten versorgt, lernte er 1950 die dortigen ZJ kennen, besonders ein paar ältere Schwestern, die nach ZJ-Auffassung zu den „Gesalbten“ gezählt wurden, nahmen sich seiner an. Die Versammlung Stuttgart – Ost wurde seine Heimat, in der er dann schnell in den „Pionierdienst“ eintrat und blitzartig aufgrund seines rhetorischen Geschickes und seines Organisationstalentes wegen Dienstämter bekleidete, und dann auch 3 Jahre später dank der Fürsprache eines ihm sehr wohl gesonnenen Bezirksaufsehers auch zur Gilead- Schule eingeladen wurde. (Später wurde dann auch meine Großmutter und meine Tante ZJ, meine Tante wurde bis zu ihrer Heirat Sonderpionier, während der Rest der Familie „in der Zone“ ausharrte)

So trafen sie sich denn fernab der Heimat auf der Elite-Schule der ZJ in den fernen USA. Natürlich konnten sie Ihre Sympathien füreinander nicht geheim halten. Das hatte nach Abschluß der Schule (Diplomierung) die Trennung zur Folge. Mein Vater wurde nach Deutschland zurückgeschickt, und sollte vorläufig im Zweigbüro in Wiesbaden Dienst tun. Dies behagte ihm aber nicht sehr, so daß er sich durch Fürsprache von N.H. Knorr in den reisenden Dienst versetzen ließ. So war er als 25jähriger schon Kreisdiener im Raum Nordhessen.

Meine Mutter dagegen wurde nach Italien geschickt, wo sie als Missionarin mit einer Kommiltonin zuerst nach Bozen (weil deutschsprachig), später dann nach Genua versetzt wurde. Missionare der ZJ wurden damals in Italien nicht zugelassen, daher reisten sie getarnt als Touristen ein, und mußten alle 3 Monate das Land pro forma verlassen.

Da aber meine Eltern beschlossen zu heiraten, ohne es mit der WTG, die ja die ganze Ausbildung finanziert hatte zu verderben, mußte das Ganze vorsichtig angegangen werden. Zuerst hatte mein Vater ganz offiziell bei meinem Großvater um die Hand anzuhalten, der verständlicherweise nicht begeistert war, waren doch beide erst 1 Jahr im Missionardienst. Also fuhr mein Großvater nach Neapel 1955 zum Kongreß nach Neapel, um das zu verhindern. Es ließ sich nicht verhindern; das mußte mein Großvater einsehen. Also was tun? Er ließ bei N.H. Knorr anfragen, ob einer Heirat der beiden etwas entgegenstehen würde. Es berührte ihn sehr stark, der nach Schließung des Zweigbüros in Magdeburg nunmehr als Kreisaufseher und Bezirksaufseher unterwegs war. Knorr ließ ausrichten, er hätte nichts dagegen, da ja beide gemeinsam im reisenden Dienst verbleiben und fortfahren könnten. Damit war mein Großvater zufriedengestellt, und meine Eltern auch.

2. Kapitel: Ich bin...

Es folgte die Hochzeit in Berlin 2 Monate später im Herbst 1955. Meine Eltern setzten nunmehr den Kreisdienst gemeinsam fort, aber nicht einmal 1 Jahr. Im August 1956 kam ich zur Welt. Ob das vorsätzlich geschah um aus dem reisenden Dienst auszuscheiden, der meiner Mutter ohnehin (ohne Auto, Nachkriegsverhältnisse, mangelnder Komfort) nicht besonders gefiel, oder ob es ein Betriebsunfall war, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wurde ich in Kassel geboren, weil meine Eltern im Kreisdienst gerade zufällig dort waren. Meine Geburt hatte zur Folge, daß mein Vater aus dem reisenden Dienst ausscheiden mußte und nunmehr eine Familie zu ernähren hatte. So kamen sie 1 Woche nach meiner Geburt in Stuttgart, wo mein Vater ja ZJ-Bekannte hatte, an. Wir wohnten zur Untermiete bei einer alleinstehenden Schwester (Wohnraum war knapp) in Stuttgart-Ost. Meine Eltern besuchten nun beide die Versammlung Stuttgart–Ost, standen aber dort aufgrund der Tatsache, daß sie wegen eines Kindes aus dem reisenden Dienst ausscheiden mußten, in nicht sehr hohem Ansehen. Da man damals glaubte, es dauerte ja nicht mehr lange bis Harmageddon, so warum erst noch vorher Kinder in die Welt setzen? Heiraten, ja das geht ja gerade noch, aber Kinder??. Ich glaube diese Reaktionen hatten meine Eltern unterschätzt. Mein Großvater dagegen, der ja erst selbst Änderungen zu verdauen hatte, freute sich sehr über seinen Enkel, den er in der Folge denn auch immer verwöhnte. (Einige Jahre später heiratete er eine „junge“ Schwester, die ihn nochmals zum Vater machte, so daß ich eine Halbtante habe, die jünger als mein kleiner Bruder ist. Er zog dann nach Frankfurt, später nach Tübingen, wo er als „Ältester dient“ und dann im Alter von 92 Jahren verstarb)

