Ich habe meine Mutter öfter gefragt, was sie und meinen Vater bewogen hat, Zeugen Jehovas zu werden. Mit meinem Vater habe ich nie darüber gesprochen. Aber meine Mutter hat oft und gerne erzählt – von früher, von den Großeltern, von ihrer Kinderzeit, von den Verwandten und Freunden, auch von der Hitlerzeit und dem Krieg. Sie hat oft erwähnt, wie enttäuscht sie waren – von den Großkirchen, von den Versprechungen der Politiker und dass ihnen kein Pfarrer ihre vielen Fragen zufrieden stellend beantworten konnte.

Der Aberglaub’, in dem wir aufgewachsen,
verliert, auch wenn wir ihn erkennen,
darum doch seine Macht nicht über uns.
Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.

Gotthold Ephraim Lessing „Nathan der Weise“

In gewisser Hinsicht glaube ich, meine Eltern zu verstehen. Da waren zwei junge Leute mit der Hoffnung auf ein friedliches, glückliches Leben und dann begann ein größenwahnsinniger Psychopath ihre Welt und die Welt von Millionen anderen Menschen in Trümmer zu legen. Ein Psychopath, der im christlich-sozialen Deckmäntelchen die Herzen der Menschen stahl und ihnen die Sinne vernebelte und sie dann, als es zu spät war, gnadenlos beherrschte. Es war ihnen unmöglich, sich dem Geist der Zeit zu entziehen, denn er war allgegenwärtig – in den Familien, in den Vereinen und Schulen und auch in den Kirchen. Gehorsam und Pflichterfüllung gegenüber Führer und Vaterland und das ohne Widerspruch war die tägliche Predigt. Dieselbe Mischung fanden sie in der Sekte wieder. Eine Sekte, die ihnen eine heile Welt versprach und einfache Antworten auf komplizierte Fragen hatte. Vom Rest der Welt fühlten sie sich bitter enttäuscht. Und so galten Gehorsam und Pflichterfüllung dann der Sektenleitung.

Natürlich sahen meine Eltern das anders. Ihre Treue galt keiner Sekte, sondern Gott und der Bibel. Im Herzen meiner Eltern war das so. Aber sie folgten den Auslegungen von Menschen, deren Beweggründe ich zum heutigen Zeitpunkt nicht uneigennützig nennen würde. Und sie beschränkten damit nicht nur ihr eigenes Fühlen und Denken auf den Radius eines Bärenzwingers, sondern auch das ihrer Kinder.

Als ich geboren wurde, hatten meine Eltern bereits zwei Kinder im Alter von 12 und 13 Jahren. Beide hatten sie zu eifrigen Verkündigern herangezogen und ihnen als Lebensziel den Pionierdienst gesetzt. Meine Schwester erreichte dieses Ziel , denn sie ist ein äußerst zielstrebiger Mensch. Sie ist mit ihrem Mann auch jetzt noch im Vollzeitdienst und sie wünscht sich kein anderes Leben. Mein Bruder allerdings schlug später einen anderen Weg ein.

Das erste einschneidende Erlebnis, an das ich mich erinnern kann, war eine Prügelei. Wir saßen nach der Versammlung alle um den Küchentisch zum Abendessen. Wie gewöhnlich begann mein Vater zu beten. Ob sein Gebet tatsächlich so lang war oder nicht, weiß ich wirklich nicht mehr. Aber auf alle Fälle war es viel zu lang für einen knapp dreijährigen Zappelphilipp. „Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will.....“ – nein „Philippine“ konnte das einfach nicht. Ich wollte das Besteck wirklich nicht runterfallen lassen, aber es landete mit lautem Klappern auf dem Fußboden. Mein Vater betete in aller Ruhe fertig und stand dann mit sehr zornigem Gesicht auf. Mit schnellen Schritten holte er die Birkenrute aus der Waschküche, kam zurück und schnappte mich unter dem Arm. Dann schlug er heftig auf mich ein. Meine Mutter griff ziemlich schnell ein, aber dieses Ereignis saß fest in meinem Kopf. Dieses und ähnliche Erlebnisse mit meinem Vater prägten mein Verhältnis zum ihm sehr. Es entwickelte sich eine Art Hassliebe, verbunden mit sehr viel Angst. Diese Art der Beziehung übertrug sich dann aber leider auch auf mein Verhältnis zu Gott, so dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich Gott nun wirklich liebte oder Angst vor ihm hatte. Schließlich nannte ich Gott ja auch „Vater“. Und zumindest als Kind maß ich Gott an meinem menschlichen Vater. Den allerdings sah ich lieber gehen als kommen.

Als kleines Kind fiel es mir furchtbar schwer in den Versammlungen und auf den Kongressen still zu sitzen. Heute noch erinnere ich mich an die Qualen, die ich ausstand, bis das Programm zu Ende war. Oft schlief ich einfach ein und wurde erst wach, wenn der Redner mit Donnerstimme alle Feinde Jehovas, angefangen bei den Kirchen und den politischen Systemen Satans und allen bösen Menschen, die nicht auf seine Propheten, die Zeugen, hören wollten, der ewigen Vernichtung in Harmagedon preisgab.

Harmagedon – dieses Wort war der Alptraum meiner Kindheit. Meine Mutter förderte diesen Alptraum noch, indem sie mir bei jedem kleinen Ungehorsam mit Harmagedon drohte. „Willst du wie die anderen Kinder, die ungehorsam sind, in Harmagedon umkommen?“ „Ungehorsame Menschen wird Jehova in Harmagedon vernichten. Soll Jehova dich auch vernichten?“ „Weißt du noch, was mit den Kindern passiert ist, die den Propheten Jehovas verspottet haben?“ Ja, das wusste ich. Diese bedauernswerten Kleinen hatte der Bär geholt oder besser gesagt zwei Bärinnen, die wahrscheinlich gerade Junge hatten und sich von dem Geschrei der Kinder angegriffen fühlten. Wenn dieser Prophet tatsächlich durch seine Verwünschungen Schuld hatte an dem schrecklichen Tod dieser Kinder, dann war er eine äußerst armselige Figur und sein Charakter mehr als zweifelhaft. Noch schlimmer fände ich es, wenn es Gott nötig hätte, sich eines solch bösartigen Unmenschen zu bedienen um mit ein paar Kindern fertig zu werden, die wahrscheinlich nur das Gerede der Erwachsenen nachgeplappert haben. Dies nur für den Fall, dass dieses Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat. Aber zu der Zeit, in der meine Mutter mir mit dieser Geschichte Angst machte, war ich noch nicht so weit, solche rebellischen Gedanken zu hegen. Da erstarrte ich noch in Ehrfurcht und dachte schaudernd darüber nach, ob Jehova mich wohl auch von einem Bären fressen lassen würde, wenn ich nicht aufhören würde, meiner Mutter zu widersprechen.

Widerspruchsgeist hatte ich anscheinend schon. Wenigstens wurde mir das immer von meinen Eltern bescheinigt und nicht ohne Belehrung darüber, dass Widerspruch Rebellion gegen Gott bedeutet. Der „Geist der Unabhängigkeit“ würde von mir Besitz ergreifen und mich das Leben kosten. So kam es, dass ich bereits als kleines Kind ständig um mein Leben fürchtete. Sehr unruhig muß ich wohl auch gewesen sein, denn ich erinnere mich an die häufigen Ermahnungen: „Sitz’ jetzt endlich still und hör’ auf herumzurutschen!“ „Dreh’ dich um und pass’ auf!“ „Du bist ein richtiges Quecksilber!“ . Und manche ältere Schwester in der Versammlung konnte nicht umhin, mir zu sagen, dass ich ein richtiges „Wichserl“ sei. Das war in meiner Kinderzeit ein beliebter Ausdruck in unserer Gegend, um einem Kind mehr oder weniger freundlich mitzuteilen, dass es ungezogen sei. Wobei ungezogen dann bedeutete, dass man dieses Kind nicht nur sah, sondern es auch hörte.

