Die biblische Wahrheit war durch Verwandte schon vor meiner Geburt an die Eltern herangetragen worden. Das hinterließ wohl seinen Eindruck, wenngleich es bei ihnen den Erfolg verfehlte.

Als ich zwölf war begann die Verwandtschaft ein Studium mit mir, das dann von Vollzeitverkündigern weitergeführt wurde.

Diese fanden mich wohl nach längerem schleppendem Studium eher uninteressiert, doch alles war hängen geblieben! Als ich das Studium beenden wollte, besuchte ich mit 15 zum ersten Mal eine reguläre Zusammenkunft. Weit weg, keiner in meinem Alter, doch ich fühlte mich geborgen inmitten Bauern, Pionieren, schönen und hässlichen Menschen, ein kleines Häufchen in einem muffelnden Scheunenteil, Kinder und alte, alle zogen an einem Strang. Und die Bibel hatte sich trotz Gymnasium bei mir festgesetzt; ich glaubte ans Paradies.

Ein halbes Jahr später wurde ich getauft, verließ die Schule und drei Monate danach begann ich mit dem Pionierdienst. Halbtagsjob für 295 DM im Monat (7-12.00, fünf mal die Woche) Meine Arbeitstage waren immer zwölf Stunden und mehr, denn die sehr langen Fahrten zählten ja nicht als Predigtdienst. Der Saal war sehr weit weg, doch die Brüder halfen mir wo sie konnten, damit ich im geteilten Haus, das eine Suchtproblematik einschloss, überleben konnte.

Mit 18 durfte ich bereits in den Sonderpionierdienst, eine hohe Anforderung. In dieser etwas größeren Versammlung konnte ich jedoch an die Gleichaltrigen keinen Anschluss finden, da ich das ja auch nicht sollte. Also mit denen über Mode reden oder irgendwie über Jungs oder so, war undenkbar. In jeder Situation ein Vorbild. Und was Vorbild in einer alten Deutschen Versammlung heißt, wissen wir hier, nicht wahr?

Meine Partnerin war deutlich beliebter als ich. Sie hatte so was Edles an sich. Sie war einige Jahre älter und sehr bedacht. Außerdem schlank und weltgewandt, geschmackssicher, ich war weit unterlegen. Wir unternahmen jedoch alles gemeinsam, was aber bedeutete, dass ich nie mit Leuten zusammenkam, die meine Wellenlänge hatten. Außerdem vertrat sie die These, wenn sie Menschen auch noch so nett fand, und sie lebt diese These wohl bis heute, würde sie sie nie ins Herz lassen, wenn sie keine Pioniere wären. Also auch kein Mann, der die arme alte Mutter versorgt, konnte da heranreichen. War ich mal verliebt, war sie eher entsetzt ... Und als meine Mutter mal mit ihrem Fernseher bei uns zu Gast war und ich höflicherweise halt mit hineinsah, bekam ich Vorwürfe, ich hätte mir weltliches Tanzen angesehen. Edel eben.

Ich lernte sehr viel von meiner Partnerin. Nach dreieinhalb Jahren sehr anstrengender Tätigkeit, und sehr starker Depressionen, Weinkrämpfe von morgens bis abends, immer wieder Todeswunsch, heiratete ich. (Jetzt würde alles gut werden, sagte er. Und er glaubte fest daran.) Natürlich einen ganz feinen Pionier und Ältesten. Ich schätze ihn heute noch, weil er immer er selbst ist.

Seitdem sind über zwanzig Jahre vergangen. In der Zeit lebte ich mit dem offensichtlich genetischen Defekt einer Neurotransmitterstörung, die heftigste Depressionen auslöst, zusätzlich zu Situationen die das tun mögen, erlebte die traurige Situation einer denkenden (Ehe)Frau. Nicht mein Ehemann hatte was dagegen, dass ich geistig rege war. Er liebte mich wie ich war, brachte mir auch Achtung und Bewunderung entgegen.

Es wurde sich hier mal über mich beschwert, dort galt meine durchaus fundierte Ansicht als Grund zum Kopfschütteln. Am schlimmsten war es, wenn es mir passierte, dass ich mich in einen anderen Mann verschaut hatte, denn mein Mann war ein wunderbarer Mensch, ein Sonderpionier, ein Ältester - aber nicht auf meiner Wellenlänge...

Mein Mann fand, er hätte es schriftlich, dass ich seine Frau sei, und er könne nichts machen ... Sprach ich mit anderen darüber um mir Schutz zu suchen, vor meiner eigenen Schwäche, waren sie überfordert, oder es kam wie es kommen musste: Am siebten Hochzeitstag saß ich mit Kreis und Bezirksaufseher hinter der Bühne des Kreiskongressssaals und musste mich der Inquisition unterziehen "Bist Du ein Fleisch mit Deinem Mann?", als ginge ihn das etwas an ... (jeder Leser weiß, was ich um meines Mannes Ruf zu wahren antwortete) nun es wurde mir nicht richtig verziehen, aber naja...