Auf jeden Fall fühlten sich meine Eltern offensichtlich nicht sehr wohl dort in Stuttgart und suchten von dort zu entkommen. 1958 bot sich die Gelegenheit und wir zogen aufs Land in ein kleines Dorf und gehörten nun zur Versammlung Schorndorf in der Nähe von Stuttgart. Noch nicht einmal 2 Jahre alt, wurde ich mit zum internationalen Kongreß nach New York mitgenommen, wo mich mein Großvater auch Bruder Knorr als seinen Enkel vorstellte.

Mein Vater arbeitete nun als Zivilangestellter bei den amerikanischen Streitkräften in Stuttgart und machte dort aufgrund seiner hervorragenden Englisch- Kenntnisse und seines Organisationsgeschicks schnell Karriere und fand sich bald auf einem der höchsten Posten wieder, den Nicht-Militärangehörige haben konnten, als Leiter einer Kommission, die unabhängig und übergreifend nach Einsparmöglichkeiten forschte und diese realisierte. In der Versammlung Schorndorf allerdings spielte er weiterhin die zweite Geige. „Versammlungsdiener“ war ein Oberlehrer der in einem Erziehungsheim für schwererziehbare Jugendliche in der Nähe von Schorndorf seinen Schuldienst versah, ein gewisser T. Auf mich wirkte er sehr streng, obwohl ich aus dieser Zeit kaum mehr Erinnerungen habe, ich war damals 3 Jahre alt. Meine Mutter wurde erneut schwanger, verlor aber das Kind, und mußte ins Krankenhaus. Ich selbst war daher in dieser Zeit bei Bruder T, d.h. seiner Frau zur Pflege, da mein Vater ja arbeiten ging. Da mein Großvater aber ja selbst der zuständige „Kreisaufseher“ für den Bereich war, hatte mein Vater alsbald die Chance selbst wieder „Versammlungsdiener“ zu werden, nicht in Schorndorf, da regierte ja T, aber in Backnang, einer Nachbarversammlung.

3. Kapitel: „theokratische Kindheit“

Backnang war eine kleine Versammlung, bestehend aus ca. 30 Verkündigern, die größtenteils aus Flüchtlingen aus Sachsen oder Südosteuropa bestand. Der Königreichssaal war in einem alten umgebauten Bauernhaus im ehemaligen Stall untergebracht. Auf mich machte das einen widerlichen Eindruck. Ich habe das noch gut in Erinnerung. Die Versammlung selbst stand wohl kurz vor der Selbstauflösung durch diverse Streitigkeiten und Ränkespiele der Mitglieder untereinander, auch war da ein Streit wegen des sehr jungen „Versammlungsdieners“, der von den Altvorderen nicht akzeptiert wurde und wohl etwas überfordert war. So wurde mein Vater dort als „Versammlungsdiener“ hin delegiert zusammen mit einem Bruder aus Stuttgart, der „Hilfsversammlungsdiener“ wurde. Ein Jahr später zogen wir dann auch selbst in das Gebiet der Versammlung Backnang in ein kleines Dorf, wo wir die einzigsten ZJ waren, meine beiden Brüder geboren wurden und wir eigentlich das erste Mal richtig seßhaft wurden.

Mein Vater organisierte auch die Kreiskongresse und hatte weitere Funktionen innerhalb der WTG. Reisende Brüder und Brüder aus dem Bethel usw. besuchten uns regelmäßig, gelegentlich übernachteten sie auch bei uns. Der Makel mit dem Ausscheiden aus dem reisenden Dienst schien vergessen. Ich wuchs daher ein einer vorbildlichen „theokratischen Familie“ auf, begleitete meinen Vater in den Predigtdienst und zu Hirtenbesuchen, spielte nur mit Kindern von anderen Brüdern, hielt meine erste Bibelvorlesung mit 6 Jahren, ein Jahr bevor ich in die Schule kam. Mein Vater erhielt immer mehr Aufgaben und Verantwortung. Er organisierte ab 1961 (Hamburg) auf den Kongressen die Cafeterias, ab 1963 sogar als verantwortlicher Leiter.