Da es mir wirklich sehr schwer fiel still zu sein und ich doch aber Schläge riskierte, wenn ich es nicht war, und auf der anderen Seite mein Bewegungsdrang so groß war, begann ich meine Lippen und meine Ohren zu falten. Das konnte ich stundenlang ohne Unterbrechung tun und diese Gewohnheit behielt ich bis in meine Teenagerzeit. Ob es für ein Kind normal ist, sich stundenlang mit bestimmten Teilen seines Gesichts die Zeit zu vertreiben, weiß ich nicht sicher. Aber ich hatte schon damals das Gefühl, daß es das nicht ist. Außerdem sehnte ich mich nach anderen Kindern. Mir war oft langweilig und so hing ich meiner Mutter jammernd und mauzend am Schürzenzipfel und beklagte mich darüber, dass keiner Zeit hätte, mit mir zu spielen. Meine Mutter nahm sich dann auch irgendwann die Zeit dazu, aber oft musste ich lange warten. Wir hatten einen großen Garten und da spielte ich sehr gerne mit meinen Puppen und dem ganzen Puppengeschirr, aber nur, wenn sonst noch jemand da war. Waren unsere Nachbarn nicht zu Hause und auch mein Vater oder meine Mutter nicht im Garten, spielte ich nur direkt vor der Haustüre. Der Garten machte mir Angst. Das Alleinsein machte mir Angst. Unser Haus machte mir Angst. Angst war das Gefühl, das meine Kindheit überschattete. Jede Ecke konnte von Dämonen bewohnt sein und wenn in unserem Haus das Gebälk knarrte oder der Ofen bullerte und nachts seltsame Schatten in meinem Zimmer entstanden, dann überfiel mich nackte Panik. Dann rief ich lauthals nach meiner Mutter. Es konnte sein, dass ich im Garten stand und mich vor Angst nicht mehr von der Stelle bewegen konnte. Dann musste meine Mutter kommen und mich abholen. Das passierte vor allem dann, wenn sich eine Katze durchschlich. Katzen jagten mir ungeheure Schrecken ein. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum das so war. Vielleicht weil sie so leise waren und ganz plötzlich vor mir auftauchten, wie aus dem Nichts, oder beinahe so wie ein Gespenst? Oder vielleicht auch so wie ein Dämon mit glühenden Augen? Ich hatte Angst, sehr viel Angst. Meinen Vater bewog unter anderem auch diese Angst, später meine Lesegewohnheiten zu überwachen und auch aus diesem Grund Geschichten mit Hexen, Gespenstern und Ungeheuern zu konfiszieren. Leider vergaß er, die Offenbarung und die Wachtturm-Literatur auch gleich mit wegzuschließen. Denn die schlimmsten Bilder und Geschichten fand ich wohl in diesen Büchern.

Wenn ich mit meiner Mutter zum Einkaufen ging, kamen wir oft am Kindergarten vorbei. Dort sah ich die Kinder fröhlich miteinander spielen, hörte sie singen oder aus dem offenen Fenster die Kindergartentante Geschichten erzählen. Wie gerne wäre ich dabei gewesen! Aber meine Eltern meinten, dass mir dort sowieso nur Märchen erzählt würden und dass man dort ständig nur heidnische Feste feiern würde. Das sei nichts für einen Zeugen Jehovas. Es wäre noch früh genug, wenn ich in der Schule damit konfrontiert würde. Ich war sehr traurig, denn es gab einfach kein Kind in unserer Versammlung, mit dem ich spielen konnte und mit den Nachbarskindern durfte ich nicht spielen. Auf diese Art lebte ich in der Welt der Erwachsenen und mit der Zeit auch in meiner eigenen – meiner Phantasie.

Dann kam endlich der große Tag! Ich durfte in die Schule gehen. Darauf freute ich mich unbändig. Endlich mit anderen Kindern zusammen sein dürfen, ganz viel lernen und mit ihnen spielen, das war für mich die schönste Aussicht. Natürlich fiel ich sofort unangenehm auf, weil es damals bei uns noch üblich war, vor Beginn der Schule und am Ende des Unterrichts, gemeinsam zu beten. Alle standen auf, ich blieb sitzen. Das fiel mir anfangs sehr schwer und erregte meine Mitschülerinnen außerordentlich. Eine, die nicht mitbetete, nicht in den Religionsunterricht ging und vor allen Dingen sich nicht bekreuzigte, das schien für meine katholischen Mitschülerinnen unfassbar. Sie nannten mich eine Ketzerin. Was das ist, wusste ich damals schon. Das waren die Leute, die von der bösen katholischen Kirche verbrannt worden waren, weil sie lieber auf die Bibel gehört hatten, als auf den Papst. Und so eine war ich jetzt. Aber die Lehrerin schaffte schnell wieder Ruhe und mit der Zeit gewöhnten sich die meisten daran, dass es da Eine gab, die ein bisschen komisch war.

Eines der Mädchen war freundlicher zu mir als die anderen und so wollte ich sie dann eines Tages zu mir nach Hause einladen. Ich bat meine Eltern um Erlaubnis und dann begann ein großes Hin- und Her-Überlegen. Sollten sie ihre Zustimmung geben, sollten sie nicht? Am Ende der Beratung wurde ich eindringlich darauf hingewiesen, dass „Freundschaft mit der Welt, Feindschaft mit Gott bedeutet“ und wir als „Christen“ den Umgang mit der Welt meiden müssten. „Schlechte Gesellschaft verdirbt nützliche Gewohnheiten“, predigte mir mein Vater. Aber ich könnte das Mädchen ja zu mir einladen, wenn ich versuchen würde, mit ihr ein Bibelstudium zu beginnen. Damals war ich sechs Jahre alt und studierte mit meiner Mutter das „alte“ Paradiesbuch. Als ich die Auflage, die mein Vater mir da machte, hörte, schien mir das noch nicht so furchtbar, denn ich dachte vor allem daran, dass ich endlich eine Freundin zum Spielen haben würde. Aber als das Mädchen dann kam, wurde alles ganz anders. Zuerst setzte sich meine Mutter mit uns beiden an den Tisch und spielte mit uns ein Gesellschaftsspiel. Dann blieb sie im Zimmer sitzen, um uns zu beobachten. Ich fühlte mich sehr unwohl und ich fürchte, die andere Kleine auch. Dann erinnerte ich mich mit Bauchschmerzen an das Versprechen, das ich meinem Vater hatte geben müssen. Ich musste versuchen, mit ihr ein Bibelstudium anzufangen. Also holte ich mein Paradiesbuch hervor und zeigte ihr, wie mein Religionsunterricht aussah. Sie interessierte sich ungefähr zehn Minuten dafür und wollte dann aber weiterspielen. Nach zwei Stunden musste sie nach Hause gehen. Ich glaube es ist für jeden nachvollziehbar, dass dieses Mädchen nie wieder bei mir aufgetaucht ist und auch keine andere Mitschülerin.