Riesenbrief von der Gesellschaft, Vorrecht stünde in Frage ... Danach habe ich mich brav verhalten, d.h. nur noch mit Jehova darüber gesprochen, dass ich zwar einen Pionier geheiratet hatte und gern im Vollzeitdienst war, aber tagein tagaus mit jemandem 24 Stunden zusammensein, der einfach meint ich gehöre ihm...

Apropos mit Jehova sprechen: Das Gebet war immer eine Burg für mich. Nur da, dass man nicht dabei einschlafen durfte, dass das ungehörig war, fand ich schlimm, gibt es doch nichts schöneres als in den Armen des Vaters zu schlafen, so mein Bild...

Wir mussten den Vollzeitdienst wegen meiner psychosomatischen Störungen aufgeben. Da wir gerade in eine größere Stadt versetzt worden waren, bekam ich langsam die richtige ärztliche Hilfe. (Zuvor waren wir auf dem Land gewesen, neun Jahre keine Brüder in der Nähe, d.h. nur vereinzelt, keine Stadt, gar nichts, sehr oft baten wir um Versetzung weil ich sehr einsam war - auch unter dem Wetter litt - aber man lobte uns fürs Ausharren. Eine einzige Frauenzeitschrift war oft monatelang meine einzige Freundin, Abwechslung, konnte sie manchmal in Passagen auswendig) Doch selbst da noch sagten meine Verwandten, ich müsse etwas getan haben was dem Herrn missfällt, so der Originalton, sonst ginge es mir nicht schlecht: Langjährige Missionare ihres Zeichens.

Jeder erkennt wie autoritätsgläubig man sein muss, um mit jener Person überhaupt jemals wieder zu sprechen, geschweige denn, sich ihr geschwollenes Gerede immer und immer wieder anzuhören... Ich war sehr autoritätsgläubig, und ich dachte das wäre mein Schutz. Obgleich ich fast vier Jahre raus bin aus der Organisation der Zeugen Jehovas, schleppe ich diesen Anteil im Gepäck mit rum.

Ich hatte aber auch Freunde in dieser Zeit. Sie trugen schwer an meinen Lasten mit. Sie sind heute noch tief in meinem Herzen. Wo sie denn sind? Ich habe ihnen die Gelegenheit genommen Kontakt mit mir aufzunehmen, denn ich weiß sie müssen sich dann entscheiden. Irgendwann habe ich vielleicht die rechten Worte um mich nochmal an sie zu wenden ohne sie zu kompromittieren.

Ereignisse halfen mir zu wachsen und über die Dinge hinauszusehen. Mein abstraktes Denkvermögen half mir sehr. Als ich in einer Psychotherapie meinen Glauben sowie eine ziemlich verfahrene Ehe bis aufs Blut verteidigte, wenngleich nie wirklich angegriffen, so nahm ich doch genau auf, was mir da zu überlegen gegeben wurde. Auch bei kleinen Aushilfsjobs die ich, schon gegen den Willen meines hart arbeitenden Mannes, ausübte, hörte ich dies und das. Natürlich immer noch mit dem Ansatz zu predigen.

Bis ich einen Chef hatte, selbst gläubig, der mich mit meiner Religion ernst nahm, so langsam einige meiner Freunde kannte, meine Nöte und Sorgen und ich die Seinen. Wir verbrachten verboten viel Zeit zusammen.

An einem Sonntag im WT-Studium beschloss ich, entweder am Nachmittag oder am Nächsten Morgen, mir das Leben zu nehmen. Meine Situation war unlösbar auf ehrenhafte Weise. Also stellte ich mir den Wecker.

Als ich ein letztes Mal zum Himmel sah, dachte ich, "das kannst Du nicht machen, dachte an bestimmte Menschen", und rannte los.

Ich wachte am Nachmittag in der geschlossenen Abteilung der psychatrischen Klinik auf.

Danach hatte ich einen Ehemann, der keine Zeit für mich hatte, wenn ich nach ihm schrie, der ja zuvor schon gesagt hatte, er könne sich nicht um mich kümmern als ich vier Tage fest auf dem Rücken lag. Er hätte als Ältester keine Zeit für eine psychisch kranke Frau. Ich weiß, er hatte versucht, schon mal der Zusammenkunft fern zu bleiben, um mich in einer kritischen Situation nicht allein zu lassen, aber immer mit Vorbehalt.

Niemand, der diese Lebens- und Todesängste nicht kennt, weiß was es bedeutet allein zu sein. Behaupte ich.

Es gab da allerdings Pfleger, die merkten dass ich eigentlich normal war. Nach einer Woche entlassen, musste ich sofort wieder kehrt machen, ich starb vor Angst in unserer Wohnung angekommen und konnte nicht aufhören zu weinen. Wochenende, also wieder geschlossene Abteilung. Da hatte mir jemand von einer anderen Abteilung erzählt, die nahmen mich auf, dort verbrachte ich nochmal 35 Tage, bis mich zum Schluss der Oberarzt anpöbelte.

Und ratet wer für mich da war?