An den „Matschkongreß“ in Hamburg erinnere ich mich noch gut, wir waren ja schließlich schon 6 Wochen vorher zum Aufbau dort. Wir sind zusammen mit befreundeten Brüdern (meine Mutter war schwanger) in unserem Fiat 500 dorthin gefahren, wobei das 3 Tage in Anspruch nahm, da wir unterwegs 2 mal bei Brüdern übernachteten. Außerdem mußten wir auf der Lorelei am Rhein Rast einlegen und Erbswurstsuppe kochen. Campingmöbel und Luftmatratzen waren wie selbstverständlich immer dabei wenn wir Reisen (fast immer zu Kongressen, eigenen und fremden) unternahmen. Für mich blieb im Auto nur ein ganz kleines Plätzchen übrig. Dort in Hamburg angekommen, war meine Mutter enttäuscht, weil sie nicht mithelfen konnte. Aber wie hätte das gehen sollen, schließlich war sie schwanger und ich noch nicht einmal fünf. So bekam ich meinen Vater auf dem Kongreß kaum zu Gesicht, ich durfte ja noch nicht einmal auf das Kongreßgelände ,während meine Mutter und andere Schwestern in einem Kleingärtner-Vereinsheim eine Massenunterkunft vorbereiteten. Da waren auch Wohnwagen anderer verantwortlicher Brüder, die für Einkauf und anderes zuständig waren. Einer hieß D, war für die Lautsprecheranlage zuständig und wurde später ausgeschlossen (sein früherer Schüler J ersetzte ihn dann bei der WTG). Abends saßen dann die Brüder bei Getränken zusammen und berieten das Geschehen für den nächsten Tag. Aber ich habe die Zeit in schöner Erinnerung. Mit anderen Kindern von Brüdern spielten wir auf dem Gelände des Vereinsheims. Vom Kongreß selbst habe ich nur den Matsch in dem die Brüder und Schwestern barfuß herumliefen und das übergroße „Tetragrammaton “(der Name „Gottes“ auf hebräisch) auf der Bühne in Erinnerung.

Überhaupt waren die großen Erlebnisse meiner Kindheit fast immer mit Kongressen der ZJ verbunden. Da der Jahresurlaub meist komplett für die Kongresse und deren Vorbereitung draufging, war auch keine Zeit für was anderes.

Außer 1968. Da erhielten wir erstmals die Erlaubnis meine Großeltern in der DDR zu besuchen. Es war beklemmend. Mein Vater schmuggelte Mikrofilme, daher waren dort alle enttäuscht, daß wir „nichts“ dabei hatten (Literatur usw.). Mein Onkel (2 Jahre älter als ich) weihte mich in die Geheimnisse der DDR ein. Er hatte eine Dunkelkammer und reproduzierte Wachtturm- Seiten auf Fotopapier. Ein Bruder aus einem benachbarten Dorf bei Annaberg, fuhr mit uns stundenlang mit seinem Trabant spazieren um uns seine Erfahrungen im Umgang mit der „Stasi“ zu berichten. Er fürchtete stets und überall abgehört zu werden. Leitete er doch konspirativ die Funktionärsausbildung („Königreichsdienstschule“). Er war auch 2 mal verhaftet und durch die Mangel der „Stasi“ gedreht worden. Für die ZJ war es dort nicht sehr anstrengend ihren „Dienst“ zu verrichten, im Gegensatz zum „Westen“. Zusammenkünfte fanden wöchentlich nur einmal, vornehmlich im Wohnzimmer meiner Großeltern (obwohl mein Großvater väterlicherseits damals kein ZJ war, er war eigentlich Kommunist, im Krieg mit Rommel in Afrika, wollte aber nach der kommunistischen Machtübernahme in Ostdeutschland nichts mehr vom Arbeiter- und Bauernstaat wissen) statt; der Predigtdienst beschränkte sich auf „gelegentliches Zeugnisgeben“. Wäre da nicht der Militärdienst gewesen. Mein Onkel mußte deswegen später, als er schon verheiratet war (4 Kinder) für 2 Jahre ins Zuchthaus nach Bautzen. Als er wieder frei kam, hatte er die meisten Haare verloren, und wurde dann auch gleich „Ältester“.

Ich hatte immer ein beklemmendes Gefühl wenn wir die „Staatsgrenze der DDR“ passierten. Erstens wußte ich vorher nicht, was mein Vater wieder dabei hatte und zweitens wurde uns Kindern immer vorher eingebleut, ja keine verräterischen Worte („Brüder“, „Jehova“, „Versammlung“ usw.) zu gebrauchen.