Da ich sehr schnell lesen lernte, flüchtete ich mich in meiner Einsamkeit in die Bücher. Es gab auf dem Dachboden einen alten Schrank voller Bücher, den ich immer wieder aufsuchte und darin stöberte, um dann einen neuen Stapel nach unten zu befördern. Meine Mutter stöhnte zwar über die Staubfahne und die Spinnweben, die ich dabei hinter mir herzog, aber sie säuberte die Bücher und genehmigte sie als in Ordnung für mich. Schließlich waren es ihre eigenen Kinder- und Mädchenbücher. Nur das Buch mit dem Mann im Mond und dem Maikäfer, der sein Beinchen sucht, dem Herrn Sumsemann, durfte ich nicht behalten. Da drin kam der Weihnachtsmann vor. Allerdings feierte auch das „Nesthäkchen“, Annemarie Braun, Weihnachten und Geburtstag. Aber meine Mutter sah ein, dass man mir nicht alles wegnehmen könne. Was würde denn dann noch übrig bleiben ? Ich beneidete das Nesthäkchen so sehr um seine Freundinnen, mit denen es alles mögliche erlebte und ich verschlang diese Bücher ein um das andere Mal. Sie wurden mir so vertraut, dass ich bei den modernen Ausgaben dieser Geschichten ganz genau sagen kann, was man an welcher Stelle geändert hat und mit welchem Wortlaut. Meine treue Großmutter schickte zweimal im Jahr ein Paket, in dem es immer ein oder zwei neue Bücher für mich gab. Sie suchte sie immer sehr sorgfältig aus, in Anlehnung an die Vorgaben meiner Eltern, denn sie wusste, dass man mir die Bücher sonst wegnehmen würde. Das passierte auch einmal. In diesem sehr harmlosen Schneider-Buch ging es um alte Ritterrüstungen, eine alte Burg und ein Gespenst. Mein Vater tat, als ob der Teufel persönlich dieses Buch geschrieben hätte und schloss es ein. Lange Zeit musste ich auch jedes Buch, das ich aus der Schulbibliothek nach Hause brachte, meinen Eltern vorlegen. Die Kriterien waren: Keine Hexen, keine Zauberer, keine Wichtel oder Zwerge, keine Feen, keine Märchen, keine Gespenster und keine frechen Kinder, wie zum Beispiel „Pippi Langstrumpf“. Das blieb so, bis ich dann in die fünfte Klasse kam. Ab dieser Zeit las ich die Bücher, die mir gefielen, in der Pause und in den Hohlstunden und entzog mich so der Kontrolle meiner Eltern.

Der Übergang von der Grundschule in die nächste Schulstufe löste große Diskussionen im Familienkreis aus. Meine Geschwister wurden von meinen Eltern noch auf das Gymnasium geschickt, aber nach vier Jahren weggeholt, um eine Lehre zu machen und sich auf den Pionierdienst vorzubereiten. Allerdings waren mein Bruder und meine Schwester bessere Rechner. Das war das Argument meiner Eltern gegen meine Lehrer, die empfahlen, mich auf das Gymnasium gehen zu lassen. Da ich ja in Mathematik ohnehin versagen würde, schickte man mich lieber gleich auf die Hauptschule. Die Wahrheit ist, dass ich mathematische Dinge nur mit größerer Zeitverzögerung kapiere, dass mich eine schlechte Note in Mathe ganz und gar nicht gestört hätte und dass es unweigerlich auf das Jahr 1975 zu ging. Und in Harmagedon würde mir die Matura (Abitur) ganz sicher nichts nützen. Also entschieden sich meine Eltern für die Hauptschule. Nachdem sich meine Enttäuschung etwas gelegt hatte, freute ich mich auf die neue Schule und vor allem, dass ich eine zweite Zeugin in meiner Klasse hatte. Endlich eine Freundin! Aber jetzt war ich im Zugzwang. Die Eltern meiner Freundin waren noch nicht getauft und von mir, als Tochter eines Ältesten erwartete man, dass ich nicht nur mit gutem Beispiel voranging, sondern auch noch meine Freundin beschützte. Mit einem Wort, ich sollte das Musterkind spielen. Leider war ich das gewöhnt, denn unsere Familie hatte immer das große Vorbild zu sein. Wenn ich als Kind und später als Teenager mit anderen Schwestern oder Brüdern im Predigtdienst war, erwarteten nicht wenige von mir, dass ich mich durch besondere Gewandtheit auszeichnete. „Na ja du, mit solchen Eltern, du kannst das ja.....................“, hieß es dann. Oder auch: „Was, DU weißt das nicht.....?“ . Nach Möglichkeit versuchte ich in der Zukunft solchen Kandidaten aus dem Weg zu gehen und meinen Dienst mit gestandenen Pionieren zu verabreden. Bei denen konnte ich dann schon auch einmal eine Schwäche haben und zum Beispiel vereinbaren, dass ich nur nach jeder zweiten Türe dran wäre, oder nur dann „ zu reden“ brauchte, wenn mein Gegenüber eine Frau wäre. Vor Männern hatte ich einfach Angst. Mit denen sollten andere „reden“.

Irgendwann in dieser Zeit bekam ich Beklemmungsgefühle. Es war ein schreckliches Gefühl, so als ob ich nicht tief genug einatmen könnte um Luft zu bekommen. Meine Mutter fragte mich, warum ich immer so schnaufen würde. Sie war besorgt, als ich es ihr erzählte und ging mit mir zu einer Lungenfachärztin. Die Ärztin untersuchte mich gründlich, machte Röntgenaufnahmen und besprach sich dann längere Zeit mit meiner Mutter. Als mein Vater mittags zum Essen nach Hause kam, legte meine Mutter die Karten auf den Tisch. Zunächst einmal war sie sehr empört. Die Ärztin hatte ihr geraten, mit mir einen Kinderpsychologen aufzusuchen, da sie keine körperlichen Abnormitäten feststellen könne. Ihrer Meinung nach wäre dieses ständige Gefühl der Atemnot psychosomatisch. Meine Eltern waren in heller Aufregung. Einen Psychologen zu Rate ziehen? Auf keinen Fall! Was könnte ein Psychologe schon helfen! Und überhaupt, es gibt keinen besseren Ratgeber als Jehova und die Bibel. Ein Psychologe würde womöglich noch dagegen zu Felde ziehen (was er mit Sicherheit getan hätte). Nein, diesen Rat würde man nicht befolgen und ich sollte einfach aufhören, so fürchterlich zu schnaufen. Ich wüsste ja jetzt, dass meine Lunge in Ordnung wäre und ich sollte einfach ganz normal weiteratmen. Wahrscheinlich käme ich nur in die Pubertät und was ich als Beklemmung empfände, wäre das Wachsen meiner Brüste, also alles ganz normal. Am besten sollte ich nicht mehr darauf achten, dann würde sich alles von alleine wieder regeln. Als meine Mutter von einem Psychologen sprach, hatte ich schon die Hoffnung, dass ihnen endlich einmal jemand sagen würde, dass ich Freunde brauche, mit denen ich spielen und einfach Kind sein darf. Gleichzeitig schämte ich mich für diesen Gedanken, denn ich wollte etwas für mich fordern, was nach der WTG-Lehre nicht in Übereinstimmung mit göttlichen Grundsätzen war und noch dazu in Auflehnung gegen meine Eltern. Mein innerer Konflikt, der mich viele Jahre begleiten sollte, war aufgebrochen.