Diesem ehemaligen Chef verdankte ich bereits behutsam lockerndes Gedankengut, das mir die Freude eines Jahreswechsels zum Beispiel nahegebracht hatte, die Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Lust zu spüren auf Essen, Spaziergänge, Schaffer-Bilder und Gedichte, nackte Haut und schöne Menschen. Er dachte über meine Argumente nach, blieb aber bei dem was er so für logisch hielt.

Nein, er war nicht allweise. Er war nur er selber!

Er war es, der nun an meiner Seite war wann es nur ging, suchte mir mir die Wohnungen auf, die ich mir ansehen wollte, entschied in welche Gegend ich nicht ziehen würde.

An einem Dienstag brach ich auf dem Toilettenboden des Krankenhauses zusammen und sagte Jehova, ich könne jetzt nicht mehr, er wisse es. Ich beschloss, mich von meinem Mann nicht nur auf Zeit zu trennen - als wäre es das normalste von der Welt - fand auch einen Ganztagsjob. In der Bürotherapie schrieb ich zum ersten Mal auf einem PC: Bewerbungen! Kein Wunder dass der OA dachte ich veräpple ihn, denn ich war mehr bei Vorstellungsgesprächen als im Krankenhaus.

(Ich muß hier einfügen, dass mein Mann, als ich wieder unerbittliche Todeswünsche spürte zu mir sagte, wenn ich doch nicht mit ihm leben könne, und ich meinte ich könnte auch die Wahrheit nicht leben, dann soll ich doch lieber ohne, aber bitte LEBEN. Dieser Satz war eine Art Absolution für mich. Vielleicht wäre ich ohne dies sein Zugeständnis nicht mehr am Leben. Ich danke ihm sehr dafür.)

Diese Krankenhaus war 45 Minuten vom Wohnort weg. Ich weiß nicht wie ich diesem Mann, meinem damaligen Chef und Freund, danken kann, außer ihn hier zu erwähnen, und heute seinen Kindern Gutes zu tun. Er führte mich spazieren, sprach mit den Krankenschwestern, der Ärztin, stattete meine neue Bleibe zum Teil aus, meldete ein Telefon an, das er mich hatte aussuchen lassen, wollte mir sogar einen Fernseher kaufen, denn ich hatte wirklich nix, da ich meinen Mann nicht schädigen wollte.

Und dann beschloss ich, am Freitag den Rückzug aus der Versammlung den Ältesten kund zu tun. Genauso tat ich es, weder nervös oder zögerlich, einfach so. Danach versandte ich ein paar Briefe an Freunde.

Natürlich hatte ich im Krankenhaus auf Flehen Besuch bekommen von Ältesten. Aber ich brauchte eigentlich niemanden, der in Wirklichkeit meinen Mann in Schutz nahm. Ich hätte praktische Hilfe gebraucht, einen Satz hörender Ohren.

Heute denke ich oft an den einen Aufseher, der immer die Meinung vertreten hatte, dass bei den ersten Christen weder alle gepredigt haben, noch Berichte geschrieben wurden... Und stimme ihm zu. Was er wohl heute macht? Er wohnt fünf Straßen von hier...

In der neuen Wohnung machten sie noch einen Anstandsbesuch. Ich war so frei, zu erwähnen, dass ich mir oft gewünscht hatte, es würde sich `mal jemand Zeit für mich nehmen, worauf mir die beiden Besuche im Krankenhaus entgegengehalten wurden, und man hätte doch seine Pflicht getan... "Du hast ja deine Entscheidung getroffen." sagten sie und gingen wieder. Das war ein guter Moment. Sollte ich je wieder in einer solchen Situation sein, kämen sie gar nicht mehr ins Haus!

In den letzten drei Jahren habe ich nicht viel über geistige Dinge nachgedacht. Wenngleich mir hie und da mal von jemandem informell Zeugnis gegeben wurde. Ich wollte die Lieben nicht brüskieren. Wenn bekannte Zeugen mich auf der Straße sahen, hoffte ich sie könnten erkennen, wie gut es mir geht. Ich konnte Ihnen aber nie ins Gesicht lachen.

Ich denke, das hat sich durch dieses Forum geändert!

Ich schätze die guten Dinge aus meinem Leben, bin froh mit einem Menschen zu leben, der stolz ist auf meine harte Arbeit und loyale Lebensauffassung in der Vergangenheit, meine Freude an den Menschen. Aber ich habe so viel Schmerz und Leid erfahren durch meine Treue, dass jetzt eigentlich nur noch Glück Platz hat.

Und Stolz, dass ich die bin, die ich bin.

Ach so, ob ich an Gott glaube? Nun, nach einiger Lektüre von Evolutionisten bin ich wieder zu der Ansicht gelangt, das uns jemand gewollt hat, denn die Theorien beruhen immer auf der Annahme, dass alles von nix kommt. Ich meine, das wären zu viele Zufälle. Was ich sonst noch glaube, hab´ ich noch nicht geklärt. Aber ich schlafe gern in den Armen des himmlischen Vater ein während ich bete. Übrigens gelang mir das erst dreieinhalb Jahre nach meiner Trennung von Jehovas Zeugen., vor zwei Wochen. Das Beten.

Vielleicht kommt nun eine neue Zeit der Spiritualität. Vielleicht auch nicht...