Dann hatte mein Vater auch noch das „Vorrecht“ Übersetzungsarbeiten zu machen, wenn die im Zweigbüro in Wiesbaden zu langsam waren. Vor allem vor den Kongressen, wenn Neuveröffentlichungen anstanden, kam Terminnot auf, und es wurde auf „freischaffende Künstler“ zurückgegriffen. Eine Übersetzung ist sehr zeitaufwendig. Erst wurde übersetzt, dann korrigiert, dann gegengelesen, meine Mutter schrieb das Ganze auf einer Schreibmaschine ins Reine, dann wurde korrekturgelesen, dann nochmals ins Reine geschrieben. Und das alles mit festem Abgabetermin. Da konnte dann schon mal eine Zusammenkunft ausfallen, was sonst nie vorkam, weil das war ja wichtiger. Außerdem mußte das geheim bleiben. In späteren Jahren war dann unsere ganze Familie damit eingebunden. Mein Englisch wurde dadurch so gut, daß ich in der Schule Probleme mit den Lehrern bekam, weil ich meinte alles besser zu wissen und fließend englisch mit amerikanischem Akzent sprach, das dem zu erlernenden Oxford-Englisch diametral entgegenstand. Das Familienstudium zu Hause wurde später dann auch zeitweise in englisch geführt, besonders als meine Brüder auch schon zur Schule gingen.

Und dann die Kongreß- Vorbereitungen!! Für den Nürnberger Kongreß gingen die Vorbereitungen schon 1 Jahr vorher los. Und das alle ohne Telefon!! Mein Vater haßte Telefone (und Fernsehgeräte). Lieber schrieb er Postkarten und Briefe, d.h. meine Mutter schrieb sie auf der Maschine. Dann die Besprechungen!

Meist gab es vor Kongressen 1-2 große Besprechungen bei denen u.a. der Speiseplan für die Cafeteria (für alle Kongresse zentral) besprochen wurde. Diese Besprechungen waren bei uns sehr beliebt, da mein Vater uns fast überall mit hinnahm. Irgend ein Bruder mit großem Anwesen lud dann ein. Vom „Bethel“ (Zweigbüro) in Wiesbaden kam immer eine Delegation. Ich glaube Franke (ehemaliger Zweigdiener für Deutschland) war fast immer dabei, manchmal auch Pohl, Barth oder Rudtke. Es wurde groß aufgetischt, und Franke führte abends einen seiner Endlosmonologe, die aber nicht uninteressant waren, weil die fast ausschließlich von seiner KZ-Zeit und der Frühzeit der ZJ handelten. Als Kinder konnten wir diesem gesellschaftlichen Teil beiwohnen. Als K. Franke einmal auf sein Übergewicht und sein aufgedunsenes Gesicht angesprochen wurde, erzählte er, daß im KZ mit ihm medizinische Versuche mit Arsen gemacht worden seien, um festzustellen, wie der menschliche Körper sich daran gewöhnt, und das seien nun die Spätfolgen (ich konnte es nicht glauben, alle ehemaligen KZ–Insassen litten an irgendwelchen Verfolgungsängsten, z.B. war im Zweigbüro ein gewisser Bruder Adler, der nach seiner KZ- Befreiung in der DDR ab 1950 gleich nochmals 12 Jahre sitzen mußte. Der verbarrikatierte sich in seinem Zimmer im „Bethel“ und ließ nur eine einzige Schwester rein, die ihn versorgte, sonst niemand, bis er dann starb.). Zweimal fanden die Konferenzen im Westerwald statt, wo ein Bruder D. eine Puddingfabrik nebst Anwesen hat. Ein Paar Mal in Bischofsgrün im Fichtelgebirge Ein Bruder hatte dort ein Kneipp- Kurheim, das über Neujahr nicht belegt war. Obwohl ZJ ja offiziell kein Sylvester feiern, feierten wir alle am und im hauseigenen Pool mit Büfett und Getränken, während draußen im Ort das Feuerwerk gezündet wurde. Eine tolle Kulisse!!. Einmal brach sich ein Bruder, der eine leitende Stelle bei einer westfälischen Fleischwarenfabrik bekleidete und bei Kongressen für den zentralen Einkauf von Lebensmitteln zuständig war, den Arm. Er wurde dann im Auto ins Krankenhaus nach Bad Berneck zur Notaufnahme gebracht. Überflüssig zu erwähnen, daß bei Kongressen der WTG in Deutschland fast ausschließlich Fleisch- und Wurstwaren dieser Firma verwendet wurden.

Das war für uns Kinder so eine Art Ersatzurlaub, da wir ja keine Zeit hatten, Urlaub im klassischen Sinn zu machen. Etwas anderes kannte ich ja gar nicht.