Nach der fünften Klasse verließ mich meine Freundin und zog mit ihren Eltern in eine andere Stadt. Aber inzwischen gab es noch ein Mädchen in unserer Versammlung, die dann meine Freundin wurde. Sie war zwar zwei Jahre jünger als ich, aber durch sehr schwierige Familienverhältnisse geprägt, reif und ernst über ihr Alter hinaus. Diese Freundschaft hielt sehr viele Jahre bis sich unsere Wege durch meinen Ausstieg endgültig trennten. Aber noch war es nicht so weit. Erst einmal genossen wir unsere Freundschaft. Ein anderes Ereignis bahnte sich an und sorgte dafür, dass ich erstmals in einen wirklich großen Zwiespalt geriet. Ich wusste, dass gegen einen Freund der Familie eine Klage vor dem Rechtskomitee der Versammlung lief, die für ziemlichen Wirbel sorgte. Mein Vater war als Mitglied des Komitees ebenfalls daran beteiligt . Selbstverständlich erfuhren weder meine Mutter noch ich, was wirklich passiert war. Aber was allen in der Versammlung nach kurzer Zeit mitgeteilt wurde, war der Gemeinschaftsentzug des Betreffenden. Dieser nun Ausgeschlossene, ich nenne ihn einfach H., war aber der beste Freund meines Bruders und hatte meinen Bruder als Jugendlichen wie einen Familienangehörigen bei sich aufgenommen. Er nahm ihn in sein Geschäft zur Ausbildung und behandelte ihn wie einen eigenen leiblichen Bruder, den er selbst nicht hatte. Er war in unserem Haus aus und ein gegangen, wie jemand, der zur Familie gehört . Nun war ihm die Gemeinschaft entzogen worden und nach seiner Meinung völlig zu Unrecht. Berufungskomitees wurden gebildet und schließlich landete die Angelegenheit im Bethel. Dort wurde der Richterspruch bestätigt. Da wurde eines Tages die Türe aufgerissen, während meine Eltern und ich beim Mittagessen saßen und H. stand in der Küche. Er sagte meinem Vater seine Meinung laut und deutlich ins Gesicht, während ich kein Wort von dem verstand, was hier vorging. Aber eines hatte ich verstanden: „Du wirst deinen Sohn verlieren und auch deine Tochter!“ Ich war so erschrocken, dass ich am ganzen Körper zitterte. Mein Vater tat nichts, um uns die Situation zu erklären, sondern verbot meiner Mutter und mir, zu irgend jemandem darüber zu sprechen. Einen oder mehrere Tage danach - das weiß ich nicht mehr so genau- kam ich von der Schule nach Hause und sah meine Schwägerin Koffer aus dem Haus tragen. Durch die offene Küchentüre hörte ich meinen Bruder sehr laut und sehr zornig auf meinen Vater einreden. Mein Bruder und meine Schwägerin hatten bis dahin bei uns im Haus gewohnt. Nun zogen sie aus, in das Haus von H. Das war der offizielle Bruch meines Bruders mit seinem Elternhaus, ein Bruch, der nie wieder gekittet werden sollte. Kurz darauf wurde auch meinem Bruder die Gemeinschaft entzogen und ich verlor jeden Kontakt zu ihm. Damals war ich zwölf Jahre alt.

Diese Ereignisse belasteten meine Eltern und mich sehr und ich wurde in dieser Zeit sehr ernst. Ich wollte mich anstrengen und eine gute Verkündigerin werden, um mehr mit meinen Eltern zusammen zu wachsen und ihnen eine Freude zu sein , nach dieser bösen Geschichte. So kam es, dass ich im Alter von dreizehn Jahren den Entschluss fasste, mich taufen zu lassen. Ich begann, mein Studium wirklich sorgfältig durchzuführen und in den Zusammenkünften ernsthaft zuzuhören , mich um die älteren Schwestern und Brüder in der Versammlung zu kümmern und fleißig im Predigtdienst zu sein. Von allen Seiten bekam ich Lob und Zustimmung und das tat mir unglaublich gut. Ich freute mich sehr darüber. Leider wurde meine Freude sehr bald wieder getrübt und das durch zwei Entscheidungen meines Vaters, die ich nicht nachvollziehen konnte.

Meine Lehrer und die Schulärztin hatten meinen Eltern immer wieder zugeredet, dass es für mich gut und notwendig wäre, auch außerhalb der Schule Sport zu treiben und so brachte meine Mutter mich zur Probe in den Sportverein. Ich freute mich unbändig und war mit vollem Eifer bei der Sache. Sport machte mir auch in der Schule großen Spaß und Geräteturnen liebte ich über alles. Der Trainer sah das auch und brachte meine Eltern tatsächlich dazu, den Mitgliedsantrag zu unterschreiben. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Endlich durfte ich etwas tun, das auch mir Spaß machte. Allerdings verboten meine Eltern ausdrücklich meine Teilnahme an Wettbewerben und mir verboten sie, in der Versammlung über meine Vereinsmitgliedschaft zu sprechen. Der Trainer akzeptierte das „Wettbewerbsverbot“ vorläufig und meinte zu mir, dass er das schon noch mit meinen Eltern besprechen würde. Bald hatte ich mein Mitgliedsbüchlein in der Hand und brachte es glücklich nach Hause. Dann kam die große Enttäuschung: Mein Vater blätterte das Büchlein durch und fand irgendwo in der Vereinssatzung den Hinweis darauf, dass der Verein durch die Arbeiterpartei und die Gewerkschaft gefördert würde. Er betrachtete es als Verletzung der christlichen Neutralität, wenn ich weiterhin in diesem Verein bleiben würde. Den Austrittsbrief schrieb mein Vater, aber ich sollte dem Trainer die Geschichte mit der verletzten Neutralität erklären und das konnte ich nicht. Mein Vater erwartete das aber von mir, denn schließlich war ich getauft und sollte ab jetzt selbst für meinen Glauben einstehen. Nur verstand ich überhaupt nicht, warum ich meine christliche Neutralität durch die Mitgliedschaft in einem Sportverein verletzen würde, der zufällig durch eine politische Partei gefördert wurde. Also wiederholte ich meinem Trainer schlecht und recht die Worte meines Vaters, ohne deren Sinn zu begreifen. Der Trainer wurde sehr wütend über meine absurden Erklärungen, aber ich glaube, er hatte begriffen, dass das nicht meine Worte waren. Er war mit Sicherheit wütend über eine Sekte, die Kinder in die Situation zwingt, gegen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu handeln, weil ihre Eltern das so wollen und obwohl sie den Grund dafür nicht verstehen. Aber ich fühlte mich trotzdem sehr schlecht. Denn ich hatte das Gefühl, meinen Glauben und Jehova absolut unwürdig vertreten zu haben.

Am Ende des betreffenden Schuljahres mussten meine Eltern und ich darüber entscheiden, welchen weiteren schulischen Weg ich einschlagen sollte. Es gab mehrere berufsbildende Schulen und Gymnasien, die ich gut erreichen konnte. Letzten Endes entschieden aber meine Eltern über meine weitere Ausbildung und ich bekam kein Mitspracherecht. Ich musste eine dreijährige „Fachschule für wirtschaftliche Frauenberufe“ besuchen, die man im Volksmund „Knödelakademie“ nannte. Diese Schule hatte den Vorteil, dass ein Mädchen dort nicht nur kochen, waschen, bügeln und putzen lernte, sondern auch, sich in einem Büro nützlich zu machen, also die beste Vorbereitung auf den Pionierdienst. Einen weiteren Vorteil sahen meine Eltern darin, dass es sich dabei um eine reine Mädchenschule handelte. Der Besuch einer Handelsschule wäre auch möglich gewesen, aber das lehnten meine Eltern kategorisch ab. Dort müsste ich den ganzen Tag mit Jungs verbringen und das wäre einfach zu gefährlich für mein Glaubensleben. Daß ich beide Schulen nicht wollte, interessierte sie nicht. Das Haupt der Familie hatte seine Entscheidung getroffen und ich hatte sie zu akzeptieren. Und ich wusste nicht, wie ich mich wehren sollte, ohne als Rebellin dazustehen. An diesem Tag begann ich das erste Mal an meinem Leben zu verzweifeln und daran zu denken, es zu beenden. Nur wie Georg Danzer das in einem seiner Lieder so treffend bemerkt:“Sterbn tuat so weh.“

Das erste Jahr in dieser Schule war ein Martyrium. Mehr als einmal kam ich weinend nach Hause und schwor, dass ich diese Schule nicht beenden würde. Es mag Leute geben, die Spaß daran haben, in der Gastronomie oder im Hotel zu arbeiten, kochen und servieren zu lernen, oder die Arbeit eines Zimmermädchens zu tun, aber ich gehörte nicht zu ihnen. Ich wollte etwas ganz anderes. Dementsprechend fiel es mir sehr schwer, mich jeden Tag aufs Neue durch die Stunden zu quälen. Aber meine Eltern „ermunterten“ mich immer wieder, durchzuhalten. Denn „was man beginnt, sollte man auch beenden“. Ich begann, in meinem eigenen kleinen Zimmer im Dachgeschoss, die Türen zu verrammeln und stundenlang zu tanzen, zu einer Musik, die auf jeden Fall die Missbilligung meiner Eltern hatte. Oder ich nahm das Fahrrad und flüchtete über die Landstraßen hinaus in den Wald. Mein Rückzug ganz tief in mich hinein hatte begonnen. Ich lebte in drei Welten, die ich ziemlich mühelos wechseln oder auch verbinden konnte: In mir, in der Zeugenwelt und in der Welt in der sich meine Schule befand, meine Klassenkameradinnen und alle anderen Menschen. Und mein Gewissen nahm mich auseinander und kennzeichnete mich als Rebellin und meine Seele konnte nicht anders, als sich wenigstens in einem geringen Ausmaß Gutes zu tun. So tanzte ich mir meinen Frust von der Seele, oft bis tief in die Nacht hinein, und wusste doch, dass dieser Tanz ein Höllentanz war, weil er mir auch nicht weiter half. Meine Situation änderte sich dadurch in keiner Weise. Die Flucht in eine andere Welt, in die Welt der Musik, gab mir aber die Kraft zum Weiterleben. Denn seit dieser Zeit plagten mich immer öfter Selbstmordgedanken, die mich mein Leben lang begleiten sollten.

Das dritte und letzte Schuljahr in dieser unsäglichen Anstalt begann für mich mit einem harten Schlag. Ich hatte eine neue Lehrerin, mit der ich gleich am ersten Tag einen Zusammenstoß hatte und einen neuen Stundenplan, der mich das Fürchten lehrte. So viele Stunden Kochen und Servierkunde würde ich niemals überstehen. Ich kam nach Hause und erklärte meinen Eltern, dass für mich diese Schule beendet wäre. Lieber würde ich Steine klopfen, als noch einen einzigen Tag in dieser Schule zu verbringen. Diesmal hielt ich Wort. Am nächsten Tag blieb ich zu Hause und meine Mutter ging in die Schule. Sie war einigermaßen verzweifelt, aber sie wollte mich tatsächlich abmelden. Nur ließ das die Direktorin nicht zu. Man sollte mich doch noch überreden oder einen anderen Ausweg finden, vielleicht einen Übertritt in die fünfjährige Variante der Schule, um mit der Matura (Abitur) abzuschließen, aber bitte, bitte, auf keinen Fall die Schule abbrechen, sondern beenden. Am selben Tag kam das Kreisaufseherehepaar und quartierte sich wie immer bei uns ein. Meine verzweifelte Mutter schüttete am Frühstückstisch ihr Herz bei ihnen aus. Zu meinem großen Pech hatte die liebe Schwester die gleiche Schule besucht, die mir das Leben so schwer machte und konnte überhaupt nicht verstehen, was ich daran auszusetzen hätte. Der Kreisaufseher selbst versuchte an meine Vernunft zu appellieren und stellte mir vor, dass es doch ganz uneffektiv wäre, dieses eine Jahr nicht durchzustehen. Immerhin hätte ich dann einen ordentlichen Abschluss. Alle redeten auf mich ein, eine ganze Woche lang. Ich versuchte noch einmal meine Eltern für meinen ursprünglichen Wunsch zu gewinnen, nämlich, ein musisch ausgerichtetes Gymnasium zu besuchen, aber sie hatten alle Ausreden parat, warum das nicht möglich sei. Schließlich war es wieder mein Vater, der das Drama beendete, indem er entschied, dass ich das Fahrgeld zu meiner Traumschule nicht bekommen würde und auch sonst keine Unterstützung seinerseits. Um mich durchzusetzen, hätte ich wahrscheinlich das Jugendamt einschalten und über meine Eltern Klage führen müssen. Davor scheute ich zurück, obwohl ich sehr wohl darüber nachgedacht hatte. Ich hätte ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern in Kauf nehmen müssen und das Tag für Tag. Was die Versammlung dazu gesagt hätte, wagte ich mir damals gar nicht auszudenken. Die Kraft, mich der Ächtung seitens all der Menschen, die mein Leben von Kind an begleitet hatten, auszusetzen, hatte ich einfach nicht. Also ging ich wieder zur Schule. Und ich habe es nicht ganz bereut. Denn die Lehrerin, mit der ich anfangs aneinander geraten war, entpuppte sich als der erste Mensch in meinem Leben, der mir wirklich zuhörte. Und sie bestärkte mich in meinem Entschluss, wieder Kontakt zu meinem Bruder zu suchen. Ich war sehr traurig, als sie nur ein Jahr nach Beendigung meiner Schulzeit starb. Sie war so, wie man sich eine Lehrerin vorstellt, die für ihre Schülerinnen da ist. Sie war eine großartige Frau.

Nun stand ich also da, mit einem Schulabschluss, den ich nicht gewollt hatte und sah mich nach einer Arbeit um. Ich fand nach kurzer Zeit eine Anstellung und stürzte mich ins Berufsleben. Sehr schnell bemerkte ich, dass ich riesige Probleme im Umgang mit Menschen hatte, die im Geschäftsleben standen, ganz besonders mit Männern. Ich hatte zum Teil große Scheu vor ihnen und besonders schwer fiel es mir, zu telefonieren. Es ging mir dabei oft so wie an den Haustüren im Predigtdienst, dass ich mir insgeheim wünschte, es möge keiner daheim sein, oder wenn, dann wenigstens kein Mann. Mir wurde bewusst, dass ich mich zu sehr in mich selbst zurückgezogen hatte und dass mir einige wichtige Umgangsformen einfach fehlten. Zum Glück hatte ich ausgesprochen liebenswerte Kollegen, die mich in meiner Unerfahrenheit auffingen und mir jeden Tag aufs Neue halfen, bis ich sicherer geworden war. Trotzdem verließ ich diesen Arbeitsplatz nach weniger als einem Jahr, weil ich es zu Hause einfach nicht mehr aushielt. Ich wollte raus, weit weg. Die Firma konnte mir eine Stelle in Deutschland anbieten und ich griff zu.