4. Kapitel: mit der „Welt“ konfroniert

Das erste Mal , daß ich ernsthaft mit „weltlichen Dingen“ konfrontiert wurde, war meine Einschulung. Natürlich bereitete mich meine Mutter darauf gründlich vor, incl. Gespräch mit dem Klassenlehrer. An meiner Schule war ich das erste und einzige Kind von ZJ. Danach kamen nur noch meine Brüder einige Jahre später.

Es ging damit los, daß alle eine Schultüte hatten, nur ich nicht, meine Mutter erklärte mir daß das heidnisch sei, begriffen habe ich es bis heute nicht. Ich glaube auch nicht, daß dieser Standpunkt heute noch offizielle Lehrmeinung der WTG ist. Also „anders sein vom ersten Tag an!“

Dann das übliche: Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Fasching, Religionsunterricht. Ich versuchte den Spagat: Der natürliche Anpassungstrieb mitzumachen (ich wollte es ja), contra Anerkennung der Eltern wenn ich „standhaft war“. Mit der Zeit konnte ich es immer besser. Zwar ging ich nicht in den Religionsunterricht , aber allem entzog ich mich dann doch nicht, wenn ich mir in der Schule an Fasching einen falschen Bart anklebte, so mußte ich ihn natürlich wegmachen, bevor ich nach Hause kam. Mein Vater arbeitete zu der Zeit in einer Firma am Ort und kam mittags heim zum Essen. Er hatte die Arbeit bei den amerikanischen Streitkräften aufgegeben, weil nach „neuerer Erkenntnis“ auch eine zivile Beschäftigung bei Streitkräften Militärdienst sei. Er verdiente nun viel weniger, hatte aber nachmittags um 16 Uhr Feierabend, was seinen theokratischen Aktivitäten sehr entgegenkam.

Wenn er mich erwischte, daß ich von der Schule nicht schnurstracks nach Hause kam, setzte es Prügel. Das meiste bekam ich ab, meine Brüder waren kleiner und wurden dementsprechend geschont. Außerdem war es immer so, daß ich mir jede noch so kleine Freiheit erkämpfen mußte, meine Brüder diese aber mit Hinweis auf mich automatisch zugestanden bekamen.

Apropos Schule: Da es an unserem Ort nur eine Grund- und Hauptschule gab, und meine Eltern der Meinung waren, eine „weltliche“ höhere Schulbildung wäre nicht im „theokratischen“ Sinne, außerdem wäre ich durch Besuch eines Gymnasiums mit noch mehr „schlechter Gesellschaft“ verbunden, mußte ich die Hauptschule besuchen, was dazu führte, daß ich konstant unterfordert war und ich mich in der Schule langweilte. Hausaufgaben machte ich heimlich während der Unterrichtsstunden. Deshalb machte es mir später auch keine Probleme unvorbereitet zur Zusammenkunft zu gehen, da ich eine eventuelle kurze Ansprache mal so eben schnell während des laufenden Programms vorbereitete, mir ein paar Notizen und ein paar Bibeltexte notierte und diese dann hielt. Mir wurde nie gesagt, ich wäre schlecht vorbereitet.

Übrigens „Theokratische Schule“: Da sollten ja alle ZJ mitmachen, auch die „Schwestern“ (seit 1958 glaube ich ). Die Themen austauschbar, die Satzbausteine beliebig verwendbar, für die Zuhörer langweilig, der Leiter schulmeisternd, die Gesprächsrahmen banal, so ging Woche um Woche dahin, ohne erkennbaren Nutzen. Es war lächerlich.

Schwierig war das mit dem Predigtdienst für mich. Ich haßte das. Wenn meine Familie Sonntags morgens in den Predigtdienst zog (Sonntag morgen war damals Haupt- Predigtdienstzeit, nachmittags Zusammenkünfte) so nahm mein Vater und meine Mutter je einen meiner Brüder mit und verabredete mich gewöhnlich mit einem halbwüchsigen Bruder, der die Sache nicht so ernst nahm, aber schon ein Auto hatte, und dann ließen wir uns ein ländliches Gebiet zum Predigen geben, von dem wir annahmen, dort kenne uns niemand, haben dann ein paar Bauernhöfe besucht (die Bauern haben zwar nichts kapiert, dort konnte man aber gut Literatur verkaufen) und haben eine Spazierfahrt gemacht. Wenn ich mit meinem Vater in den Predigtdienst ging, so handelte es sich meist um eine Mischung aus Rückbesuchen, Hirtenbesuchen bei „schwachen“ oder „untätigen“ Brüdern und Schwestern oder um Heimbibelstudien. Meine Mutter erfüllte ihren Predigtauftrag vorwiegend durch Besuche bei italienischen Gastarbeitern, die immer sehr erfolgversprechend waren, erwarteten dieselben doch Hilfe bei ihren alltäglichen und sprachlichen Problemen. Straßendienst kam selten vor, war aber ein Alptraum für mich, den ich nach Möglichkeit wo immer es ging vermied.