Zunächst wohnte ich bei meiner Großmutter, (die keine Zeugin war) bis ich ein eigenes kleines Zimmer fand. Dann lernte ich meinen zukünftigen Mann kennen. Er war ein anderer Mensch, ganz anders, als alle, die ich bis dahin kannte. Nicht nur, dass er kein Zeuge war, er war ein Fremder in diesem Land, sogar in diesem Erdteil und ich hatte das riesengroße Bedürfnis, fremde Menschen kennen zu lernen. Er sprach anders, er sah anders aus und er dachte anders. Ich fand es faszinierend, wie sich plötzlich eine andere Welt vor mir öffnete in der Gestalt dieses Fremden. Er sagte, dass er mich liebe und das genügte mir, denn ich hatte mich nie für liebenswert gehalten. Bald verbrachten wir auch unsere Nächte zusammen. Und dann geschah etwas, das mir einen ziemlichen Schrecken einjagte:

Überbehütet aufgewachsen, hatte ich noch nie in meinem Leben mit betrunkenen Menschen zu tun gehabt. Aber ich hatte sehr wohl die Probleme mancher Schwestern in unserer Versammlung mitbekommen, die sie mit ihren alkoholisierten Ehemännern hatten. Meine Freundin hatte mit ihrem Vater ein besonders beängstigendes Erlebnis gehabt und ich hatte aufgrund dessen Angst vor Betrunkenen. An einem Abend ging mein Freund mit mir auf das alljährlich stattfindende Volksfest und so saß ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Bierzelt. Wir trafen dort auf seine Arbeitskollegen und es wurde zunächst einmal eine ganz lustige Runde. Aber je später es wurde, desto betrunkener wurden die Menschen um mich herum und auch mein Freund konnte nicht mehr ganz geradeaus gehen. Es begann mich zu ekeln und ich bekam furchtbare Angst. Plötzlich begannen einige Männer sich zu streiten und nach kurzer Zeit war eine richtige Schlägerei im Gange. Mein Freund mischte sich ein und bekam ein zerschlagenes Bierglas über den Kopf gezogen. Sein Gesicht war voller Blut. Er lief völlig orientierungslos davon und konnte erst nach einiger Zeit von der Polizei gefunden und ins Krankenhaus gebracht werden. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er gut versorgt war, fuhr ich zu Bekannten und verbrachte den Rest der Nacht dort. Es war eine schreckliche Nacht, voller Alpträume. Und dann begann mein Gewissen zu arbeiten. Hatte man mich nicht immer vor der schlechten Welt und ihren schlechten Menschen gewarnt ? War das, was ich hier erlebt hatte, nicht genau das, was man mir immer prophezeit hatte, wenn ich Gemeinschaft außerhalb des Volkes Gottes suchen würde ? Jetzt hatte ich gesehen, was passiert, wenn man Jehova verlässt. Es war alles einzig und allein meine Schuld. So schnell wie möglich wollte ich den Kontakt zu meiner Versammlung wieder herstellen und die Zusammenkünfte besuchen. Das tat ich dann auch. Aber jetzt begann mein Gewissen mich anzuklagen, weil ich mit meinem Freund verbotenerweise geschlafen hatte. Es plagte mich so sehr, dass ich nicht anders konnte, als mich einer Schwester anzuvertrauen, die ich bei meinen seltenen Versammlungsbesuchen kennen gelernt hatte. Sie hörte mir zu und als ich meinen Bericht beendet hatte, war ihre einzige Antwort: „ Du musst mit den Ältesten sprechen. Ich rufe sie gleich an.“ So saßen mir knapp zehn Minuten später zwei Männer mit ernsten Gesichtern gegenüber, vor denen ich am liebsten weggelaufen wäre. Aber brav und gehorsam wie ich erzogen war und voll schlechten Gewissens, blieb ich sitzen und versuchte die Kälte zu ertragen, die mir mit jedem ihrer Worte entgegenschlug. Man vereinbarte einen Termin mit mir und ließ mich dann nach Hause gehen.

In den nächsten Tagen konnte ich kaum essen und schlafen. Die anberaumte Komiteesitzung hing über mir wie ein Damoklesschwert und als es dann so weit war, hatte ich das Gefühl zu meiner Hinrichtung zu gehen. Es wurde tatsächlich sehr, sehr schlimm. Ich hätte niemals in meinem Leben erwartet, dass liebevolle Älteste, die versuchen jemanden wieder auf den rechten Weg zu bringen, derartig grausame Fragen stellen könnten. Mein Leben lang hatte ich meine Brüder nur nett und freundlich gesehen. Was ich in diesen Stunden erlebte, gleicht einer Vergewaltigung. So nackt und ausgezogen , so erniedrigt und gedemütigt, fühlt sich eine Frau nach einer tatsächlichen Vergewaltigung. Ich musste ihnen bis ins kleinste intimste Detail gehende Fragen beantworten und am liebsten wäre ich an Ort und Stelle in den Boden versunken. Es war Folter pur. Ich erspare es mir, diese Ausfragerei hier wörtlich wiederzugeben, aber die Erinnerung daran lässt mich immer noch zittern. Damals war ich eben achtzehn Jahre alt geworden und alleine, ohne Beistand, drei Männern ausgeliefert, die ich kaum kannte und die versuchten mir zu erzählen, dass sie mir nur helfen wollten. Sie ließen aber dabei jegliches Anzeichen von Wärme vermissen. Und mein Gewissen sagte mir immer wieder: „Du bist selbst schuld. Du hast den Fehler gemacht, dann musst du jetzt auch die Folgen tragen.“ An diesem Tag ist in mir dieses übergroße, noch kindliche Vertrauen in meine Brüder und ihr Gerede von der liebevollen Hilfe, die sie den „Schafen“ anbieten, zerbrochen. Trotzdem war das noch kein Tor zum Ausstieg für mich. Man vergab mir großzügig und nicht ohne darauf hinzuweisen, wie großzügig das wäre, denn man kannte mich ja kaum und es wäre gut möglich, dass meine Reue nur gespielt war. Als guten Rat gab man mir auf den Weg, wieder nach Hause zu meinen Eltern zu gehen. Aber davor scheute ich zurück. Das wollte ich nicht.

Wenige Monate nach dieser Episode, starb meine Großmutter. Meine Verwandten hätten es gerne gesehen, wenn ich die verwaiste Wohnung übernommen hätte und mein Onkel sprach darüber mit dem Vermieter. Der hatte es mir aber übelgenommen, dass ich nicht bei meiner Großmutter wohnen geblieben war und schlug die Bitte, die Wohnung an mich zu vermieten, ab. Das war ein Grund für meine Mutter, mir deswegen ebenfalls Vorwürfe zu machen. An diesem Punkt explodierte die Mischung von Schuldgefühlen, Schuldzuweisungen, Schmerz und Zorn in meinem inneren Dampfkessel und ich verlor völlig die Nerven. Ich schrie und tobte und war so außer mir, dass ich bereits fünf Minuten danach nicht mehr wusste, was ich alles herausgeschrieen hatte. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, neben mir zu stehen und mir selbst zuzuhören. Ich konnte mich an kein einziges Wort mehr erinnern, aber ich weiß, dass es der ganze Frust und der angestaute Zorn meiner Kindheit war. Meine Tante sah mich an, als ob ich ein Alien wäre und meine Mutter schämte sich in Grund und Boden. Denn ich hatte gerade eben fürchterliche Schmach auf Jehova, seine Versammlung und meine Eltern gebracht. Das sagte sie mir auch am nächsten Tag. Und ich hatte wieder eine Schandtat mehr auf meinem Kerbholz, derentwegen ich mich als schlechter Mensch fühlen konnte.