Anders war es nur wenn reisende Diener kamen, die dann auch gewöhnlich bei uns übernachteten. Aus unerfindlichen Gründen mußte mich diese regelmäßig in den Predigtdienst begleiten. Einmal war Richard Kelsey als Bezirksaufseher da. Sowohl er als auch seine Frau sprachen damals nur gebrochen deutsch. Beide nahmen mich mit in den „Dienst“. Wahrscheinlich weil ich leidlich englisch konnte, und so evtl. einspringen konnte. Kelseys sind mir in sehr guter Erinnerung geblieben. Keine Starallüren, sondern nett, bescheiden und humorvoll. Das Gegenteil von manchem Altvorderen, z.B. Franke. Der hörte sich am liebsten selbst reden. Seine Redezeiten bei Vorträgen überzog er wie selbstverständlich, für Kinder ein Graus! Der brachte es fertig einen Dia-Vortrag mit ca. 2,5 Std. Gesamtlänge mit sich herumzutragen, den er jahrelang bei seinen Auftritten in den Versammlungen abspielte.

Als ich 1974 beim Bau in Wiesbaden 2 Wochen mithalf, so suchte mich Frankegeraume Zeit (ich arbeitete als Elektriker ohne festen Einsatzort) bis er mich irgendwo fand, um mir das Angebot zu machen, ich könne gleich dableiben und Mitglied der „Bethel-Familie“ werden. Ich lehnte freundlich ab. Von da an nahm er mich nicht mehr zur Kenntnis (ein „Vorrecht“ ablehnen!!, wie konnte man nur?), außer daß ich mal mithalf, seinen neu erworbenen Farbfernseher nach oben in seine Privaträume zu tragen. Da mein Vater nach seinem „Gilead“-Diplom damals auch nicht im Zweigbüro bleiben wollte, konnte wenigstens er mich verstehen. Es war nämlich so, daß man unterschreiben mußte den „Betheldienst“ für einen gewisse Mindestzeit zu verrichten und dabei ledig zu bleiben. Manche Brüder unterschrieben, lernten kurz darauf jemanden kennen, den sie heiraten wollten und mußten nun jahrelang darauf warten, bis die Zeit dort vorbei war. Schied man vorher aus, war das ein halber Gemeinschaftsentzug.

Übrigens hatte mein Vater gelegentlich ohnehin seine eigenen Vorstellungen von WTG–Vorgaben. Entgegen üblicher Vorgehensweise hielt er Ende der Sechziger trotzdem die Beerdigungsansprache für einen Bruder, der Selbstmord begangen hatte. Das war sonst wohl nicht üblich, hatte aber auch kein Nachspiel.

Was den Fernsehapparat bei Konrad Franke im Zimmer betraf, so erzählte mir mein Vater, daß er anläßlich eines Besuches im Zweigbüro auch bei Franke privat eingeladen war, und der zur Tagesschauzeit jegliche Unterhaltung abwürgte mit dem Hinweis, daß er nun fernsehen wolle. Ein zufällig anwesender Bruder aus den USA störte sich mal daran, daß die Brüder sich zuprosteten und wollte zu einer biblischen Erklärung ansetzen, als Franke ihn unterbrach und sinngemäß sagte, wenn das so sei, ergeben wir uns halt dem stillen Suff. Nun alkolische Getränke waren immer reichlich da, das wiß ich aus meiner Bauhelferzeit. Das änderte sich erst in Selters, wahrscheinlich wegen der Unfallgefahren am Bau.

5. Kapitel: „Lieber Bruder...“

Getauft wurde ich 1970. Es war schließlich Zeit!! Meine mehr oder weniger gleichaltrigen Freunde bei der WTG ließen sich 1969 in Nürnberg, der gigantischsten Massenveranstaltung der WTG in Europa taufen, also blieb mir keine weitere Verzögerung. Schließlich hielten nicht nur mein Vater und mein Großvater Vorträge in Nürnberg, auch ich war in einen Programmbeitrag von Bruder H, den ich gut kannte, eingebunden worden. „Welch ein Vorrecht“. Mein Vater organisierte wie üblich den Cafeteria- Betrieb, d.h. es wurden in 1 Std. über 70.000 Essen ausgegeben, das war schon gigantisch! Ich sah ihn dort nur selten, er war so im Streß, ich sah ihn nur mit Sprechfunk ausgerüstet, abwechslungsweise Kaffee und Bier trinkend irgendwo vorbeihuschen. Wir campten für 6 Wochen direkt hinter dem Stadion.

Von meinen Freunden, die sich damals um die gleiche Zeit taufen ließen wie ich, gingen 2 später ins „Bethel“, der Rest ist heute nicht mehr bei den ZJ. hopp oder topp! Nach Schule und Lehre erwartete man eigentlich von mir, den Pionierdienst aufzunehmen. Was tun? Ich verspürte nicht die geringste Lust dazu!

Der Ausweg nahte! 1974, ich war knapp 18 Jahre alt, wurde beschlossen in unserer Gegend eine englischsprachige Versammlung zu gründen, Schwäbisch Hall – Englisch mit einem riesigen Versammlungsgebiet von Heilbronn bis Crailsheim. Ich meldete mich freiwillig! Die Versammlung war zusammengewürfelt aus 4 Sonderpionieren, ein paar amerikanischen Schwestern und deren Kindern (die Männer waren bei der Army, falls sie ZJ wurden, schieden sie aus der Army aus, und gingen zurück in die USA, womit sie als Verstärkung für die lokalen Versammlungen wegfielen), ein paar deutschen Brüdern, einigen Jugendlichen, die englisch lernen wollten, sowie einige Wanderer zwischen den Welten. Da Älteste gebraucht wurden, beschlossen mein Vater und ein befreundeter Bruder ebenfalls zur englischen Versammlung zu wechseln. Alle in allem wurden die Zusammenkünfte von insgesamt ca. 30 Personen besucht.

Die allererste Zusammenkunft hatte es in sich!. Ein Großteil der Anwesenden hatte nie zuvor eine englisch-sprachige Zusammenkunft besucht. Aber fast alle hatten irgendwelche Programmpunkte. Ich auch! Ich wurde zum Literaturdiener ernannt, obwohl ich noch gar kein „Dienstamtgehilfe“ war. Literatur wurde auch gegen amerikanisches Geld abgegeben, 2 Zeitschriften wurden für 10 Cent abgegeben, das war weniger als die Hälfte von 50 Pfennig, was es damals in Deutsch kostete. So gab die Versammlung auch die Literatur gegen Dollars ab.

Jetzt war das auch kein Problem mehr mit dem Pionierdienst. Von wegen Haus-zu-Haus Dienst. Was ich so tat, konnte niemand richtig nachvollziehen. Ich arbeitete bei einem befreundeten Bruder als Auslieferfahrer und machte mich dann 2 Jahre später selbstständig. Auf meiner ersten Gewerbeanmeldung mußte ich noch das Geburtsdatum ein Jahr nach hinten legen, um die Genehmigung (erst ab 21 Jahre) zu erhalten. Vielleicht war ich damals der jüngste Unternehmer Deutschlands. So arbeitete ich 3 Tage als Auslieferfahrer, um das Geld zu verdienen, das ich hauptsächlich für mein Auto brauchte, da die Wege weit waren. Deutschsprachige Zusammenkünfte besuchte ich keine mehr. Und bei uns ging es ganz locker zu. Ich hatte diverse Heimbibelstudien und machte Besuche bei isoliert lebenden Amerikanern und anderen englisch-sprachigen Ausländern. Dazu verabredete ich mich vorzugsweise mit meinen Freunden. Ansonsten suchten wir Pub‘s und Kneipen auf, machten Ausflüge und verabredeten uns mit diversen Schwestern, mit denen wir vorgaben in den Predigtdienst zu gehen. Den Bericht über die 90 Stunden erfüllte ich locker – auf dem Papier! Oft übernachtete ich dann auch (wegen der langen Fahrtstrecken) bei befreundeten Brüdern, was die Gelegenheit bot, die Nacht zum Tag werden zu lassen. Es war eine herrliche Zeit!

Mein Ansehen stieg und ich wurde auch zum „Dienstamtgehilfe“ befördert. Irgendwann schied ich aus dem Pionierdienst aus, weil ich darlegen konnte, daß ich finanziell mir das nicht mehr leisten konnte, sonst wäre ich womöglich noch „Ältester“ geworden. Ich kümmerte mich nun mehr um meine Firma. Bei einem Italien- Urlaub lernte ich im Sommer 1978 meine zukünftige Frau in einer italienischen Versammlung in Süditalien kennen. Wir heirateten 9 Monate später, und wegen meiner Frau wechselte ich in die italienische Versammlung nach Ludwigsburg, obwohl ich einfach über 30 Km Wegstrecke zum Königreichssaal hatte.