Irgendwann in dieser traurigen Zeit lief mir mein Freund wieder über den Weg, zu dem ich nach der Komiteesitzung jeden Kontakt abgebrochen hatte. Er war sehr liebevoll und wirkte beruhigend auf mein aufgewühltes Gemüt. Nur kurze Zeit später beschlossen wir, zu heiraten. Die Ältesten hatten mich aber in der Versammlung vermisst und baten mich zu einem Gespräch. Dabei erzählte ich ihnen von meinem Entschluss und während des Gesprächs ließ ich mir den Satz entlocken: „Ich bin gar nicht mehr so sicher, dass das die Wahrheit ist.“ Dieser Satz wurde als Aufhänger benutzt um festzustellen, dass ich die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas verlassen hätte. Eine schriftliche Erklärung darüber, wie sie von mir gewünscht wurde, hatte ich niemals abgegeben.

Nun war ich also ausgeschlossen. Das war ein Zustand, den ich immer gefürchtet hatte und der für mich der schrecklichste auf der Welt war. Nur Sterben fand ich schlimmer. Ich musste mein Leben unbedingt wieder ordnen und die Heirat war ein Teil von dieser Ordnung, damit ich vor Jehova wieder ein gutes Gewissen haben konnte. Nachts quälten mich furchtbare Alpträume von Harmagedon, von Erdbeben und Tod und Vernichtung und die allgegenwärtigen Dämonen meiner Kindheit holten mich wieder ein. Sogar noch nach der Hochzeit quälten sie mich und oft glaubte ich in den dunklen Augen meines Mannes den Teufel persönlich zu sehen. Er wusste nicht genau, was in mir vorging und was mich so quälte, aber er konnte sehen, dass es mir nicht gut ging. Nur helfen konnte er mir nicht. Gegen die Wachtturmdämonen hatte er keine Gewalt.

In unserer Ehe stellten sich sehr bald Probleme ein, die ihren Grund nicht nur in meiner religiösen Herkunft hatten, sondern auch in den allgemeinen kulturellen Unterschieden. Ich erlitt eine Fehlgeburt, die ich dem Verhalten meines Mannes anlastete , gleichzeitig aber auch als Strafe Jehovas für meinen Ungehorsam ansah. Da wir beide nie offen darüber sprachen und das Problem ungeklärt blieb, begann es, unser Verhältnis langsam aber sicher zu zerstören. Ich sah mich selbst zu diesem Zeitpunkt im schlechtesten Licht, als durch und durch schlecht und schmutzig. Ich hatte zu wenig gehorcht, zu wenig studiert, zu wenig für Jehova getan, sonst wäre es nicht so weit gekommen. Der Himmel war nicht mehr so blau, das Sonnenlicht nicht mehr so hell und die Welt nicht mehr so schön, denn ich hatte das Gefühl, das alles nicht mehr genießen zu dürfen. Unbedingt musste ich diesen Zustand beenden und wieder die Gunst Jehovas finden. Meine Eltern freuten sich über so viel Reumütigkeit und bestärkten mich in meinem Vorhaben. So wurde ich drei Jahre nach meiner Hochzeit wieder in die Versammlung aufgenommen.

Mein Mann war alarmiert. Als ich dann wie selbstverständlich anfing unsere Tochter und danach auch unsere anderen zwei Kinder mit zu den Zusammenkünften zu nehmen, wurde er böse. Er war zu gutmütig um ernsthaft etwas dagegen zu unternehmen, aber die ständigen Auseinandersetzungen belasteten unsere Beziehung immer stärker. Manchmal fielen auch böse Worte. Ich tat, was ich immer getan hatte: resignieren, hinnehmen, schweigen und nach innen flüchten. Es gab ja auch niemanden, mit dem ich über meine Probleme hätte sprechen können. Von allen, ob von meinen Eltern, der Versammlung oder auch meiner Verwandtschaft, konnte ich nur eines als Erwiderung erwarten: „ Wir haben dich ja gewarnt. Nun musst du eben durchhalten und sehen wie du fertig wirst.“ Und darauf beschränkte sich dann auch mein Leben: Auf das Durchhalten, das mit jedem Jahr, das verging, schwerer und schwerer wurde.

Gerade in der Erziehung der Kinder tat sich bei mir aber wieder der große innere Konflikt auf, der in meiner Kindheit bereits entstanden war. Meine Kinder begannen, die selben Fragen zu stellen, die ich meinen Eltern gestellt hatte: „Wird Jehova in Harmagedon auch die Kinder vernichten?“ „Warum tut er das? Die können doch nicht s für ihre Eltern!“ „Was ist mit den Menschen dort wo keiner predigen kann?“ „Wenn die nichts hören, können sie doch nichts dafür, dass sie keine Zeugen Jehovas sind?“ „Was ist, wenn ich mich in einen Weltmenschen verliebe und mit dem dann nicht zusammen sein darf? Das tut doch furchtbar weh, das ist doch schrecklich!“ „Wird Jehova dann auch Papa vernichten? Und Tante S. und Onkel B. und ... (den Rest der Familie) ?“ Und last but not least, die Krönung aller „Huhn-oder-Ei-Fragen“: „Wer hat eigentlich Jehova erschaffen?“ Ich versuchte, meinen Kindern Toleranz und Respekt gegenüber jeder Religion beizubringen, weil ich das für richtig und anständig halte und gleichzeitig musste ich ihnen erzählen, dass Gott diese Toleranz nicht besitzt, weil er alle „falschen“ Religionen vernichten wird. Ich wollte, dass meine Kinder lernen, Menschen zu lieben -und sie tun das- ungeachtet der Herkunft oder der Konfession. Gleichzeitig sollte ich sie davor warnen, zu enge Freundschaften mit „Feinden Gottes“ zu schließen. Sie mussten somit ihre Freunde als Todeskandidaten betrachten. Dieser Spagat zwischen meinen natürlichen, menschlichen Empfindungen und der Wachtturm-Denke kostete mich immer mehr Kraft. Ich spürte immer mehr, wie absurd diese Denkweise ist und in mir stieg große Verzweiflung auf. Ich sah, wie schön die Kinder es fanden, wenn ihr Geburtstag gefeiert wurde oder sie Weihnachten in einer anderen Familie miterleben durften. Es wäre für mich undenkbar gewesen, meinen Kindern eine Ausbildung aufzuzwingen, die sie nicht wollten. Sie kamen mit vielen Kindern zusammen um zu spielen und ich wollte ihnen alle Freiheit gönnen, die ich nicht gehabt hatte. Auf der anderen Seite war da immer die Stimme die maßregelte und mir prophezeite, dass meine Kinder so niemals Diener Jehovas sein würden und dass sie in Harmagedon ihr Leben verlieren könnten. Das wäre dann einzig und allein meine Schuld . Trotzdem sah ich sehr wohl, dass auch mein Mann das Recht besaß, seine Kinder auf seine Weise zu erziehen, ein Recht, das ich ihm nicht absprechen durfte. Ich sah mehr und mehr, dass die Religion meiner Kindheit, die Rechte der Kinder und die Menschenrechte überhaupt, mit Füßen tritt und in keiner Weise waren mir die Anweisungen des „Familienbuches“ eine Hilfe, um Frieden und Harmonie in unsere Familie zu bringen. Sie brachten mich eher noch mehr zur Verzweiflung in ihrer grenzenlosen Naivität und Engstirnigkeit. Trotzdem konnte ich immer noch nicht sehen, dass dieser Sektenglaube eben nicht die „Wahrheit“ ist. Eigentlich wollte ich aus dieser Zwangsjacke heraus, aber die Harmagedon-Angst zusammen mit der Angst, die Kinder könnten ihr Leben verlieren, hielt mich immer noch gefangen und vernebelte mir den Sinn.