Hier fing ich wieder bei Null an. Aber schon bald nachdem ich meine Sprachkenntnisse verbessert hatte wurde ich wieder „Buchstudienleiter“ und „Dienstamtgehilfe“. Ich leitete die Treffpunkte für den Predigtdienst, ging aber oftmals dann woanders hin, statt predigen. Es sei denn ich hatte ein Heimbibelstudium, wohin ich irgend jemand mitnahm. Bald übersetzte ich Vorträge von Deutsch auf Italienisch, wenn der Redner ein Deutscher war, bald hielt ich selber welche. Meine Tochter kam zur Welt, und meine Frau war vorwiegend mit ihr beschäftigt. Gemütliche Beisammensein und Ausflüge mit italienischen Brüdern und Schwestern waren sehr amüsant und es war gelegentlich was los. Gleichzeitig lebte ich mein eigenes Leben, das sich immer mehr diametral von dem unterschied, was ich nach WTG–Lehre eigentlich tun sollte. Ich trank zuviel, hatte zwielichtige Freunde (und Freundinnen) und verkehrte in „schlechter Gesellschaft“. Manchmal hielt ich Ansprachen im Königreichssaal in alkoholisiertem Zustand, ich weiß heute noch nicht warum das keiner merkte.

Mein Einstieg in den Ausstieg begann. ZJ zu sein war nur noch Routine und Show. Da aber meine Frau auch ZJ war, und der familiäre Druck durch meine Verwandtschaft doch stark war, dauerte es noch Jahre des Durchmogelns bis ich den Absprung fand.

Die erste Gelegenheit bot sich, als ich mal beruflicherseits mit dem Gesetz in Konflikt kam, und ich für kurze Zeit in Haft kam. Das nützte mir aber gar nichts. Ich wurde zwar konsequenterweise 1983 ausgeschlossen, aber ich war auf die Hilfe meiner Frau angewiesen. Sie hielt voll zu mir und da konnte ich nicht anders, als ihr zu versichern, daß ich mich um Wiederaufnahme bemühen würde. Also besuchte ich die meisten Zusammenkünfte mit meiner Frau und meiner Tochter als Ausgeschlossener, und wurde dann auch ohne großes Federlesens wieder aufgenommen (diesmal Heilbronn-Italienisch). Glücklich war ich darüber nicht, aber was sollte ich machen? Als Wiederaufgenommener lebt es sich, wenn man die Zusammenkünfte besucht ohnehin leichter. Privaten Kontakt zu ZJ habe ich nach Möglichkeit vermieden. In der Kneipe fühlte ich mich sowieso viel wohler als beim Wachtturm–Studium. Und in „Vorrechte“ wurde ich sowieso nicht eingebunden. Meine Eltern waren mittlerweile nachdem mein Vater in Rente ging, Hausmeister in der Kongreßhalle Gelsenkirchen, und somit wieder im „Vollzeitdienst“.

Erst als die Differenzen auch mit meiner Frau im Laufe der Jahre stärker wurden (sie ist heute noch ZJ), und ich mein Privatleben weitgehend ohne sie führte, machte ich mir Gedanken über die WTG und ihre Lehren an sich. Ich kam zu einer eher humanistischen Lebensauffassung und entfernte mich ideologisch um Lichtjahre von dem Lehrgebäude der WTG.

Das hatte dann die Trennung von meiner Frau zur Folge mit erneutem „Gemeinschaftsentzug“, den ich provozierte und den ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Vorladungen zum örtlichen „Komitee“ befolgte ich nicht. Wer waren diese Leute, die über mich urteilen sollen im Namen eines Gottes, der vor 3500 Jahren als patriarchalischer Nomadengott im Zweistromland geboren wurde, und das Ebenbild derjenigen wa, die ihn erschufen. Ein Gott der kriegerisch („Jehova der Heerscharen“), frauenfeindlich, rachsüchtig und autokratisch ist, so wie die nomadische Bevölkerung die ihn seinerzeit erschuf.

Endlich loslassen! Ich wollte nie mehr was mit ZJ zu tun haben, nie mehr einen strafenden Gott „Jehova“ oder seinen Abklatsch (Satan der Teufel) fürchten müssen, ein ständig schlechtes Gewissen haben müssen, Leute von Dingen überzeugen müssen, an die ich selbst nicht glaube, ein Doppelleben führen müssen und einer von Menschen geleiteten „göttlichen“ Organisation Rechenschaft ablegen. Nie mehr!

Das ist die Freiheit! Das Leben ist so kurz und es bietet so viel! Nützt die Zeit!

P.S.: Ich habe darauf verzichtet, meinen Alltag als ZJ und das Leben als ZJ als solches zu schildern, da dies viele andere vor mir schon getan haben, die das ähnlich erlebt haben und denen das alles hinlänglich bekannt ist. Ich habe mich darauf beschränkt, ein paar Anekdoten und Erinnerungen festzuhalten, die mich persönlich geprägt haben.