Ich erkrankte an Krebs. Für eine kurze Zeit führte diese Erkrankung meinen Mann und mich wieder mehr zusammen und zum Glück konnte ich die Krankheit besiegen. Danach folgte aber ein Schlag nach dem anderen: Meine Mutter erkrankte an Leukämie, mein Vater litt zunehmend an Demenz und meine Geschwister und ich mussten uns mit der Frage der Pflege meiner Eltern befassen. Da meine Schwester und ihr Mann in der Nähe meiner Eltern lebten und nicht berufstätig waren, blieb der Löwenanteil an ihnen hängen. Meine Schwester gab vorübergehend den Vollzeitdienst auf, um unsere Eltern pflegen zu können. Sie leistete Enormes in dieser Zeit und ich weiß, wie schwer ihr das fiel, denn sie ist kein geduldiger Mensch. Altenpflege erfordert aber manchmal noch mehr Geduld als Kinderpflege. Sie hat dafür meine Hochachtung und meinen Respekt. In dieser Zeit wünschte sie sich von der Heimatversammlung meiner Eltern etwas mehr Unterstützung, die ihr aber letztlich versagt blieb. Allerdings gab es ein paar liebevolle Schwestern und Brüder, treue Seelen, die unsere Eltern regelmäßig besuchten und auch zu Spaziergängen abholten. Es blieb mir aber eine Aussage meines Bruders im Gedächtnis, die ich auch weitestgehend genauso gelten lassen muss: „Andere Kirchen unterhalten caritative Einrichtungen um Menschen in der Altenpflege zu unterstützen. Aber Zeugen Jehovas haben ja Wichtigeres zu tun. Die müssen dauernd nur von Haus zu Haus rennen.“

Meine Konfliktsituation belastete mich immer mehr und ich sah auch, dass meine Ehe am Ende war. Ich selbst wollte am liebsten aus dieser Beziehung flüchten, aber ich konnte nicht, denn dann wäre ich nach den Gesetzen der WTG mein Leben lang nicht mehr für eine neue Partnerschaft frei gewesen. Außerdem wollte ich den Kindern nicht schaden und keine Schmach auf Jehova bringen. Die Situation wurde unerträglich und mein Gebet bestand fast nur noch in der Bitte an Jehova, mich anderntags nicht mehr aufwachen zu lassen. Meine Tage begannen damit, dass ich mich weinend ins Badezimmer schleppte und mir selbst unter Tränen gut zuredete, dass ich diesen Tag schaffen würde. Abends weinte ich mich in den Schlaf und dachte kurz davor noch darüber nach, wie tief die Pulsadern wohl liegen und ob ich es schaffen würde, mit einem Küchenmesser...

Eines Tages konfrontierte mich mein Mann damit, dass er ausziehen würde. Ich war erleichtert. Endlich hatte diese Qual ein Ende. Als ich dann einige Wochen später erfuhr, dass er mit einer anderen Frau zusammen sei, war ich beinahe glücklich. Das war die Lösung, die ich selbst nicht herbeiführen durfte. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie schizophren eine solche Vorgabe ist, sich nur bei Ehebruch wieder verheiraten zu dürfen und wie sehr sie Menschen dazu bringt, zweispurig zu denken und zu handeln. Mir war auch bewusst, wie sehr mein Mann in unserer Ehe gelitten hatte und ich begann mehr und mehr die Schuld in den Anweisungen der WTG zu suchen. Dabei hatte ich immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich diesen Verdacht überhaupt aufkommen ließ. Ich sah immer klarer, dass ich mich von den Lehren der WTG lösen musste, aber ein Teil meines Gehirns wehrte sich noch vehement dagegen. Es gelang mir einfach nicht, den Zug meines Lebens von dieser Schiene zu bringen. Mir fehlte die Weiche dazu und ich konnte sie nicht sehen und nicht finden. Verzweifelt versuchte ich immer noch, mich an etwas festzuklammern, das ich in Wirklichkeit längst nicht mehr wollte. Die Depressionen , die mich schon längere Zeit plagten, wurden immer heftiger und eines Tages konnte ich mich kaum auf meine Füße stellen. Es fiel mir unendlich schwer und ich musste um jeden kleinen Schritt mit aller Kraft kämpfen. Dabei hatte ich doch das ständige Kämpfen so unendlich satt.

Unter Einsatz von Medikamenten kam ich wieder so weit auf die Beine, dass ich mich in eine Therapie begeben konnte. Und während dieser Therapie explodierte der Kessel endgültig. Der Druck, der sich seit meiner Kindheit in mir angestaut hatte, ließ sich nicht mehr länger niederhalten. Er überschwemmte mich mit einem unendlichen Zorn, der mir half, meine Ängste zu überwinden und das zu tun, was ich seit meinem zehnten Lebensjahr tun wollte: Den Bärenzwinger verlassen und MEINE Richtung einschlagen, anstatt immer nur im Kreis zu gehen.

Ich bin heute zu allererst meinen Kindern dankbar, denn ihr Mut sich aus der Sekte zu entfernen, hat es mir leichter gemacht, es ebenfalls zu tun. Vor allem hoffe ich, dass sie mir verzeihen, dass ich sie mit den selben irrigen Ansichten in diesen Bärenzwinger geführt habe, wie meine Eltern es mit mir getan haben. Meine Kinder haben mir mehr als einmal das Leben gerettet. Der Gedanke an ihren Kummer hat mich davon zurückgehalten, es mir zu nehmen. In meiner jetzigen Freiheit kann auch ich meinen Eltern verzeihen, denn sie haben nach ihrer tiefsten, inneren Überzeugung gehandelt. Der Wachtturmgesellschaft werde ich nicht verzeihen. Wer mit solch kaltschnäuziger Bestimmtheit in das Leben von Menschen eingreift und es durcheinander bringt, ohne dabei Schuldgefühle zu haben, der hat Verzeihung nicht verdient. Vielleicht sollte ich mir selbst noch verzeihen, dass ich nicht früher wach geworden bin, aber das tue ich eines Tages noch.

INFOLINK war für mich beinahe besser als Medikamente. Das Wissen, das auf den Seiten von Netzwerk Sektenausstieg zusammengetragen wurde, ist Gold wert. Ich wäre zum Beispiel nie auf die Idee gekommen, die Sache mit den 144.000 rechnerisch anzugehen - na ja , seltsam fand’ ich es schon und auch sehr überheblich, dass man so einfach behauptet, in 2000 Jahren hätte es nicht mehr „echte“ Christen gegeben – aber rechnen (!) ist nun mal nicht meine Stärke. Herzlichen Dank an alle, die diese Seite am Leben erhalten.

Was mein Verhältnis zu Gott betrifft: vielleicht kann ich eines Tages wirklich ganz beruhigt an seine Liebe glauben und Frieden mit ihm schließen. Ich wünsche es mir.

Der Aberglauben schlimmster ist, . den seinen für den erträglichern zu halten... . Dem allein die blöde Menschheit zu vertrauen, . bis sie hellern Wahrheitstag gewöhne...

Gotthold Ephraim Lessing „Nathan der Weise“